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3. Besprechung relevanter Analysen zu den Variationen

3.5 Formbasiert-pragmatischer Ansatz

3.5.2 Hentschel (1993a)

Der Titel des Beitrags “Haben Kasus Bedeutungen oder sind sie eine diakritische Kategorie” deutet schon klar an, was Hentschel (1993a) in ihm vorschlägt, dass nämlich die Variation von Nominativ und Instrumental (und zwar bei prädika-tiven Substanprädika-tiven sowie Adjekprädika-tiven) “zu einem großen Teil [diakritisch motiviert ist], und [dass] die Art, wie sich das diakritische Prinzip in der Kasuswahl nieder-schlägt, bestätigt, daß die primäre Funktion von Kasusmarkierungen eine mög-lichst transparente Signalisation der syntaktischen Struktur, die Differenzierung von Prädikat und Argumenten im Satz ist.” (Hentschel 1993a, 110).

Hentschel schließt sich in diesem Sinne der Ansicht von z. B. Potebnja (1958) und Kacneľson (1972) an, die Nominativ und Instrumental in prädikativer Position als isofunktional betrachten, wodurch aber – was auch für meine in Abschnitt 6 dar-gestellte Theorie bedeutsam ist – “nicht ausgeschlossen wird, daß der Kasus-gegensatz punktuell für stilistische oder perspektivische (wichtig/unwichtig) Nuancierung ausgenutzt werden k a n n .” (Hentschel 1993a, 109-110)

Zu Beginn seines Aufsatzes erwähnt Hentschel (1993a, 101), dass Isačenko (1983, 491 ff.) gegen die Sichtweise polemisiert, der ‘prädikative’ Instrumental habe sich im Altrussischen auf Grund seiner größeren syntaktischen Transparenz gegenüber dem Kongruenzkasus (dem ‘doppelten’ Nominativ) durchgesetzt.

Isačenko “verweist zum einen darauf, daß in vielen Fällen auch bei doppelter Ka-susverwendung überhaupt keine Gefahr der Ambiguität gegeben ist, und zum anderen darauf, daß viele Sprachen bei einer homonymen Markierung von Subjekt und substantivischem Prädikat bleiben, so z. B. weitgehend das Serbo-kroatische.” (Hentschel 1993a, 101)

Zweifelsohne muss man Isačenko (1983) in seiner Polemik Recht geben, jedoch nur in Hinsicht auf Annahmen, die die Kasuswahl am Prädikatsnomen aus-schließlich bzw. einseitig mit dem Bestreben nach syntaktischer Transparenz er-klären wollen. Hentschels (1993a) Theorie ist jedoch nicht derart einseitig, wobei auch an seine zuletzt besprochene Arbeit (Hentschel 1991) zu erinnern ist, in der er explizit schreibt, dass der Instrumental lediglich ein redundantes Signal für den (syntaktischen) Prädikatsstatus – und damit eben auch ggf. verzichtbar – sei. Er ist dies, da es sich um “ein Element der Ausdrucksebene natürlicher Sprachen [han-delt], welches zusammen mit mindestens einem anderen ein und dasselbe inhalt-liche bzw. grammatisch-inhaltinhalt-liche Moment repräsentiert” (Hentschel 1991, 221).

Noch anders formuliert: “Der Instrumental ist […] das deutlichere Signal für das Pr[ädikats]N[omen] im Vergleich zum Nominativ” (Hentschel 1991, 230) bzw.

“[…] the agreeing Case [der Nominativ] represents the unmarked form with the Instrumental showing up when additional conditions obtain” (Hinterhölzl 2001, 105), wobei die zuletzt genannten Zusatzbedingungen namentlich eine explizite Kennzeichnung des prädikativen Status des Ausdrucks erforderlich machen.

Isačenkos (1983) Polemik kann also insofern etwas ‘Wind aus den Segeln ge-nommen’ werden, als die Etablierung des ‘prädikativen’ Instrumentals keines-wegs eine quasi ‘unvermeidliche’ Entwicklung darstellte, sondern Folge einer all-gemeinen Tendenz zur Ikonizität (vgl. Hentschel 1991, 229) erklärt werden kann, die nicht unbedingt Eineindeutigkeit impliziert, sondern durchaus auch in redun-danter Weise bestimmte ‘Momente’ verdeutlichen bzw. hervorheben kann. Dabei ist durchaus möglich, dass die betreffenden ‘Momente’ in früheren Sprachzu-ständen der betrachteten Sprache oder in anderen Sprachen keinerlei besondere Hervorhebung erfahren.

Zu den für meine eigene Arbeit überaus relevanten Einsichten Hentschels (1993a) gehört u. a. sein Blick auf die russischen Kurz- und Langformen:

Da die Kurzform im modernen Russischen nicht mehr in attributiver Funktion ver-wendet wird, muß sie als die vom diakritischen Standpunkt vorteilhafte Variante

angesehen werden. Die Langformen sind hingegen auch mögliche attributive Formen und somit aufgrund ihrer formalen Eigenschaften allein keine eindeutigen Signale für den prädikativen Status eines Adjektivs. Die geringste diakritische Potenz hat die Langform im Nominativ, die als solche auch Attribut des Subjekts sein kann. (Hentschel 1993a, 102)

Hier finden sich einige meiner eigenen Schlussfolgerungen so gut wie exakt wieder, namentlich, dass die Kurzformen explizit prädikative Formen sind (m. E.

sind sie dies auch, weil es sich um Verbalnomina handelt; siehe die Abschnitte 4.3 und 4.4.3), dass die Langformen im Instrumental den Kurzformen in Bezug auf

‘Prädikativität’ annähernd vergleichbar sind (und erstere daher auch seit Langem und immer mehr verdrängen;82 siehe auch Corbett 2004, 208) und dass nomina-tivische Langformen – im Russichen immer und im Polnischen mindestens potenziell – “Prädikatsphrasen” und keine echten Sekundärprädikate sind (siehe Abschnitt 5.4).

Bemerkenswert (einfach) ist auch die Ansicht, die Hentschel in Bezug auf den Gegensatz zwischen identifizierenden und prädizierenden (bei ihm: qualifizieren-den/klassifizierenden) Kopulasätzen sowie der Kasusmarkierung am Prädikats-nomen in ihnen äußert. Auch hier zeigt sich deutlich seine Ablehnung einer zu-grunde liegenden semantischen Distinktion “permanent vs. temporär”:

Es ist eine vielfach gemachte Beobachtung, daß in Identifikationssätzen […] der prädikative Instrumental im Slavischen wesentlich weniger verbreitet ist als in Qualifikations- bzw. Klassifikationssätzen (vgl. Rothstein 1986). In typischen Identifikationssätzen mit zwei Indexausdrücken (Personalpronomen oder Eigen-namen) ist das sicher der Fall (vgl. Weiss 1978). Dieses hat aber absolut nichts mit dem semantischen Gegensatz konstant vs. temporär zu tun, wie Jakobson [1971a]

und Wierzbicka [1980] postulieren, sondern damit, daß eine Differenzierung der beiden Nominalphrasen in Identifikationssätzen kommunikativ nicht relevant ist:

Während bei ‚A ist identisch mit B’ auch ‚B ist identisch mit A’ wahr ist, impliziert ‚A ist ein Element der Klasse B’ natürlich nicht ‚B ist ein Element der Klasse A’. (Hentschel 1993a, 106)

82 Ich verwende die Einschränkung “annähernd”, da die instrumentalische Langform Hentschel zufolge restringierter als die Kurzform ist (was m. E. aber nur die geschriebene Standard-sprache volle Gültigkeit hat); vgl.: “Die Langform im Instrumental zeigt […] nur in solchen Sätzen eine nennenswerte Verbreitung, die folgende Bedingungen erfüllen: Erstens, neben dem Adjektiv als Prädikat müssen auch das Subjekt […] und die Kopula an der syntaktischen Ober-fläche realisiert sein. […] Zweitens muß das Subjekt vor der Kopula mit folgendem adjekti-vischen Prädikat stehen […]. Die Kurzform ist dagegen in allen Kontexten des Kopulasatzes ein eindeutiges Signal für den prädikativen Status des Adjektivs […]” (Hentschel 1993a, 104).

Diese Annahme Hentschels ist natürlich nicht nur im Rahmen der vorliegenden Arbeit diskussionswürdig. Gerade auch im Hinblick auf die Klassifikation von

‘sein’-Sätzen etwa von Geist (2006) oder Bondaruk (2013b) kann man spekulie-ren, auf welcher Ebene des Sprachsystems der postulierte Gegensatz von Identi-täts-, spezifizierenden, klassifizierenden, … und/oder prädizierenden (Kopula-) Sätzen seine Basis haben soll oder kann. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist Hentschels (1993a) insofern von Bedeutung, als sie klar die “formbasierte” Rich-tung vorzeichnet und diese sogar über “Kopulasätze” im engeren Sinne hinaus auf die Identitätssätze anwendet.

Hentschel (1993a) weist noch auf viele weitere Faktoren hin, die die Kasuswahl am Prädikatsnomen beeinflussen (können) und die allesamt insofern “form-basiert” sind, als sie mit dem syntaktischen Umfeld zu tun haben, in den das Prä-dikatsnomen eingebettet ist. So stellt er u. a. folgende Punkte als relevant fest:

Ist der Subjektausdruck ein Subjektpronomen, tritt laut Hentschels Untersuchung der Nominativ am Prädikatsnomen in ca. 45% der Fälle auf, fehlt das Subjektpronomen an der Oberfläche, sinkt dessen Anteil auf 13%. Hier merkt Hentschel an, dass ein bloßer Nominativ (ohne Subjekt) zu einer ‘Fehldekodierung’ des Satzes als Existenz-satz führen kann (vgl. Hentschel 1993a, 103).

Letzterer Befund wiederholt sich auch bei den Adjektiven, da im Falle eines “Nullpro-nomens” in Subjektposition der Anteil der (explizit prädikativen und nominati-vischen) Kurzform vom 59% auf 83% steige (Hentschel 1993a, 104).

Im Falle zweier voller Nominalphrasen in einem Kopulasatz liegt der Anteil des Instrumentals am Prädikatsnomen bei 80%, was daran liege, dass hier die syntak-tischen Funktionen nicht ohne Weiteres bzw. per se dekodierbar seien. Hentschel (1993a, 106) folgert, dass bei kategorialer Identität der beiden Satzglieder die Wahr-scheinlichkeit (bzw. kommunikative Notwendigkeit) ihrer Differenzierung durch den Kasus steigt.

Die Langform im Nominativ wird gemieden, wenn in demselben Satz eine andere adjektivische Wortform mit der gleichen flexionsmorphologischen Markierung als Bestandteil des Subjektausdrucks vorhanden ist (vgl. Hentschel 1993a, 107).

Schon in Hentschel (1992) hat der Autor gezeigt, dass die Abfolge der Konstituenten im Kopulasatz ebenfalls Einfluss auf die Wahl der Markierung am Prädikatsnomen hat: Sofern eine von der ‘üblichen’ Abfolge Subjekt – Kopula – Prädikatsnomen

ab-weichende Sequenz vorliegt (so z. B. Prädikatsnomen – Subjekt – Kopula), ist die Häufigkeit der syntaktisch transparenteren Prädikatsmarker (Instrumental bzw. Kurz-form) deutlich höher (vgl. Hentschel 1993a, 107-108).

Der Instrumental am Prädikatsnomen im Falle präsentischer russischer Kopulasätze (mit der “Nullkopula”) ist keine strikt grammatisch, sondern eher eine kommunikativ determinierte Erscheinung, die der Vermeidung von Ambiguität dient, denn “[z]wei unmittelbar aneinander grenzende Nominalphrasen, eine im Nominativ und eine im Instrumental, ohne ein verbales Element in ihrem Kontext, bergen die Gefahr, als elliptischer Satz mißverstanden zu werden, besonders natürlich in der gesprochenen Sprache. […].” (Hentschel 1993a, 108). Wie in Abschnitt 5.5.1 gezeigt wird, geht es hier nicht ausschließlich um die Abwesenheit eines verbalen Elements. Zentral scheint die Abwesenheit jedweden Materials neben den beiden NPn. Der Folgerung Hentschels, dass es die hohe Wahrscheinlichkeit einer ‘Fehldekodierung’ als Ellipse eines Vollverb wie z. B. ‘arbeiten (als)’, ‘dienen (als)’ usw. ist, die den Instrumental im Russischen ausschließt, schließe ich mich an.

Die Arbeit von Hentschel (1993a) ist für die vorliegende Analyse enorm wertvoll, weist sie ihr doch den grundsätzlichen Weg. Durch eine “formbasierte” Analyse, die keine semantische (invariante) Distinktion annimmt, kann den beobachtbaren Verhältnissen und Lesarten im Russischen ebenso wie im Polnischen Rechnung getragen werden, ohne bestimmte Wortformen bzw. Suffixe (etwa das Instrumen-talsuffix) mit einer ‘gefährlich’ spezifischen Semantik zu ‘belasten’ und am Ende genötigt zu sein, eine ‘Neutralisierung’ anzunehmen, wenn diese Semantik von den sprachlichen Daten – trotz der Form, die sie beinhalten soll – nicht bestätigt wird (vgl. so u. a. bei Geist 2006). Es ist eine Tatsache, dass die Formen des Prä-dikatsnomens im Polnischen und Russischen nicht immer eine bestimmte Lesart evozieren. Wie schon oft angesprochen, ist letzteres gerade dann der Fall, wenn nur eine einzige Form – bedingt durch die syntaktischen Verhältnisse – möglich ist. In diesem Fall kann das Fehlen irgendwelcher ‘interpretativer Effekte’ einfach dadurch erklärt werden, dass eine Opposition der einzig möglichen Form zu ande-ren Formen überhaupt nicht in Frage kommt. Man kann, mit andeande-ren Worten, nicht wählen, und wo man nicht wählen kann, muss das zwangsläufig Vorhandene dasselbe leisten bzw. abdecken, was unter anderen Umständen ggf. von mehreren Form-Kandidaten zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese Analyse hat den Vorteil, die Flexibilität der nordslavischen Kasusvariation in Kopulasätzen getreu

abzubilden, indem sie non-deterministisch und somit ebenso flexibel wie ihr Untersuchungsgegenstand selbst ist.