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Hugo Hassinger (1877–1952)

Im Dokument Österreichische Historiker (Seite 124-158)

volkstumsfor scher, r aumpl a ner, k a rtogr a ph und histor ik er1

1. einleitung

Hugo Rudolf Franz Hassinger kam am 8. November 1877 in Wien als Sohn Rudolf Hassingers, der als Revisor bei der österreichisch-ungarischen Bank angestellt war, zur Welt. Sein Großvater Josef übte den Beruf eines Seidenfa-brikanten aus. Von 1888 bis 1896 besuchte Hassinger das Gymnasium in der Amerlinggasse im 6. Wiener Gemein-debezirk. Nach seinem Abitur begann er an der Universität Wien die Fächer Geographie, Geologie und Geschichte zu studieren. Albrecht Penck, Wilhelm Tomaschek, Robert Sieger, Oswald Redlich und Eduard Sueß wurden seine bevorzugten Lehrer. Zunächst galt sein Interesse allerdings fast ausschließlich der Physiogeographie. Hassinger pro-movierte im Jahr 1902 bei Penck mit dem Thema

„Geo-morphologische Studien aus dem inneralpinen Wiener Becken und seinem Randgebirge“.

1903 legte er die Lehramtsprüfung ab und war anschließend in verschiedenen Schulen in Wien und Mährisch-Weißkirchen (Hranice, Tschechische Republik) angestellt. Nebenbei arbeitete er an seiner Habilitation über die Mährische Pforte. Im Februar 1915 wurde Hassinger offiziell vom k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht als Privatdozent am Geographischen Institut der Universität Wien zugelassen. 1918 folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Geographie an die Universität Basel, ehe er 1927 zum Universitätsprofessor in Freiburg im Breisgau ernannt wurde. 1931 kehrte er an das Geographische Institut der Universität Wien zurück und trat die Nachfolge des emeritierten Professors Eugen Oberhummer an. Hassinger dürfte schon Jahre vorher für die Nachfolge Oberhummers im Gespräch gewesen sein. Aus diesem Grund lehnte er die Berufung an die Universität Graz auf den Lehrstuhl des 1926 verstorbenen Sieger ab. Im Verfahren für die

Wiederbe-1 Die beiden hier wiedergegebenen Abb. werden im UAW (Wiederbe-106.I.2500-379 und Wiederbe-106.I.Wiederbe-1903) verwahrt und mit dessen freundlicher Genehmigung abgedruckt.

Abb. 9 Der junge Hugo Hassinger

setzung der Oberhummer-Lehrkanzel setzte er sich gegen Johann Sölch (Innsbruck), Karl Uhlig (Tübingen) und Hans Dörries (Göttingen) durch. In Wien wirkte er bis zu seiner Pensionierung 1949 als Ordinarius und von 1949 bis 1951 als Honorarprofessor für Kul-turgeographie. Hugo Hassinger verstarb am 13. März 1952 in Wien an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er wurde in der Babenbergerstraße von einem Motorradfahrer überrollt, nachdem er von einer Straßenbahn der Linie 58 abgesprungen war. Hassinger hinterließ seine Ehefrau Helene, die er 1906 geehelicht hatte, sowie die beiden Söhne Erich und Herbert, die beide Historiker wurden2.

Hassinger deckte im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein umfassendes For-schungsfeld ab, das von der Physiogeographie über die Geschichte und Kartographie bis hin zur Kulturgeographie reichte. Auch innerhalb der Kulturgeographie waren seine Inte-ressen vielfältig. So setzte es sich ebenso mit der Stadtgeographie und der praxisorientier-ten Raumplanung wie mit völkischen Fachgebiepraxisorientier-ten auseinander. Von 1901 bis zu seinem Tod verfasste Hassinger insgesamt 190 wissenschaftliche Abhandlungen3. Alleine von 1931 bis 1944 hielt er im In- und Ausland nicht weniger als 244 Vorträge4. Zudem war er (Mit-) Herausgeber diverser Zeitschriften, Leiter einiger raumorientierter Forschungsge-meinschaften, und er beteiligte sich auch an unzähligen geographischen, volkskundlichen und raumplanerischen Projekten, die er zum Teil selbst leitete. Wegen dieser Fülle an Publikationen, Vorträgen und sonstigen Tätigkeiten können hier nur die Grundzüge sei-ner wissenschaftlichen Laufbahn kritisch wiedergegeben werden. Es stellt sich allerdings die Frage, wie seine Forschungen in die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit von der Habsburgermonarchie bis zum Nationalsozialismus eingebettet werden können. Integriert ist hierbei auch die Frage, inwiefern Hassinger mit seinen For-schungen der damaligen Politik zuarbeitete.

2 Zu Hassingers Biographie siehe unter anderem : Gustav Götzinger, Hugo Hassinger 1877–1952, in : Mit-teilungen der Geographischen Gesellschaft Wien 96 (1954) 148–176 ; Hans BoBek, Hassinger, Hugo Ru-dolf Franz, in : NDB 8 (Berlin 1969), 49–50 ; Christine Zippel, Hugo Hassinger (1877–1952), in : Wiener Geschichtsblätter 61/1 (2006) 23–59 ; Dies., Hugo Hassinger (1877–1952), in : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, hg. v. Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Matthias Berg (München 2008) 226–230 ; Ingrid Kretschmer, Präsidenten der ÖGG und ihre Vorgängergesellschaften, in : Österreich in der Welt, die Welt in Österreich. Chronik der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 150 Jahre, hg. v. Ingrid Kretschmer, Gerhard Fasching (Wien 2006) 24–66, hier 48–50. Nicht aufgenommen wurde Hassinger in : Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahr-hundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon, bearb. v. Fritz Fellner, Doris A. Corradini (VKGÖ 99, Wien/Köln/Weimar 2006).

3 Eine Auflistung aller Monographien und Artikel befindet sich in : Götzinger, Hassinger (wie Anm. 2) 172–

176.

4 Zippel, Hassinger (wie Anm. 2) 46.

Bis jetzt sind kaum Abhandlungen publiziert worden, in denen die wissenschaftlichen Publikationen und Tätigkeiten Hassingers einer kritischen Analyse unterzogen worden sind. Den Beginn stellt der 1989 veröffentlichte Artikel „Angewandte Wissenschaft im Na-tionalsozialismus“ von Siegfried Mattl und Karl Stuhlpfarrer dar5. Beide Autoren gingen bereits von der These aus, dass Hassinger keine Bedenken in Bezug auf die Zusammenar-beit mit den Nationalsozialisten gehabt hatte. Auch Michael Fahlbusch6 und Frank-Rutger Hausmann7, die während der 1990er Jahre die Rolle Hassingers in der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SODFG) und im Projekt „Lebensraumfragen europäischer Völ-ker“ analysierten, kamen zu einem ähnlichen Befund. So meinte Fahlbusch beispielsweise, dass Hassingers Forschungen bereits „1931 einen eindeutig revisionistischen und damit annexionistischen Impetus signalisierten“8. Unter Österreichs Geographen herrscht heute zwar die Meinung vor, dass das eigene Fachgebiet „in den 20er und 30er Jahren eminent politisch“9 ausgerichtet war, doch müssen manche Schlussfolgerungen noch einer einge-henden Analyse unterzogen werden. War Hassinger tatsächlich „politisch naiv“10 und hat er sein Zuarbeiten an das nationalsozialistische Regime zu wenig bemerkt ?

2. w issensch a ftliche v eröffentlichungen und projek te 1901 bis 1918 : Physiogeographie, Stadtgeographie, Deutschtumsforschung, „Mitteleuropa“

In seinen Anfangsjahren als Wissenschaftler bewegten sich Hassingers Forschungen vor allem auf physiogeographischem Gebiet. Seine erste wissenschaftliche Arbeit stellte ein im „Bericht des Vereins der Geographen“ 1901 publizierter Artikel über eine Exkursion

5 Siegfried Mattl, Karl Stuhlpfarrer, Angewandte Wissenschaft im Nationalsozialismus, in : Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–45, hg. v. dens., Gernot Heiss, Sebastian Meissl, Edith Saurer (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43, Wien 1989) 283–301.

6 Michael FahlBusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik ? Die „Volksdeutschen For-schungsgemeinschaften“ von 1931–1945 (Baden-Baden 1999) 253f.

7 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“

(1940–1945) (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 12, 3. erweiterte Ausgabe Heidelberg 2007).

8 FahlBusch, Wissenschaft (wie Anm. 6) 254.

9 Heinz Fassmann, Geographie in Österreich : universitäre und außeruniversitäre Verankerung, in : Mensch.

Raum. Umwelt. Entwicklungen und Perspektiven der Geographie in Österreich, hg. v. Robert Musil, Chris-tian Staudacher (Wien 2009) 53–61, hier 54. Eine Verbindung zwischen österreichischer Geographie und Politik wurde auch angesprochen in : Robert Musil, Geographie in der modernen Wissensproduktion – eine wissenschaftshistorische Betrachtung, in : Mensch. Raum. Umwelt, hg. v. Dems., Staudacher 101f.

10 Heinz Fassmann, Geographie an der Universität Wien 1938 / 1945 / 1955, in : Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. v. Margarete Grandner, Gernot Heiss, Oliver RathkolB (Quer-schnitte 19, Innsbruck u. a. 2005) 273–289, hier 278, 280, 289.

des Geographischen Institutes nach Ungarn dar. 1905 veröffentlichte er schließlich sein physiogeographisches Hauptwerk über die Morphologie des südlichen Wiener Beckens.

Hassingers Verdienst war es, neue geologisch-morphologische Erkenntnisse vom miozä-nen Rand des Wiener Beckens und der Wiener pleistozämiozä-nen Terrassenlandschaft gewon-nen zu haben. Er erkannte zum Beispiel während seiner Begehungen zwischen Bisamberg und Gloggnitz, dass am Ostabfall der Alpen nicht eine, sondern mehrere übereinander angeordnete Terrassen und daher auch Strand- und Uferlinien aus der mediterranen, sar-matischen und pontischen Epoche vorhanden wären11.

In Mährisch-Weißkirchen blieb er zunächst seinem bevorzugtem Forschungsgebiet treu und untersuchte die Geologie und Morphologie der Mährischen Pforte. Doch ge-rade in dieser Zeit wandelte er sich immer mehr zum Kulturgeographen. Hassinger lernte den Nationalitätenkampf in einem gemischtsprachigen Gebiet zwischen der deutschspra-chigen und der slawischspradeutschspra-chigen Bevölkerung kennen, was ihn für sein ganzes Leben prägte. Von seiner Erziehung her deutschnational eingestellt, begann Hassinger seine For-schungen zum Deutschtum und publizierte 1907 in der Zeitschrift „Der getreue Eckart“

seine erste kulturwissenschaftliche Abhandlung zum Thema „Hemmungen unserer nati-onalen Schutzarbeit“. Aus ihr ist deutlich herauszulesen, dass Hassinger bereits damals die Slawen gegenüber den Deutschen als ein geistig und kulturell nieder stehendes Volk ansah. Er war der Meinung, dass „in den Schulen, in denen die Slawen einen namhaf-ten Bruchteil oder gar die Mehrheit der Schüler bilden, das deutsche Kind in seinem Wissen verkürzt, in seiner Charakterbildung verkümmert wird […]. Ganz abgesehen da-von, daß nun einmal der Slawe ein ganz anderes Gefühlsleben und eine ganz andere Art als der Deutsche besitzt und es fraglich erscheint, ob die slawische Einwirkung auf das deutsche Fühlen und Denken für unsere Kinder vorteilhaft ist“12. Hassinger trat auch in den Folgejahren für die „Pflege deutscher Sitten und Bräuche“ ein und lobpreiste die

„segensreiche Tätigkeit des Deutschen Schulvereines“13. Er untersuchte zum Beispiel die Zukunft des Deutschtums der Iglauer Sprachinsel und stellte sich dabei die Frage, „nach welchen Gesichtspunkten nationale Schutzarbeit überhaupt betrieben werden soll“.14 Um

11 Hugo Hassinger, Geomorphologische Studien aus dem inneralpinen Wiener Becken und seinem Rand-gebirge (Geographische Abh. VIII/3, Leipzig 1905) ; Ders., Zur Frage der alten Flussterrassen in Wien, in : Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft Wien 48 (1905) 196–219.

12 Ders., Hemmungen nationaler Schutzarbeit, in : Der Getreue Eckart. Monatsschrift für die Gesamtinteressen deutscher Schutzarbeit 5 (1907) 1–6, 29–33, hier 3f.

13 Ders., Aus dem Schönhengstgau, in : Der getreue Eckart : Monatsschrift für die Gesamtinteressen deutscher Schutzarbeit 9/3 (1911) 91–93, hier 93.

14 Ders., Der Kampf um die Iglauer Sprachinsel. Versuch eines Arbeitsprogrammes für einen Volksrat und ein Arbeitsvermittlungsamt für Deutsch-Österreich, in : Der getreue Eckart. Monatsschrift für die Gesamtinteres-sen deutscher Schutzarbeit 9/2 (1911) 42–49, hier 42.

das Deutschtum zu festigen, empfahl er unter anderem die „Verdichtung und Ausbreitung der deutschen Bevölkerung“15.

Den Aufenthalt in Mährisch-Weißkirchen nutze Hassinger aber auch für Forschungen zu seiner Habilitationsschrift „Die Mährische Pforte und ihre benachbarten Landschaf-ten“. Es war Hassingers letzte Abhandlung, in der die Morphologie noch einen breiten Raum einnahm. Er setzte sich vor allem mit den Strandformen, den Rumpfflächen und der Talgestaltung im Bereich der Hauptwasserscheide zwischen March- und Oderregion auseinander. Zudem analysierte er das Gebiet auch kulturgeographisch und historisch, in-dem er die Verkehrsfunktion der Mährischen Pforte vom Neolithikum bis zur Gegenwart samt ihrer wirtschaftlichen und völkischen Implikationen betrachtete. Im Zuge dieser Forschungen fertigte er auch eine Geschichtskarte (1 : 75.000) an, welche die steinzeitliche Besiedlung in der Umgebung der mährischen Pforte zum Thema hat. Hassinger visuali-sierte die paläolithischen und neolithischen Wohnstätten sowie Orte mit neolithischen Einzelfunden, neolithischen Grabfunden, wichtigen bronzezeitlichen Depotfunden und römischen Münzfunde. Allerdings zeigt er auch physiogeographische Gegebenheiten, in-dem er mittels unterschiedlicher Schraffen Gebiete mit Löß- und Gebiete mit Lehmbe-deckung unterscheidet16.

Wieder nach Wien zurückgekehrt, widmete sich Hassinger zunächst vor allem der Wie-ner Stadtgeographie. Seine Forschungen dazu stellten die ersten von ihm durchgeführten fächerübergreifenden Studien dar, bei denen er die Kulturgeographie, die Stadtplanung, die Kunstgeschichte und die Geschichtswissenschaft miteinander verband. Hassinger ent-wickelte dabei einen in den österreichischen Kulturwissenschaften neuen methodischen Ansatz, in dem er für ein geschichtliches Thema Kartierungen im Gelände durchführte.

Die Idee dazu kam ihm durch die sich zu dieser Zeit langsam etablierende Denkmal- und Heimatschutzbewegung. Diese richtete sich gegen die bauliche Veränderung des alten Wiener Stadtbildes. Das oberste Ziel seiner Forschungen bestand darin, für die städtische Verkehrs- und Wohnungspolitik eine Quelle (ein „Instrument der Baupolitik“17) zu schaf-fen, mit der eine effiziente Stadtplanung mit Erhalt der alten Bauwerke praktiziert werden konnte. Daher begann Hassinger im Jahr 1910 alle Gebäude Wiens nach Stilepochen zu

15 Ders., Sprachinsel (wie Anm. 14) 85.

16 Ders., Die mährische Pforte und ihre benachbarten Landschaften (Abh. der k. k. Geographischen Gesell-schaft Wien XI/2, Wien 1914) 191.

17 UAW, NL Hassinger, Kt. 27, „Raumforschung und Raumordnung in Österreich“. Siehe dazu auch Petra Svatek, Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Kontinuitäten und Wandlungen einer multidisziplinären und politisch orientierten Forschungsrichtung, in : Universität – Forschung – Lehre. The-men und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert, hg. v. Katharina Kniefacz, Elisabeth Nemeth, Herbert Posch, Friedrich Stadler (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 1, Göttingen 2015) 241–259, hier 243.

gliedern und Karten herzustellen. Die Datenaufnahmen im Gelände führte er bis 1912 durch. Dabei kartierte er alle Bauten, die vom Mittelalter bis in die 1840er Jahre erbaut wurden18. Zusätzlich forschte Hassinger aber auch in Wiener Archiven und versuchte, das Alter aller Häuser einwandfrei festzustellen19. Er publizierte einige Einzelkarten sowie 1916 den „Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ (19 Pläne, 304 Seiten Text). Damit konnte er „bauliches Kunstgut aller Wiener Bezirke kar-tographisch darstellen und eine historisch-geographische Analyse des Wiener Stadtbildes und ein Verzeichnis aller erhaltenswerten Kunst- und Naturdenkmale der Stadt“ bieten20. Hassinger gelang in den Karten „durch verschiedene Farbtöne der Gebäudegrundrisse erstmals auch das künstlerische Bild ihres Aufrisses zur Geltung zu bringen“21.

Das zweite zentrale Forschungsthema Hassingers während der 1910er Jahre bestand in der räumliche Positionierung „Mitteleuropas“. Er unterteilte Europa nach physiogeogra-phischen Gesichtspunkten in Atlantisch- oder Westeuropa, Süd- oder Mittelmeereuropa, Mitteleuropa, Baltischeuropa und Kontinental- oder Osteuropa. Zudem gliederte Has-singer „Mitteleuropa“ in ein „bestehendes“ und ein „werdendes, heranreifendes“ Mit-teleuropa. Zu Letztgenanntem zählte er die Staaten Serbien, Rumänien und Bulgarien, welche die „Richtung des geringsten politischen Widerstandes“ bedeuten würden22. Trotz der naturräumlichen Abgrenzung war Hassingers Mitteleuropakonstrukt machtpolitisch ausgerichtet. Die beiden Grazer Geographen Peter Čede und Dieter Fleck machten bereits 1996 darauf aufmerksam, dass Hassingers „Mitteleuropa“ „eine, dem Imperialismus der europäischen Großmächte verhaftete und auch den realpolitischen Verhältnissen im Ers-ten Weltkrieg durchaus nahe kommende Ideologie zugrunde lag, die in diesem werdenden Mitteleuropa eine Art Kolonie“ für Rohstofflieferungen sah23. Diese Meinung herrschte auch während des Nationalsozialismus vor, indem Südosteuropa als „Ergänzungsraum“

für die Wirtschaft des Deutschen Reiches betrachtet wurde. Auch Hassinger hat ab 1938 zu dieser Thematik vor allem im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Wiener Hochschulen und der Südosteuropagesellschaft einiges beigetragen.

18 Hugo Hassinger, Wiener Heimatschutz- und Verkehrsfragen (Wien 1912) 7, 35.

19 Ders., Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Verzeichnis der erhaltens-werten historischen Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes. Österreichische Kunsttopographie XV (Wien 1916) 8.

20 Ders., Um die Erhaltung und Neugestaltung des Wiener Stadtbildes. In : Reichspost 19, 20. Jänner 1938, 7.

21 Ders., Begleitwort zum „Kunsthistorischen Plan des I. Bezirkes der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 1 :10.000 (Wien 1912) 1.

22 Ders., Das geographische Wesen Mitteleuropas, in : Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 60 (1917) 437–493, hier 485.

23 Peter Čede, Dieter Fleck, Der Mitteleuropabegriff. Entwicklung und Wandel unter dem Einfluss zeitspezi-fischer Geisteshaltung, in : Arbeiten aus dem Institut für Geographie der Karl-Franzens-Universität Graz 34 (1996) 15–26, hier 20.

1918–1931 : Deutschtum, Schweiz, Tschechoslowakei, Geographie und Geschichte

Hassinger war als Deutschnationaler vom Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Aufteilung der deutschsprachigen Bevölkerung auf viele Staaten erschüttert.

In dieser Zeit setzte er sich in mehreren Abhandlungen für eine Produktion von Volks-tumskarten ein. Die Visualisierung unterschiedlicher Völker und Sprachen war ein The-mengebiet, dem sich die Wiener Kartenverlage Freytag & Berndt und Artaria sowie das Staatsamt für Äußeres 1918 und 1919 im Zuge der Pariser Friedensverhandlungen zu-wandten. Diese Karten hatten vor allem zum Ziel, die Bevölkerung auf die Zersplitterung des Deutschtums und die ethnische Zusammensetzung der neu entstandenen Staaten in Südosteuropa aufmerksam zu machen. Hassinger meinte, dass es die „Pflicht eines jeden Gebildeten sei, sich die genaue Kenntnis der räumlichen Verteilung der Völker anzueignen, um den großen politischen Entscheidungen nicht kritik- und verständnis-los gegenüberzustehen“24. Auch in seinem Artikel „Bemerkungen über die Südostgrenze des deutschen Siedlungsgebietes“ plädierte er für eine „genaue Kenntnis der Grenzen des deutschen Siedlungsgebietes“25 und tadelte manche Volkstumskarten, welche „die Ver-hältnisse in Südosteuropa nicht immer exakt zur Darstellung“26 bringen.

1918 verließ Hassinger Österreich, um in Basel als Universitätsprofessor für Geographie zu arbeiten. In seiner Basler Zeit verfasste er vor allem physio- und kulturgeographische Studien über die Schweiz zu den Themen Stadtgeographie, Gletscherkunde, Schulwand-karten, Kartographiegeschichte und Anthropogeographie27. Als neuen Forschungsraum erschloss er den neu gegründeten Staat Tschechoslowakei. Als Resultat dieser Studien ent-stand eine Monographie28 und mehrere Artikel29, in denen er die geographischen und politischen Gegebenheiten unter anderem auch in historischer Perspektive wiedergeben

24 Hugo Hassinger, G. Freytags Völkerkarte von Europa, in : Kartographische und schulgeographische Zs. VIII (1919) 32.

25 Ders., Bemerkungen über die Südostgrenze des deutschen Siedlungsgebietes, in : Geographische Zs. 25 (1919) 215–219, hier 215.

26 Ders., Südostgrenze (wie Anm. 25) 215.

27 Einige Beispiele : Hugo Hassinger, Neue Gletscherspuren im Basler Jura und dem Rheintal, in : Zs. für Gletscherkunde 11 (1920) 184–188 ; Ders., Schulwandkarte beider Basel 1 :25.000 (Basel 1922) ; Ders., Neuere Arbeiten zur Anthropogeographie der Schweiz, in : Zs. für Erdkunde Berlin (1924) 97–129 ; Ders., Bemerkungen zum Schweizer Mittelschulatlas, in : Schweizer Geograph 2 (1925) 75–77 ; Ders., Alte Karten aus der Bibliothek Vadians, in : Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft 69 (1926) 224– 234 ; Ders., Basel. Ein geographisches Städtebild, in : Beiträge zur oberrheinischen Landeskunde (1927) 103–130.

28 Ders., Die Tschechoslowakei. Ein geographisches, politisches und wirtschaftliches Handbuch (Wien 1925).

29 Ders., Bemerkungen zur tschechoslowakischen Nationalitäten- und Schulstatistik, in : Deutsche Arbeit (1926), 241–249 ; Ders., Die Entwicklung des tschechischen Nationalbewusstseins und die Gründung des heutigen Staates der Tschechoslowakei, in : Vergangenheit und Gegenwart 6 (1927) 50–82.

wollte. Gustav Götzinger wies bereits 1954 darauf hin, dass Hassinger dadurch „mit seiner Erschütterung über den Zusammenbruch der Monarchie fertig zu werden versuchte“30. Tatsächlich kann von dieser Annahme ausgegangen werden. Hassinger wollte eine Staa-tenkunde aufbauen und ihre tiefgreifenden Wurzeln eruieren sowie einen jungen Staat einer länderkundlichen Analyse unterziehen. Ungefähr ein Drittel der Monographie setzt sich mit der Lage, der Landschaft und der Bevölkerung samt ihrer Volkskultur ausein-ander. Dabei definierte er unter anderem „Mitteleuropa“ neu, indem er zwischen einem

„deutschen Mitteleuropa und einem nur mehr teilweise deutschen Donau-Mitteleuropa“

differenzierte, die beide „untereinander eng verflochten“ wären31. Ab Seite 181 analysierte Hassinger die Geschichte der Tschechoslowakei von der Prähistorie bis zur damaligen Zeitgeschichte, ehe er sich ab Seite 336 der Verfassung und Verwaltung, der Wirtschafts- und Außenpolitik, der Situation der Minderheiten und nationalpolitischen Fragen zu-wandte. Verfechter der Tschechoslowakei waren von Hassingers Forschungen wenig be-geistert gewesen, und 1936 wurde seine Monographie sogar auf den tschechoslowakischen Index gesetzt32. Als Gründe können wohl seine Ausführungen zu den Minderheiten, dem Grenzlanddeutschtum und der Tschechisierung genannt werden.

Während der 1920er Jahre begann sich Hassinger vermehrt mit den Beziehungen der Geographie zu anderen Wissenschaften auseinanderzusetzen. Bereits in seiner Basler An-trittsvorlesung 1919 versuchte er die Grenzen der geographischen Wissenschaftsdisziplin gegenüber anderen Natur- und Geisteswissenschaften aufzuzeigen und die herausragende Brückenfunktion der Geographie zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen hervorzuheben33. Während der 1920er Jahre wandte er sich immer mehr der Verbindung zwischen Geographie und Geschichte zu. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung behan-delte Hassinger die „Beziehungen zwischen der Geographie und den Kulturwissenschaf-ten“, wobei er auf die gemeinsamen Wurzeln der Geographie und Geschichte bei den alten Griechen und das historische Element der Geographie hinwies34. „Die Raumgebun-denheit der historischen Vorgänge, die ZeitgebunRaumgebun-denheit der Kulturlandschaftsformen,

30 Götzinger, Hassinger (wie Anm. 2) 154.

31 Hassinger, Tschechoslowakei (wie Anm. 28) 32.

32 Robert Luft, Deutsche und Tschechen in den Böhmischen Ländern. Traditionen und Wandlungen eines Teil-gebiets der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, in : Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse, hg. v. Christiane Brenner, K. Erik Franzen, Peter Haslinger, Robert Luft (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28, München 2006) 367–431, hier 373.

33 Hugo Hassinger, Über einige Aufgaben geographischer Forschung und Lehre, in : Kartographische und schulgeographische Zs. 8 (1919) 65–76.

34 Ders., Über Beziehungen zwischen der Geographie und den Kulturwissenschaften (Freiburger Universitäts-reden 3, Freiburg 1930), 3, 11.

das sind die Geographie und Geschichte unlösbar aneinander fesselnde Bände“35, so Has-singer. Als Beispiele nannte er die geschichtliche Entwicklung der heutigen Kulturland-schaften. Würden diese Forschungen unabhängig zur heutigen Landschaftsbild erfolgen,

„so gehört das in eine historische Geographie, die als selbständige Disziplin zwischen Geographie und Geschichte steht“36. Gesteigertes Interesse würden auch die historische Klimaforschung, die Geschichte der Geographie und die historisch-politische Geographie erfahren. Der Historiker wiederum „braucht die Geographie zur Erhellung des histori-schen Schauplatzes“37. „So dürfen wohl Geographie und Geschichte in enger Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft ruhig in eine Zeit hineinschreiten, die eine Überwertung der

„so gehört das in eine historische Geographie, die als selbständige Disziplin zwischen Geographie und Geschichte steht“36. Gesteigertes Interesse würden auch die historische Klimaforschung, die Geschichte der Geographie und die historisch-politische Geographie erfahren. Der Historiker wiederum „braucht die Geographie zur Erhellung des histori-schen Schauplatzes“37. „So dürfen wohl Geographie und Geschichte in enger Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft ruhig in eine Zeit hineinschreiten, die eine Überwertung der

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