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3. Besprechung relevanter Analysen zu den Variationen

3.3 Syntaktischer Ansatz

3.3.3 Bailyn (2012)

Eine rezente und in den Kontext einer größeren Syntaxtheorie eingebettete Ana-lyse der russischen Kasusvariation formuliert Bailyn (2012).56

Ausgangspunkt ist Bailyns (2012, 194-195) Argumentation gegen Ansätze, die für Sätze mit Kasusvariation jeweils die gleiche syntaktische Struktur postulieren. Für ihn, der einen explizit syntaktischen Ansatz verfolgt (vgl. Bailyn 2012, 196-199), sind lediglich Sätze mit dem Nominativ (dem Kongruenzkasus) Fälle primärer Prädikation. Es handele sich dabei um “[…] non-verbal sentences, with a primary predicator (the verb to be) whose present tense form happens to be (morphologi-cally) null” (Bailyn 2012, 194). Dagegen seien “[a]pparent primary predicates marked with Instrumental […] in fact secondary predicates” (Bailyn 2012, 195).

Solche Sätze haben laut Bailyn die gleiche Syntax wie Sätze mit ‘offensicht-lichen’ Sekundärprädikaten, wie z. B. durakom ‘(als) Narr’ in Beispiel (19):

(19) Saša kažetsja durakom. (Bailyn 2012, 183)

Sascha-NOM scheint-3SG-REFL Narr-INS

‘Sascha scheint ein Narr (zu sein).’/‘Sascha erscheint als Narr.’

55 Hier zeigt sich eine Parallele zu dem Vorschlag von Geist (1999), die ebenfalls ein funktio-nales byť1 (+ Nominativ) und ein lexikalisches byť2 (+ Instrumental) annimmt.

56 Die Annahmen in dieser Arbeit entsprechen vielfach jenen in Bailyn (2001).

Mit Bowers (1993, 1997) geht Bailyn von der Kategorie “Pred” aus, die in allen Fällen von Prädikation vorliege. Alle T-Köpfe, so Bailyn weiter, selegieren somit eine PredP (= primäre Prädikation), wozu andererseits aber nur bestimmte V-Köpfe in der Lage seien (= sekundäre Prädikation). PredP könne ferner auch ein Adjunkt sein (ebenfalls = sekundäre Prädikation).

Kernthese Bailyns ist, dass der Instrumental unmittelbar durch Pred0 zugewiesen werde. Der Pred-Kopf muss dazu aber “leer”, d. h. frei von Informationen sein, die an den Schnittstellen interpretierbar sind. Ist Pred0 dagegen “gefüllt”, dann

‘absorbiere’ es das Instrumentalmerkmal, woraus folge, dass weder der Instru-mental noch ein anderer Kasus zugewiesen werden kann (Bailyn 2012, 194). Das heißt, dass beim Instrumental “leeres” Pred0 involviert sein muss, was Bailyns Annahmen zufolge nur bei sekundärer Prädikation der Fall ist. Bei primärer Prädi-kation sei Pred0 hingegen immer “gefüllt”, was den Instrumental ausschließe, so dass nur der Kongruenzkasus (Nominativ) in Frage kommt.

Ich habe erwähnt, dass Bailyn Kopulasätze mit dem Instrumental strukturell mit Sätzen wie (19) vergleicht. Letztere basieren ihm zufolge auf Verben, die lexika-lisch ein Small Clause-(SC)-Komplement regieren (Bailyn 2012, 183-184). Dazu gehören u. a. kazaťsja ‘scheinen’ und sčitať ‘halten (für)’. Für den kažetsja-Satz in (19) nenne ich in (20) die Repräsentation, die Bailyn selbst ansetzt:

(20) TP (Bailyn 2012, 183)

Demnach weist kažetsja seinem SC-Komplement den Akkusativ zu. Ferner hebt es das Subjekt des SC an (Raising). Kažetsja besetzt letztlich die obere PredP (= vP), während das untere Pred0 (Kopf des SC) “leer” ist und so den Instrumental zuweisen kann. Daher erscheint das Prädikatsnomen durakom im Instrumental und könne als sekundäres Prädikat gelten. Die Analyse erfasst, warum in solchen Konfigurationen nur der Instrumental, nicht aber der Kongruenzkasus erscheinen kann. Letzteres wird durch Bailyns Analyse für den sčitať-Satz in (21) noch deut-licher, die ich daher in (22) ebenfalls zitiere:57

(21) Ja sčitaju ego durakom. (vgl. Bailyn 2012, 183)

ich-NOM halte für-1SG ihn-ACC Narr-INS

‘Ich halte ihn für einen Narren.’

(22) TP (vgl. Bailyn 2012, 184)

3 NP-NOM

g 3

Jai T0 PredP1 (= vP)

3 Spec Pred´

g 3 ti Pred0 VP

g 3 small-clause

sčitajuj Spec V´ argument

3

V Pred2

g 3

ACC tj Spec Pred´

g 3

ego Pred0 → NP-INSTR

 g durakom

Dem zufolge ist sčitať – analog zu seiner englischen Entsprechung consider – ein ECM-Verb (vgl. Bailyn 2012, 182, Fn. 14). Anders als kazaťsja, das seinem exter-nen Argument keine Thetarolle zuweist und so das Subjekt des SC anhebt und

57 Bailyns (2012, 184) Struktur zeigt durakom (offenbar ein Kopierfehler) als AP, die mit ego aus dem SC koindiziert ist. In (22) ist dies ‘korrigiert’.

zum Satzsubjekt ‘befördert’, vergibt sčitať diese Thetarolle, weshalb das SC-Sub-jekt in situ bleibt. Dort erhält es jedoch von Pred0 keinen Kasus. Da sčitaju aber dem SC als Ganzem den Akkusativ zuweist, kann das SC-Subjekt ‘ausnahms-weise’ von dieser Kasuszuweisung profitieren und so via ECM in der Akkusativ-form ego erscheinen.58

Dass Pred0 als Kopf des SC nur den Instrumental vergeben kann, erklärt sich in beiden o. g. Strukturen aus seiner “Leere”. Letztere schließt laut Bailyn gleichzei-tig den Kongruenzkasus aus, weshalb etwa der Satz in (23) ungrammatisch sei:

(23) * Ja sčitaju ego duraka. (vgl. Bailyn 2012, 178)

ich-NOM halte für-1SG ihn-ACC Narr-ACC

Die Argumentation lautet, dass – würde “leeres” Pred0 neben dem Instrumental auch den Kongruenzkasus zulassen – dieser Satz grammatisch sein sollte. So ge-lingt es Bailyn (2012) in der Tat, die Daten zu erfassen und – mindestens für die genannten Fälle – ein konsistentes Bild zu zeichnen.

Es gibt jedoch besonders einen Punkt an jenem Teil seiner Analyse, der sich auf Fälle bezieht, die man üblicherweise als primäre Prädikation betrachtet, die der Autor aber explizit als Fälle sekundärer Prädikation bezeichnet. Es sind dies Kopulasätze mit instrumentalischen Prädikatsnomina. Zur Annäherung an das Problem sei zunächst Bailyns Analyse für solche Sätze genannt, die er als primäre Prädikation betrachtet, namentlich Kopulasätze mit nominativischem (kongruie-rendem) Prädikatsnomen:

(24) a. Boris byl muzykant. (Bailyn 2012, 194)

Boris-NOM was musician-NOM

‘Boris was a musician (in his very nature).’

58 M. E. ist für das Russische kein ECM nötig. Die fraglichen Verben müssen nicht als Selegierer von SC-Komplementen betrachtet werden. Der semantische “Gehalt” letzterer kann stattdessen als Teil der grammatischen Bedeutung dieser Verblexeme gelten. Der Instrumental kann also als Realisierungsform ‘prädikativer’ Argumente betrachtet werden. Sog. “halbkopulative” Ver-ben wie javljaťsja ‘scheinen’, stať ‘werden’, ostaťsja ‘bleiben’ usw. ähneln ersteren, da der Instrumental auch an ihren Komplementen obligatorisch ist. Dagegen ist er im Falle der Kopu-la(bedeutung) lediglich optional (siehe Abschnitt 5.5).

b. Boris –– muzykant.

Boris-NOM musician-NOM

‘Boris is a musician.’

Bailyn geht hier von einem primären Prädikator (“gefülltes” Pred0) aus. Dass so ein “gefülltes” Pred0 wie in (24b) auch phonetisch leer sein kann, erklärt Bailyn (2012, 194) damit, dass es doch insofern “overt” sei, als es – in der Rolle des pri-mären Prädikats – mit Tempus assoziiert ist. Sofern Pred0 demnach also doch “ge-füllt” ist, wird der Instrumental ‘absorbiert’. Folglich kommt nur der Nominativ in Frage, der durch Multiple Agree von T0 sowohl an den Subjektausdruck als auch an das Prädikatsnomen vergeben wird. Ich gebe die Struktur, die Bailyn (2012, 194) für solche Sätze präsentiert, mittels indizierter Klammerung wieder:59

(25) [TP Borisi T0 [PredP ti {/byl}[INSTR] [NP/DP muzykantNOM/*INS ]]]

Demnach sei also Pred0 sowohl als Nullform (Präsens) als auch in Form von byl (Präteritum) “gefüllt”, was den Instrumental ausschließe. Somit muss T0 als Kasusgeber sowohl für den Subjektausdruck als auch für das Prädikativ ‘ein-springen’ (Multiple Agree). Soviel zur primären Prädikation.

Zurück zu Kopulasätzen mit Instrumental, die Bailyn zufolge dieselbe Syntax wie kazaťsja-Sätzen haben und Fälle sekundärer Prädikation sein sollen. Zwar ver-deutlicht er seine Analyse für diese Kopulasätze nicht anhand einer Baumstruktur, jedoch macht er sie durch Glossierungen deutlich, indem er einen Kopulasatz mit Instrumental unmittelbar einem kazaťsja-Satz gegenüberstellt:

(26) a. On byl soldatom. (vgl. Bailyn 2012, 195)

hei-NOM was [PREDP ti soldier-INSTR]

‘He was a soldier.’

59 In Bailyns (2012, 194) Strukturbaum steht Borisi (mit Index!) in Spec-PredP, während in Spec-TP eine nicht weiter markierte DP erscheint. Es wirkt plausibel, dass Boris dieser DP ent-spricht, weshalb ich die Bewegung von Boris aus Spec-PredP nach Spec-TP darstelle (Bailyn setzt diese Bewegung auch in anderen Strukturbäumen an).

NOM NOM

b. Saša kažetsja durakom.

Sashai-NOM seems [PREDP ti fool-INSTR]

‘Sasha seems (to be) a fool.’

Die Formen byl in (26a) und kažetsja in (26b) sind jeweils die Primärprädikatoren im oberen Pred0 (= v0). Beide haben nach Bailyn einen SC als Komplement. Wie kažetsja, so ist auch byl ein Raising-Verb, das das SC-Subjekt anhebt. Das untere

“leere” Pred0 (der Sekundärprädikator) schließlich vergibt in beiden Fällen den Instrumental an das Prädikativ. Soweit kann der Analyse (in ihrem Zusammen-hang) durchaus gefolgt werden.

Das gravierende und m. E. nicht zu lösende Problem im Kontex der Annahme, Kopulasätze mit Instrumental seien Fälle sekundärer Prädikation, besteht m. E.

darin, dass von einem primären Prädikat eine gewisse deskriptive Bedeutung zu erwarten ist. Worin aber soll letztere bei dem angeblichen Primärprädikat byl in (26a) bestehen? Dass kažetsja in (26b) eine solche Bedeutung hat, ist nicht zu be-zweifeln. Diese Bedeutung, die als Primärprädikation gelten kann, würde dann durch den SC um eine Sekundärprädikation ‘angereichert’. In (26a) ist das gleiche SC-Komplement gegeben.

Es stellt sich also die Frage, was für eine ‘Bedeutung’ byl als Primärprädikat bei-steuern könnte. Wenn man ihm keine deskriptive Bedeutung geben kann, müsste es als bloßes Auxiliar gelten. Diese Annahme ist aber abzulehnen, da ein Auxiliar als Belegung des oberen Pred-Kopfes, d. h. der Position des Primärprädikats, völlig inadäquat ist. Schriebe man byl dagegen die ‘normale’ Kopulabedeutung zu, würde diese durch den SC um eine zweite Kopulabedeutung ‘angereichert’.

Dann würden zwei gleichartige Prädikationen nebeneinander vorliegen, was kaum sinnvoll erscheint. Schließlich kann auch die Annahme, byl wäre hier Existenz-verb mit der deskriptiven Bedeutung ‘existieren’, die Analyse kaum retten, da sich zeigt, dass dies (i) eine recht eigenartige Satzbedeutung ergäbe und (ii) im Präsens die explizite Existenzform esť zulassen sollte, was nicht der Fall ist; vgl. (27a).

Auch der Ausschluss der negierten Existenzaussage mit net (+ ‘Genitivsubjekt’) in (27b) bestätigt, dass die Form von byť oben nicht das Existenzverb vertritt.

(27) a. * Boris esť muzykantom. (Rus)

Boris-NOM existiert-3SG Musiker-INS

b. * Borisa net muzykantom.

Boris-GEN existiert nicht Musiker-INS

Ich sehe keine Möglichkeit, Bailyns (2012) Hypothese vor dem Hintergrund dieser semantischen Erwägungen zu legitimieren. Ich sehe auch nicht, inwiefern seine syntaktische Unterscheidung zwischen primärer (Nominativ) und sekundä-rer Prädikation (Instrumental) der Beantwortung der Frage nach dem Zustande-kommen der interpretativen Effekte dienlich ist. Dennoch sind diverse Aspekte seines Modells zu begrüßen, darunter die Unterbringung der Kopulabedeutung in einem speziellen syntaktischen Kopf, die Annahme, dass auch “stumme” Köpfe semantisch “gefüllt” sein können (vgl. die “Nullkopula”) sowie die Trennung der Kasuszuweisung von den byť-Formen.