2. Hauptteil
2.4. Anzeichen einer physischen und psychischen Kindesmisshandlung
2.4.1 Anzeichen von physischen Kindesmisshandlungen
Der Ursprung für einen Verdacht auf eine körperliche Misshandlung ist der somatische Befund. Es ist der beweiskräftigste Parameter für eine physische Kindesmisshandlung.
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).
Allgemeine Hinweise wie verzögertes Aufsuchen des Arztes, Widersprüche in der Anamnese, verschiedene alte Verletzungen des Kindes, unbegründete Ärztewechsel oder inadäquates Verhalten der Eltern / Erziehungsberechtigten deuten auf eine kör-perliche Kindesmisshandlung hin. Dies sind mögliche Verhaltensauffälligkeit der Eltern / Erziehungsberechtigte.
(Lips Ulrich., Markus Wopmann, Andreas Jud, Roxanne Falta, 2020).
Hautbefunde:
Hämatome
Die Haut ist bei physischer Misshandlung zu 90% betroffen. Hämatome kommen bei aktiven Kindern häufig vor, sind aber auch die häufigsten klinischen Zeichen einer kör-perlichen Kindesmisshandlung. Deshalb muss folgendes bei der Beurteilung von Hä-matomen berücksichtigt werden:
Alter und psychomotorischer Entwicklungszustand des Kindes
Damit ein Hämatom entstehen kann braucht es eine stumpfe Gewalteinwirkung wie z.B. ein Sturz oder ein heftiges Anstossen. Dafür muss ein entsprechender motori-scher Entwicklungszustand des Kindes vorhanden sein. Deshalb können Säuglinge sowie bettlägerige Kinder mit eingeschränkter Motorik ohne Fremdeinwirkung keine Hämatome bekommen. Hämatombildung bei Kleinkindern unter 6 Monaten ist ein grosses Alarmzeichen und deutet auf eine körperliche Misshandlung hin. Bei Kindern im Gehbeginn sind häufiges Anschlagen und Stürzen vorhanden und weisen typische Hämatome auf.
(Lips Ulrich., Markus Wopmann, Andreas Jud, Roxanne Falta, 2020).
Lokalisation
Akzidentielle (unverdächtige) Hämatome
Typische Lokalisationen bei unfallbedingten Hämato-men sind meist das knöcherne Hervorstehen der Vor-derseite des Körpers («Leading edges»). Dies ge-schieht, wenn sich Kinder während des Sturzes an Gegenständen oder Flächen stossen. Am häufigsten betroffen sind die Knie und die Schienbeine. Weniger als 5% der Kinder zeigen Hämatome im Gesicht und / oder um die Augenpartie auf.
Beim Stolpern, Ausrutschen und Hinstürzen ist meist der Hinterkopf und das «fasziale T» (Stirn, Nase, Oberlippe und Kinn) betroffen.
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).
Abb. 2: Typische unfallbedingte Hämatome
Abb. 3:Hämatom an typischen Anschlagestellen
Hämatome bei Misshandlungen (verdächtige)
Untypische Hämatome befinden sich meist abseits der knö-chernen Prominenzen. Hier ist die häufigste Lokalisation der Kopf, insbesondere das Gesicht, die linke Wange und das linke Ohr. Laut einer Studie weisen Hämatome an Stamm, Ohren oder Hals stark an eine Misshandlung auf. Es kann trotzdem jede Körperregion betroffen sein.
In der Praxis sieht man immer häufiger Kinder mit Hämato-men nach einzelnen Einwirkungen wie z.B. geformte Einblu-tungen an der linken Gesichtsseite nach einer Ohrfeige durch einen Rechtshänder von vorn.
Bei einem misshandelten Kind treten häufig multiple, grosse und gruppierte Hämatome und Petechien auf.
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen,
2016). Abb. 4: Typische misshandelte
Hämatombildung
Abb. 5: Gesäss als klassische Lokalisation für Schläge Abb. 6: Multiple, grosse Oberschenkelhämatome durch eine Misshandlung
In der untenstehenden Tabelle werden noch Mals zusammengefasst die typischen ak-zidentelle und die typischen misshandelten Hämatomlokalisation aufgezeigt.
Typisch akzidentielle Hämatomlokali-sation
Typische Hämatomlokalisationen bei Misshandlung
Stirn, Schläfe Ohren (häufiger links)
Schläfe Kieferwinkel, Mastoid
Nase Wangen (häufiger links), Gesicht
Oberlippe Unterlippe, Frenulum
Kinn Schulter, Oberarme symmetrisch
Beckenkamm Unterarme ventral an der Parierfläche (passive Ab-wehrverletzung)
Knie Handrücken
Schienbeine Thorax, Abdomen
Knöchel Rücken
Ellenbogen Gesäss, Genitale
dorsale Unterarme Oberschenkel ventral
Ober- und Unterschenkel dorsal Fussrücken
Tabelle 1: Typische akzidentelle Hämatomlokalisation, typische Hämatomlokalisation bei Misshandlungen
Alter
Eine Faustregel sagt, dass alle Hämatome die bei einem einzigen Unfall entstehen, die gleiche Farbe haben. Da die Menge der Blutansammlung und das umgebene Ge-webe die Farben beeinflussen können, können verschiedene gefärbte Hämatome gleichzeitig entstehen. Bei gesunden Kindern ab einem gewissen Alter können häufig verschiedene Hämatome vorkommen. Diese sind aber an typischen «Anstossungs-stellen» vorhanden!
«Gelbverfärbung bedeutet, dass das Hämatom mehr als drei Tage alt ist».
(Lips Ulrich., Markus Wopmann, Andreas Jud, Roxanne Falta, 2020).
Spuren
Beweisend für eine Misshandlung sind Spuren von Gegenständen wie z.B. Gürtel-schnalle, Stock (=lineare Doppelkontur), Kleiderbügel oder Körperteile wie Hand / Fin-ger, Bissspuren, usw. Die verwendeten Gegenstände stammen meistens aus dem Haushalt.
(Lips Ulrich., Markus Wopmann, Andreas Jud, Roxanne Falta, 2020).
Abb. 7: Spur einer massiven Ohrfeige
Bissverletzungen
Bissverletzungen zeigen typische zwei gegenüberliegende halbmond- oder hufeisen-förmige Hämatome mit zentraler Aussparung auf. Zudem können auch Oberhaut-durchtrennungen oder -abschürfungen auftreten. Zum Beispiel zentrale Petechien o-der Hämatome nach Saugen («Knutschfleck»).
Bissverletzungen befinden sich zu 29% an den Armen, 19% Beinen, 10% Schulter, 8,5% Rücken und je 7% an Gesäss und Gesicht.
Zur Sicherung von vielleicht vorhandener Fremd-DNA sollte bei frischen Bissverlet-zungen einen Abstrich gemacht werden.
Bei Bissspuren ist eine exakte Vermessung der Spuren notwendig, um eine Differen-zierung von Kinder- und Erwachsenengebiss zu machen. Oft werden Geschwister als Bissverursacher angegeben. Deshalb ist die Vermessung der Spuren wichtig. Fol-gende Faustregel gibt es:
Beim Erwachsenengebiss haben die Eckzähne einen Abstand (interkaniner Durchmesser) von mehr als 3cm haben. Mit 12 Jahren wird das Erwachsenen-gebiss erreicht.
Beim Kindergebiss entspricht der Abstand 2.5-3cm.
Anhand ihres ovalären und gequetschten Charakters sind Menschenbisse von Tier-bissen gut zu unterscheiden.
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).
Thermische Verletzungen:
Thermische Verletzungen zählen zu den besonders schwerwiegenden Kindesmiss-handlungen. Dadurch entstehen langfristige physische Störungen wie Narbenbildung und psychisch-emotionale Störungen.
Bei Unfällen und Misshandlungen sind häufig Verbrühungen vorhanden. 10-15% der misshandelten Kinder weisen eine thermische Verletzung auf. Oft sind Kinder unter einem Jahr betroffen.
Verbrühung
Verbrühung ist die Folge von Einwirkungen feuchter Hitze, zumeist einer heissen Flüs-sigkeit (meist Wasser). Bei der Verbrühung ist der Erhalt der Hautanhangsgebilde wie z.B. der Haare, vorhanden.
Bei Klein- und Kindern passieren häufig Unfälle von Verbrühungen, in dem sie heisse Getränke und Speisen vom Tisch oder Küchenablage herunterziehen. Der psychomo-torische Entwicklungsstand spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Typische unfallbedingte Verbrühungsmuster:
betroffen sind Brust, Bauch, Schulter und Kinn
Tiefegrad von Verbrühungen nimmt von cranial nach caudal ab
Zu Verbrühungen kann auch kommen, wenn der Säugling auf dem Arm oder auf den Knien der Eltern oder Betreuungsperson ist und gleichzeitig halten die Eltern / Betreu-ungsperson in der anderen Hand ein heisses Getränk.
Das Eintauchen in heisses Leitungswasser (Immersion) ist die Mehrzahl bei misshand-lungsbedingter Verbrühung. An den Extremitäten sind häufig symmetrische, typische, socken- und handschuhförmige Verbrühungen ersichtlich. Wie unten in Abbildung 8 und 9 ersichtlich ist.
Durch das Eintauchen kann es zu vollständigen Verbrühungen der Haut kommen. Aus-geschlossen das Finger- und Fussnagelbett. Es entsteht eine scharfe Abgrenzung zur umgebenden gesunden Haut und uniformer Verbrennungstiefe. Hochsignifikant mit Misshandlung korrelieren bilaterale Stumpfmuster der unteren Extremitäten mit Immer-sionsverbrühungen des Anogenitalbereichs.
Misshandlungsbedingte Verbrühungsmuster sind:
scharfe Abgrenzung
Lokalisation v.a. an Händen / Unterarme, Füsse / Unterschenkel und im Ano-genitalbereich dies sind Regionen, wo sich Kinder durch Fremdeinwirkung keine Verbrühungen zuführen können.
Werden häufig bilateral gefunden.
Abb. 8: Immersionsverbrühung der Hand Abb. 9: Immersionsverbrühung des
Unterschenkels
In der untenstehenden Tabelle ist eine Checkliste zur Differenzierung der
Mechanismus Immersion Übergiessen, bzw.
Ver-schütten, von oben her-unterfliessendes Wasser Ursache Heisses Leitungswasser Nichtleitungswasser:
Getränke, Kochtopwas-ser, Kochtopfflüssigkei-ten
Muster Scharfe obere Begren-zung, Symmetrie (Exträ-mitäten)
Uniforme, Verbrühungstiefe Hautfaltenaussparung, zentrale Aussparung am Gesäss
Unregelmässige Wund-ränder + -tiefe, kein Handschuh bezw.
Strumpfmuster Verteilung Isolierte Verbrühungen
Gesäss, Perineum +/- untere Extremität Isolierte Verbrühung der unteren Exträmität Vielzahl frühere Unfälle, Verbrühung
Tabelle 2: Checkliste zur Differenzierung der Misshandlungswahrscheinlichkeit
Verbrennung
Verbrennung ist eine trockene Hitzeeinwirkung, im Sinne einer Kontaktverbrennung.
Bei Verbrennungen werden die Hautanhangsgebilde wie Haare geschädigt.
Die häufigsten thermischen Misshandlungen sind die Kontaktverbrennungen. Dabei ist der Rücken, die Schulter, Unterarme, Handrücken und das Gesäss die häufigste Lo-kalisation. Bei unfallbedingten Verbrennungen sind v.a. die tastenden Finger oder Palmarflächen der Hände betroffen, teilweise auch weitere Körperparteien. Gekenn-zeichnet sind diese mit nicht gleichmässigen, verwischten, streifigen Muster. Ausge-nommen sind die thermischen Verletzungen durch absichtlich auf eine heisse Herd-platte gedrückte Hände.
Zigarettenverbrennungen sind häufig, da sie überall verfügbar sind. Sie kommen häu-fig an Handrücken, Daumengrundgelenk, Handfläche, Rücken und am Stamm, oft gruppiert in einem kleineren Bereich, vor. Die durchschnittliche Fläche beträgt 0.8-1cm.
Typische Gegenstände für Kontaktverbrennungen sind:
Zigarette = rundliche, ca. 0.8-1cm grosse Verbrennung, zumeist 2.-3. Grades mit narbiger Abheilung
Bügeleisen = dreieckige umrissene, scharf demarkierte Verbrennung, oft 3.
Grades, ersichtlich sind Dampfdüsen
Haartrockner = klar demarkierte Abbildung des Föngitters, eher Gesicht
Herdplatte = rundliche, 3. Grade Verbrennungen, typisch an Handflächen und Gesäss.
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016).
In der untenstehenden Tabelle sind Merkmale bei Verbrennungen, die für einen Unfall oder für eine Misshandlung sprechen, aufgezeigt.
Für einen Unfall spricht: Für eine Misshandlung spricht:
unregelmässige Ränder Gleichmässige Tiefe der Verletzung durch Eintau-chen von heissem Wasser
uneinheitliche Tiefe Scharf, demarkierter Übergang zur gesunden Haut
Ablaufspuren
nach unten abnehmende Verbrühungstiefe meist Arme / Hände mitbetroffen, zusätzlich
Schulter und obere Thoraxabschnitte
Tabelle 3: Merkmale unfallbedingte und misshandelte Verbrennungen
Frakturen:
Frakturen in einem ungewöhnlichen jungen Alter oder Frakturen, die nicht zum Unfall-mechanismus passieren, sind wichtige Hinweise für eine Kindesmisshandlung.
Frakturen die vor dem 1. Lebensjahr entstehen gelten als hochverdächtig. Denn jede zweite Fraktur vor dem 1. Geburtstag wird durch eine Misshandlung verursacht.
Bei 80% der unfallbedingten Frakturen haben die Kinder meist nur eine Fraktur. Miss-handelte Kinder weisen jedoch im Durchschnitt drei Frakturen auf. Ein weiterer Aspekt, der für eine Misshandlung spricht, ist wenn mehrere alte Frakturen beim Kind vorlie-gen.
Rippenfrakturen, Frakturen der langen Röhrenknochen oder meta- und epiphysäre Frakturen bei Kleinkindern gelten ebenfalls als hochverdächtig.
(Lips Ulrich., Markus Wopmann, Andreas Jud, Roxanne Falta, 2020).
Allgemeine Verdachtshinweise bei Frakturen sind, wenn…
…das Kind jünger als 1 Jahr ist
…es keine adäquate Anamnese ergibt
…kein Hinweis auf Knochenerkrankungen vorliegt
multiple, unterschiedliche alte Frakturen vorhanden sind
Folgende radiologische Befunde deuten auf eine nichtakzidentielle Frakturentstehung hin:
Hochverdächtig:
klassische metaphysäre Frakturen (unter 2 Jahren)
Rippen-, Sternum-, Skapula-, Schulter- und Wirbelfrakturen (Dornfortsätze)
Mittelverdächtig:
multiple Frakturen, v.a. bilateral, Frakturen in verschiedenen Heilungsstadien
Einzelfrakturen und weitere Misshandlungshinweise
komplexe Schädelfrakturen (Sturzhöhe unter 1.5 Meter)
Becken- Wirbelkörper-, Fuss-, Hand- und Fingerfrakturen
epiphysäre Ablösung Niedrigverdächtig:
einfache, lineare Schädelfrakturen
diaphysäre Schaftfrakturen
meta- und epiphysäre Frakturen bei älteren Kindern
Claviculafrakturen (v.a. in Schaftmitte)
(Bernd Hermann, Reinhard B. Dettmayer, Sibylle Banaschak, Ute Thyen, 2016, S.92).