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Exkurs: Vorgangspassiv und “Zustandspassiv” im Russischen

5. Kopulasätze

5.2 Die Formen von ‘sein’

5.2.3 Exkurs: Vorgangspassiv und “Zustandspassiv” im Russischen

Der Unterschied zwischen (25b) und (25c) wird lediglich durch temporale Modi-fikationen, namentlich einerseits die punktuelle Zeitangabe v 9 časov ‘um 9 Uhr’

und andererseits das Zeitintervall s 9 do 20 č. ‘von 9 bis 20 Uhr’, deutlich. Ferner spielt die instrumentalische by-Phrase prodavcom ‘vom Verkäufer’ eine wichtige

Rolle, die nur beim partizipialen Vorgangspassiv (dem ‘echten’ Passiv) akzep-tabel ist, nicht aber beim “Zustandspassiv” (das kein ‘echtes’ Passiv ist, sondern eine Kopula-Prädikativ-Struktur).

Eine Vorgangslesart kann nur ein ‘echtes’ partizipiales Passiv haben, während die Zustandslesart aus der “Resultativierung” des Partizips (mit der im Deutschen auch dessen Adjektivierung einhergeht) folgt; vgl. dazu auch (26a) mit (26b) oben. 180 Nur solche Sätze, in denen ein verbales (nicht “resultativiertes”) Partizip vorliegt, stellen somit ein Vorgangspassiv dar. Was das “Zustandspassiv” angeht, so hat sich in der (primär germanistischen) Forschung heute weitgehend die An-sicht durchgesetzt, dass es sich dabei um eine Kopulasatzstruktur handelt (siehe u. a. Rapp 1996; Maienborn 2007b; Maienborn & Geldermann 2013, 128). Die Zustandslesart solcher Strukturen lässt sich darauf zurückführen, dass einerseits die Kopulabedeutung im Satz vorhanden und andererseits die partizipiale Form keine eigentliche Verbform, sondern vielmehr eine Adjektivierung bzw. Resulta-tivbildung ist (Fn. 180). Durch letzteren Prozess wird das Topikzeitargument exis-tenziell abgebunden und repräsentiert im Weiteren nur noch ein Ereignis, das einem neu eingeführten Folgezustand vorausgegangen ist. Diese Abbindung des ursächlichen Ereignisses mag auch erklären, warum eine by-Phrase unnatürlich bzw. inakzeptabel ist: Da sich der Sprecher durch die Verwendung des

180 Das Label “A” an otkryt in (26b) folgt der traditionellen Kategorienarchitektur und ist an den Analysen Zimmermanns (2003b) sowie Maienborn & Geldermanns (2013) orientiert, die für deutsche Partizipialformen im “Zustandspassiv” (Kopulasätze!) deren Adjektivierung ansetzen.

Da ich Kurzformen generell als Verbalnomina ([+V,+N]) betrachte, kommt letzteres für die russischen und polnischen Partizipialformen nicht in Frage. Den genannten Analysen ist aber m. E. insoweit zu folgen, als es sich bei Formen wie otkryt in Fällen wie (26b) um Resultativ-bildungen handelt. Deren “Resultativierung” erfolgt entweder bereits im Lexikon oder erst in der Syntax durch ein semantisches Template (affixlose Anreicherung der SF; vgl. Zimmer-mann 1992). Dabei wird ihr Topikzeitargument existenziell abgebunden und mittels der Rela-tion RESULT als Quelle eines neu eingeführten Folgezustands s´ ausgewiesen. So bleibt bei sol-chen Formen nurmehr das interne Argument ungebunden (es kommt also zu einem Wechsel des logischen Typs). So wird im Kopulasatzbeispiel (26b) über magazin ‘Geschäft’ prädiziert, es werde in der Zukunft die Eigenschaft des Geöffnet(worden)seins aufweisen. In meinem Mo-dell lässt die beschriebene “Resultativierung” die Kategorie [+V,+N] der Partizipialform unbe-rührt. Vgl. den Eintrag in (i) [vor] mit dem in (ii) [nach der “Resultativierung”]:

(i) /otkryt/ [+V,+N,…] λy λt s [[t  τ(s)] : s INST [z OPEN y]] <e,<e,t>>

(ii) /otkryt/ [+V,+N,…] λy s´ t s [[s´ RESULT t] : [[t  τ(s)] : s INST [z OPEN y]]] <e,t>

Beachte, dass durch den Wechsel des Typs zu <e,t> ein einstelliges Prädikat entsteht, was der entstandenen Resultativform etwas Adjektivisches verleiht. Hierin könnte man eine Ent-sprechung zu der für das deutsche “Zustandspassiv” angenommenen Adjektivierung sehen.

passivs” auf den Folgezustand (als Eigenschaft des Subjektreferenten) konzen-triert, spielt der Agens des verursachenden Ereignisses eine nur untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Es muss daher ‘seltsam’ wirken, ihn in Form einer by-Phrase zu nennen.

Wenn gesagt wird, das russische partizipiale Passiv sei ambig zwischen Vor-gangs- und Zustandslesart (vgl. u. a. Lehmann 2009; Borik 2012), so kann dem zugestimmt werden, allerdings nur mit gewissen Einschränkungen.181 Das partizi-piale Passiv hat stets und nur die Vorgangslesart, wogegen Kopulasätze mit “re-sultativierten” Partizipialformen stets und nur die Zustandslesart haben können.

Der Eindruck, das partizipiale Passiv könne auch die Zustandslesart haben, ist m. E. ein Irrtum, der zum einen aus der häufigen Homonymie dieser Passivsätze mit Kopulasätzen (d. h. “Zustandspassiven”) sowie andererseits aus dem überwie-gend perfektiven Aspekt der n/t-Partizipien im Russischen folgt: Letzterer sorgt für eine ‘abgeschlossene’ Sichtweise des Sprechers auf die Handlung. Diese ‘Ab-geschlossenheit’ kommt der Zustandslesart sehr nahe, entspricht ihr aber nicht vollends, da beim partizipialen Passiv das Ereignis, das einen Zustand zur Folge hat, eben nicht – wie beim resultativen “Zustandspassiv” – abgebunden und so gewissermaßen ‘kaltgestellt’ wird. Das bedeutet, dass bei einem partizipialen Passiv mit perfektivem n/t-Partizip ein im Verlauf befindliches Ereignis geschil-dert wird, dessen Abschluss (bzw. Folgezustand) gleichzeitig ebenfalls perspekti-viert bzw. thematisiert wird. Bei einem “Zustandspassiv” dagegen steht einzig der Folgezustand (als Eigenschaft des Subjektreferenten) im Zentrum der Äußerung.

Man kann zweierlei Evidenz anbringen, um zu zeigen, dass das russische partizi-piale Passiv in der Tat die Vorgangslesart hat. Zum einen liegen zwar nicht viele, aber im einzelnen sehr frequente imperfektive n/t-Partizipien wie z. B. bit ‘ge-schlagen’ vor (siehe u. a. Borik 2012). Die Passivsätze mit ihnen zeigen deutlich die Vorgangslesart (eine Übersetzung mit “Zustandspassiv” ist ausgeschlossen):

181 Paslawska & Stechow (2003a) vertreten sogar die extreme Ansicht, das russische partizipiale Passiv sei stets – und unzweideutig – stativ (Gegenargumente bringt u. a. Borik 2012).

(27) Bill rasskazyval, kak uže byl bit v avtobuse

Bill erzählte wie schon war-SG.M geschlagenKF-SG.M in Bus-LOC

odnoj beremennoj baboj za popytku ustupiť ej mesto.

eine schwangere Frau-INS für Versuch-ACC abtreten-INF ihr-DAT Platz-ACC

‘Bill erzählte, wie er schon einmal im Bus von einer schwangeren Frau für den Versuch ge-schlagen {wurde/worden war/*war}, ihr seinen Platz zu überlassen.’ NKRJ

Freilich zeigen solche Passivsätze lediglich, dass das russische partizipiale Passiv nicht zwangsläufig perfektiv ist.182 Im gegebenen Kontext ist Beispiel (28) aus-sagekräftiger:

182 De facto ist das russische partizipiale Passiv überwiegend perfektiv, da die n/t-Partizipien bei der absolut überwiegenden Zahl der Verblexeme nur von den Perfektiva gebildet werden;

imperfektive n/t-Partizipien sind schlichtweg unüblich, vgl. sdelan : *delan ‘gemacht’, pro-čitan : *čitan ‘gelesen’, otkryt : *otkryvan ‘geöffnet’ usw. (dagegen aber im Polnischen:

zrobiony : robiony ‘gemacht’, przeczytan : czytan ‘gelesen’, otworzony/otwarty : ot-wierany ‘geöffnet’). In Folge dieser heute mehrheitlichen Beschränkung des n/t-Partizips auf perfektive Formen ist das partizipale Passiv folglich auch mehrheitlich auf den Ausdruck eines perfektiven Passivs spezialisiert. Zum Ausdruck eines imperfektiven Passivs wird heute meist das sog. “Reflexivpassiv” verwendet. Bei den wenigen Verblexeme, die imperfektive n/t-Parti-zipien zulassen, ist der reflexive Gebrauch meist anders belegt:

(i) Maľčik b’ëtsja. (echt-reflexiv/Antipassiv)

Junge schlägt-REFL

‘Der Junge schlägt sich (selbst).’/‘Der Junge schlägt (/prügelt).’

(ii) Maľčik  bit. (passivisch)

Junge [AUX] geschlagen

‘Der Junge wird geschlagen.’

Der reflexive Gebrauch ist hier primär der echt-reflexiven sowie der Antipassiv-Lesart vorbe-halten; somit zeigt das imperfektive partizipiale Passiv ohne Verwechslungsgefahr die passi-vische Lesart an. Bei anderen Verblexemen wie z. B. myť ‘waschen’ ist auf Grund ihrer de-skriptiven Bedeutung die Antipassiv-Lesart sehr unwahrscheinlich, weshalb die Reflexivform

‘nur’ die echt-reflexive sowie die passivische Lesart ausdrücken muss, was offenbar den Ver-zicht auf die partizipiale Ausdrucksform, die seit jeher relativ buchsprachlich ist, legitimiert.

Satz (iv) ist m. E. höchstens in älteren Texten anzutreffen (das n/t-Partizip war im Russischen früher regelmäßig von beiden Aspekten bildbar):

(iii) Maľčik moetsja. (echt-reflexiv/passivisch/??Antipassiv) Junge wäscht-REFL

‘Der Junge wäscht sich.’/‘Der Junge wird gewaschen.’

(iv) #Maľčik  myt.

Junge [AUX] gewaschen