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3. Praxistransfer

3.2 Handlungsleitlinie

Im Rahmen meiner Diplomarbeit habe ich für unsere interdisziplinäre Notfallstation im Spital Schwyz eine Handlungsleitlinie zum Thema «Verdacht auf Kindesmisshand-lung» erstellt. Diese Leitlinie ist für Kinder bis zum 16. Lebensjahr, ausgenommen sind Säuglinge sowie die sexuelle Misshandlung.

Die Handlungsleitlinie beinhaltet folgendes:

 Betreuungsschwerpunkte

 Rechtliche Grundlagen  Meldepflicht, Melderecht

 Vorgehensweise bei einem Verdacht

 Dokumentationsbogen

3.2.1 Betreuungsschwerpunkte der Kinder und Angehörigen

Um die Anzeichen einer Kindesmisshandlung zu erkennen braucht es Erfahrung, Auf-merksamkeit und Empathie gegenüber dem misshandelten Kind und deren Eltern / Erziehungsberechtigten. Da solche Fälle bei uns auf der Notfallstation nicht alltäglich sind, habe ich Betreuungsschwerpunkte in meiner Handlungsleitlinie zusammenge-fasst aufgelistet. Diese soll uns helfen, die Anzeichen frühzeitig zu erkennen, um dem-entsprechend richtig zu reagieren und alle Betroffenen professionell zu betreuen und zu unterstützen. Damit die Dokumentation bei uns auf der Notfallstation einheitlich und vollständig gemacht wird, habe ich einen Dokumentationsbogen erstellt. Wichtig ist, dass wir als Pflegefachpersonen aufmerksam Hinschauen, Zuhören und das Entste-hen von Verletzungen oder das abnorme Verhalten der Kinder hinterfragen. Die Sen-sibilisierung in Bezug auf die Thematik «Verdacht auf Kindesmisshandlung» von Pfle-gepersonal sowie den Ärzten hat oberste Priorität.

Gesprächsführung

Im Buch, mit dem ich mich zum Thema «Kindesmisshandlung» auseinandergesetzt habe, wird geraten, dass Anzeichen welche auf eine mögliche Kindesmisshandlung hindeuten, direkt in einem Gespräch mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten an-gesprochen werden. Wie oben schon erwähnt, sollte dabei eine vertrauensvolle, vor-urteilsfreie und ruhige Umgebung gegenüber den Eltern geschaffen werden. Das Ge-spräch wird durch den Arzt geführt und sollte, wenn möglich nicht unter Zeitdruck statt-finden. Der Arzt sollte sich, wenn möglich auf das Gespräch vorbereiten, vor allem in Bezug auf die möglichen Reaktionen der Eltern, die Konsequenzen, Beratungsstellen, Hilfsangebote, etc. Es könnten auch z.B. Flyer abgeben werden. Im Gespräch sollte deutlich gemacht werden, dass wir uns Sorgen um die Gesundheit des Kindes ma-chen.

Ein guter Startpunkt für das Gespräch ist, wenn der Arzt die bereits vorhandenen Be-funde des Kindes, z.B. Fotos von Verletzungen, Röntgenbilder, etc. in Kombination mit den vorhandenen Symptomen den Eltern aufzeigt. Zum Beispiel: «Ihr Kind macht uns einen sehr ängstlichen Eindruck auf uns. Haben Sie eine Vorstellung woran es liegen kann?» Die Eltern sollten die Gelegenheit haben, den Grund für die Misshandlung zu erklären.

(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).

Solche Gespräche mit den Eltern / Erziehungsberechtigten sollten immer zu zweit (Pflege / Arzt) durchgeführt werden. Auch die Vor- und Nachbesprechung soll gemein-sam gemacht werden.

(Anja Böni, 2021)

Red Flags - Warnzeichen

Das Vorhandensein von möglichen Red Flags kann auf eine Kindesmisshandlung hin-deuten. Wenn solche Warnzeichen auftreten, müssen alle Alarmglocken läuten. Das Erkennen von diesen Red Flags ist der erste und wichtigste Schritt in Bezug auf die Betreuung und Behandlung. Zu diesen Red Flags gehören folgende Punkte:

 Eltern vereinbaren den Arzttermin verzögert.

 Verletzungen, die nicht mit der Entstehungsgeschichte / Anamnese überein-stimmen.

 Wenn bei häuslicher Gewalt Kinder im Spiel sind.

 Abnormer Entwicklungsstand des Kindes

 «Frozen watschfullness» (eingefrorene Wachsamkeit)

 Thermische Verletzungen die eine scharfe Abgrenzung aufzeigen.

 Auf die Lokalisation der Verletzungen achten.

 geformte Hautläsionen

 Wenn mehrzeitige Frakturen vorhanden sind.

 metaphysäre Frakturen und dorsale Rippenfrakturen.

 chronische Schmerzen, z.B. Bauch- oder Kopfschmerzen

 Wenn ein Kind psychosomatische Störungen aufweist.

(Patrick Haberstich, 2019).

3.2.2 Vorgehensweise

In meiner Arbeitsschicht erlebe ich einen Verdachtsfall in Bezug auf die Kindesmiss-handlung. Was muss ich nun machen? Wie muss ich vorgehen?

Leider werden die Anzeichen einer Kindesmisshandlung oft erst spät entdeckt. Gewalt oder Ausbeutung wurde meistens schon über längere Zeit ausgeübt. Wenn keine akute Gefährdung des Kindes vorbesteht, braucht es eine sorgfältige Abklärung. Nur dann kann die richtige Intervention eingeleitet werden. Ein wichtiger Grundsatz dabei ist, dass die Kinder aufgrund der Loyalität gegenüber den Eltern/Bezugspersonen keine Entscheidung in Bezug auf das Vorgehen treffen müssen. Es ist jedoch wichtig, dass die Kinder dem Alter entsprechend in die Entscheidung miteinbezogen werden.

(Volksschulbildung Luzern, 2019)

Die Interventionen/Massnahmen dienen dazu, dass das Kind vor weiterer Gewalt ge-schützt wird. Zudem sollen seelische sowie körperliche Schäden behandelt werden und die Würde des Opfers wiederhergestellt und die sozialen Folgen vermindert wer-den.

(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).

Es gibt 4 Phasen um das Vorgehen bei einem Verdachtsfall strukturiert und geplant anzugehen.

Phase 1: Informationen und Hinweise erkennen, eigene Beobachtungen festhalten Es gibt Hinweise und Informationen auf Seite des Kindes oder von Drittpersonen.

Das Kind kann Äusserungen über erlebte Misshandlungen oder Verletzungen ma-chen oder es weist Verhaltensänderungen auf. Das äussere Erscheinungsbild des Kindes kann ebenfalls ein Anzeichen auf Kindeswohlgefährdung sein.

Das Verhalten von den Eltern/Bezugspersonen können ebenfalls ein Hinweis auf Kindeswohlgefährdung sein. Dabei spielt die familiäre Situation des Kindes, die Wohnsituation oder die persönliche Situation der Eltern/Bezugspersonen eine Rolle.

Die eigenen Beobachtungen der Pflegenden und Ärzten sind auch ein wichtiger Anhaltspunkt in dieser Phase. Hilfreich dabei ist das Erkennen von den Red Flags.

Phase 2: Auslegeordnung, Einschätzung und Beurteilung

Zusätzlich zu Phase 1 gibt es Anzeichen von Kindesmisshandlungen. Die beschrie-benen Merkmale vom Kapitel 2.4 sind hierbei hilfreich. Wenn Anzeichen einer Ge-fährdung vorhanden sind, dann müssen die Risiko- und Schutzfaktoren überprüft werden.

Schutzfaktoren haben auf die Entwicklung des Kindes einen schützenden Effekt, wenn sich das Kind in ungünstigen Lebensumständen befindet. Sie erhöhen die Bewältigungskompetenzen und mindern die Risikofaktoren.

Für die Einschätzung muss immer die eigene vorgesetzte Stelle und Fachpersonen aus verschiedene Fachdisziplinen miteinbezogen werden. Die beteiligten Perso-nen (Eltern und Kind) könPerso-nen dabei integriert werden. Wichtig ist es aber, dass sich die Situation in dem sich das Kind befindet, nicht verschlimmert.

Für eine fundierte Beurteilung braucht es Informationen, Hinweise, eigene Be-obachtungen, das Erkennen von Anzeichen der Gefährdung und die Schutz- und Risikofaktoren. Das heisst alle Informationen, Hinweise und Beobachtungen müs-sen miteinbezogen werden sowie alle Anzeichen der Kindesmisshandlung und die Schutz- und Risikofaktoren. Ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt ist das Mehrau-genprinzip (nicht alleine handeln)!

Phase 3: Schlussfolgerungen und Handlungsmöglichkeiten Folgende Schlussfolgerungen ergibt sich aus der Phase 1+2:

 Aktuell und in Zukunft ist keine Kindeswohlgefährdung zu erwarten.

Es kann trotzdem sinnvoll sein, die spezifischen Bedürfnisse des Kindes und/oder der Familie zu prüfen.

 Die Situation des Kindes ist unklar. Der Verdacht auf Kindesmisshandlung kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden.

Hier ist es wichtig, dass die Kinderschutzgruppe oder eine andere Fachstelle miteinbezogen wird. Eine anonymisierte Beratung und Einschätzung der Si-tuation bei der KESB, Opferhilfe- und Opferberatungsstelle oder bei der Kin-derschutzgruppe kann dabei hilfreich sein. Bei schwerwiegender Kindes-wohlgefährdung kann die Polizei zugezogen werden.

Ziel ist es, die Kindeswohlgefährdung bestätigen oder ausschliessen zu kön-nen.

 Aktuell oder in Zukunft ist eine Kindewohlgefährdung zu erwarten.

In diesem Fall müssen die Sofortmassnahmen eingeleitet werden. Entweder mit oder ohne Einverständnis der Eltern und dem Kind. Eine Gefährdungs-meldung an die KESB kann ebenfalls eine Massnahme sein.

Die ärztliche Untersuchung wie z.B. die Behandlung von Verletzungen, Traumatisierungen, Krankheiten ist eine Sofortmassnahme für das Kind.

Dies ist zu empfehlen, wenn das Kind sichtbare Verletzungen oder Miss-handlungsspuren aufweist. Aber auch wenn unsichtbare Verletzungen durch die Informationen und Hinweisen des Kindes, Dritter oder durch ei-gene Beobachtungen vermutet werden.

Folgende Sofortmassnahmen für Personen im Umfeld des Kindes kann es geben:

 Medizinische oder psychiatrische Hilfestelle für einen Elternteil.

 Bei häuslicher Gewalt polizeiliche Interventionen.

 Es gibt für Kinder und Mütter Frauenhausaufenthalte

 Durch zusätzliche Betreuung kann eine Entlastung der Kinder und El-tern erfolgen.

 usw.

Phase 4: Auswertung

Es ist wichtig das standardisierte Vorgehen zu evaluieren. Hilfreich ist, wenn dies mit den Fachstellen z.B. die Kinderschutzgruppe durchgeführt wird.

(Matthias Huber, 2019).

Die Grundprinzipien der Interventionen sind, dass wir als Pflegefachpersonen Ruhe bewahren und versuchen eine Eskalation zu vermeiden. Es soll eine zeitnahe kinder-psychologische oder kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung erfolgen. Bei entsprechender medizinischer Indikation ist eine stationäre Aufnahme sinnvoll. Wichtig beim Handeln von Kindesmisshandlung ist, dass immer multiprofessionell gearbeitet werden muss.

(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).

Aus allen Interviews konnte ich einen wichtigen Punkt in Bezug auf das Vorgehen mit-nehmen: Keine Alleingänge und keine Entscheidungen im Affekt treffen! Es ist sehr wichtig, dass bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung mehrere Fachperso-nen beigezogen werden (mind. 4-Augen-Prinzip). Ein Alleingang ist der falsche Weg.

Falls eine akute Gefährdung für das Kind besteht oder die Eltern auf der Notfallstation aggressiv wirken, kann eine stationäre Aufnahme des Kindes laut Dr. Anja Böni sinn-voll sein. Somit wird eine akute Sicherung des Kindes gewährleistet. Dann kann den Eltern mitgeteilt werden, dass das Kind aufgrund medizinischer Indikation stationär aufgenommen werden muss. So kann in die Kinderschutzgruppe eingeschaltet werden und es erfolgen professionelle Gesprächsführungen und Handlungen. Die Weiterbe-treuung und den Schutz des Kindes kann während dem Aufenthalt organisiert werden.

Für uns auf dem interdisziplinären Notfall des Spital Schwyz bedeutet dies, dass wir das Kind extern in ein Kinderspital verlegen müssen. Falls es auf der Notfallstation zu einer Eskalation kommen würde, muss die Polizei für die Intervention aufgeboten wer-den.

Petra Senn von der KESB sagte mir, dass wir von der Notfallstation jederzeit eine anonyme Meldung machen können. Eine Beratung ohne rechtliche Schritte können sie uns, als KESB, zu Bürozeiten von Montag bis Freitag gewährleisten.

Auch Dr. Anja Böni teilte mir mit, dass wir bei Fragen oder Unklarheiten jederzeit (24 Std.) mit dem Notfall vom Kinderspital Zürich Kontakt aufnehmen können. Ebenfalls kann laut Dr. Anja Böni während den Bürozeiten die Kinderschutzgruppe Zürich zur Hilfe beigezogen werden. Da wir von der Notfallstation im Spital Schwyz mit Zürich arbeiten, werde ich diese Adressen im Leitfaden vermerken.

Nicht zu vergessen ist der pädiatrische Pikettdienst, von unseren Kinderärzten im Tal-kessel Schwyz, dieser muss in jedem Fall involviert sein.

Die Zusammenarbeit zwischen der Kinderschutzgruppe und dem Pflegeteam ist wich-tig. Denn die Pflegenden sind nahe am Kind. Sie sehen das Kind und die Eltern (z.B.

Persönlichkeit, Befindlichkeit, Verhalten, Kommunikation, Emotionen, etc.). Die Pflege übernimmt eine wichtige Schlüsselfunktion zwischen diesen Disziplinen.

Was kann ich nun als Pflegefachperson bei einem Verdacht auf Kindesmiss-handlung tun?

 Mögliche Anzeichen einer Misshandlung erkennen, die Situation weiterhin be-obachten.

 Den Verdacht im interdisziplinären Team ansprechen und meine Besorgnisse ausdrücken.

 Mit den Ärzten zusammenarbeiten, sie in der Gesprächsführung unterstützen.

 Bei Bedarf Hilfe anbieten, Fachstellen vermitteln, vorhandene Informationsbro-schüren abgeben.

 Wenn möglich die Kinderschutzgruppe miteinbeziehen, den Verdacht melden.

(Seraina Wicky, Be2019).