• Keine Ergebnisse gefunden

Haltbarkeit digitaler Objekte

Die informationstechnische Revolution hat ein Paradoxon beschert: Die Speicherung von im-mer mehr Daten, die neben den klassischen Dokumenten und Bildern nun auch Audio- und Videodatenströme, wissenschaftliche Rohdaten, interaktive Programme erlaubt, ist zu so-wohl fallenden Kosten als auch auf immer geringerem Raum möglich. Wo jedoch in der Vor-Computer-Ära aufgrund der geringen Packungsdichte der Informationen eine Betrach-tung auch ohne aufwändige Hilfsmittel, somit oft zu recht geringen Kosten, möglich war, steigt dieser Aufwand mit jedem neuen digitalen Objekt und jeder neuen physikalischen Spei-chertechnik. Wo vor einigen hundert Jahren die Grundzüge des menschlichen Wissens noch in eine mehrbändige Enzyklopädie passten und dort nachgeschlagen werden konnten, benötigt man nun gewaltige Speichersysteme. Diese erfordern einen hohen technologischen Aufwand zu ihrem Betrieb, der sich nicht einfach in einem bestimmten Zustand einfrieren und zu einem beliebig späteren Zeitpunkt wieder aktivieren lässt.

Nachdem die Gutenbergsche Druckerpresse im 15. Jahrhundert die Vervielfältigung von Texten und bestimmte Formen der bildlichen Darstellung revolutioniert hat, schuf erst die elektronische Datenverarbeitung die Erreichbarkeit der ”unendlichen” digitalen Kopie. Bis da-hin stellten Kopien, die möglichst originalgetreue Abbildung der Vorlage, ein nicht unerheb-liches Problem dar.

Die Probleme analoger Kopien sind hinlänglich bekannt, weshalb nur zwei Beispiele zur Illustration genannt seien. Nicht nur Archivare kennen die Probleme der Übertragung von einer VHS-Video-Kassette auf eine andere oder wiederholte Kopien von Kopien eines Buches im Xerox-Verfahren. Im ersten Beispiel besteht neben der Qualitätsreduktion durch den Ko-piervorgang ein weiteres Problem: Das Original nutzt sich während des KoKo-piervorganges, im Beispiel bleibend durch das wiederholte Abspielen im Videorecorder, selbst ab. Allein dadurch leidet die Vorlage unumkehrbar.

2.4.1 Illusion einer ewigen digitalen Kopie

Die Qualtität der Kopie nimmt je nach angewandtem Verfahren und betriebenem Aufwand in unterschiedlichen Graden ab. Jedoch gelingt es nie eine exakte Kopie des Originals zu erzeugen. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die Charakteristik des Datenträgers erlaubt eine unterschiedlich lange Aufbewahrung des Originals. Bereits hier kommt es im Laufe der Zeit zu Qualitätseinbußen. Ein Archivar steht vor dem Problem, zu welchem Zeitpunkt er eine Kopie anfertigt: Zu einem frühen Zeitpunkt ist der Verlust bezogen auf den Erstellungszeitpunkt des Originals noch gering, jedoch beginnt auch die Kopie im Augenblick ihrer Erstellung zu altern. Je früher man den Auffrischungsvorgang einplant, desto häufiger ist er – bezogen auf

2.4. HALTBARKEIT DIGITALER OBJEKTE 25

eine bestimmte Zeitspanne – durchzuführen. Umgekehrt enthielte die Kopie zu einem sehr späten Zeitpunkt des Lebenszyklus eines Objekts vielleicht nicht mehr alle Informationen.

Es gelingt fast immer, von einem Buch, welches kurz vor dem Zerfall aufgrund von Säu-rezersetzung oder Tierfrass steht, noch eine Kopie anzufertigen, die zumindest den Inhalt weitgehend rettet, wenn vielleicht auch die Form der Kopie nicht perfekt mit dem Origi-nal übereinstimmt. Das Ergebnis des beschriebenen Rettungsvorganges ist weiterhin nutzbar, wenn vielleicht auch zusätzliche Informationen, wie die handwerkliche Komponente der Bin-dung, verloren gegangen sind.

Auf diese Schwierigkeiten schien die digitale Kopie eine perfekte Antwort gefunden zu haben, wenn man den Aspekt der Digitalisierung ursprünglich analoger Objekte einmal außen vor lässt. Bei der Digitalisierung handelt man sich zwangsläufig Reduktionen ein, da bei-spielsweise die Auflösung einer Fotografie, die nur durch Molekülgröße und Abstand begrenzt ist, nicht auf die digitale Kopien übertragen werden kann. Zum einen ist die Packungsdichte der fotoaktiven elektronischen Bauteile in der Kamera- oder Scanner-Optik noch deutlich niedriger. Zum anderen wären die Datenmengen so hoch, dass sie sich selbst mit den der-zeit verfügbaren Computern und Speichersystemen nicht sinnvoll in großer Anzahl archivieren ließen.

Die Probleme der digitalen Kopien wurden in der ersten Euphorie der neuen Möglichkeiten vielfach nicht wahrgenommen. Während alle analogen Kopiertechniken anerkanntermaßen mit Verlusten und Verfälschungen kämpfen mussten, ist es hingegen sehr leicht, von einem digitalen Objekt eine Kopie herzustellen, die sich in keiner Weise vom Original unterscheidet.

Digitale Kopien haben darüber hinaus eine Reihe sehr attraktiver Eigenschaften. Die Kos-ten ihrer Erstellung sind oft sehr gering. Hinzu kommt ein völlig neuer Aspekt: Sie lassen sich bequem über Computernetze austauschen, womit räumliche Abstände der Betrachtungsorte keine besondere Rolle spielen. Das erlaubt es, ein Objekt viel leichter geografisch entfernten Betrachtern zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wird eine deutlich höhere Sicherheit in der Archivierung erreicht, da mit der räumlichen Verteilung und einer größeren Anzahl von Kopien die Wahrscheinlichkeit eines Totalverlustes sinkt. In Abhängigkeit vom Typ des Objekts kann der Betrachter oft noch zusätzlich entscheiden, welche Art der Ansicht er wählt. So kann ein PDF-Dokument bequem am Bildschirm betrachtet oder alternativ auf Papier ausgedruckt werden. Eine gute Einführung in die Problematik findet sich in [Lehmann 1996], S. 3 ff.

2.4.2 Randbedingungen der Lesbarkeit

Analoge Objekte wie Bücher, Fotografien, Skulpturen oder Malerei erschließen sich dem Be-trachter sofort, ohne dass er dafür spezielle technische Hilfsmittel gebrauchen muss. Für den Betrachter ist es komplett unerheblich, dass das Buch das Ergebnis eines sehr aufwändigen Maschineneinsatzes ist. Ein belichtetes und entwickeltes Papierfoto benötigt keine komplexe Technik oder aufwändige chemische Verfahren zur Betrachtung. Schwieriger wird es bereits bei ”jüngeren” Techniken, wie analogen Audio- und Videoaufnahmen. Hier reicht es zur Dar-stellung seitens des Anwenders nicht mehr aus, lediglich den Datenträger zu betrachten. Für eine VHS-Video-Kassette30 benötigt man meistens eine Kombination aus Abspiel- und

Be-30Der VHS-Standard für Videokassetten (Video Home System) wurde in den 1970er Jahren von JVC definiert und ist mediengeschichtlich damit noch nicht besonders alt.

trachtungsgeräten: In diesem Fall einen Videorecorder der VHS-Norm und ein Fernseh- oder anderes geeignetes Gerät.31

Wegen vieler Probleme der Langzeitqualität der Datenträger und der technologischen Fortentwicklung im Bereich Videoaufzeichnung und Wiedergabe wird die Verfügbarkeit der notwendigen VHS-Abspielgeräte in Zukunft abnehmen. Die Problematik ist an sich nicht neu:

Archive standen schon häufiger vor dem Problem, dass die technologische Weiterentwicklung alte Systeme obsolet werden und damit aus dem Gebrauch verschwinden ließ.

An dieser Stelle bleibt häufig nichts anderes übrig, als unter Inkaufnahme gradueller Qualitätsdegregation eine Kopie in ein aktuelles Audio- oder Videosystem vorzunehmen. Das bedeutet immer, dass jeweils ein Abspielgerät der alten als auch ein Aufnahmegerät der neuen Generation verfügbar sein muss und deren Aus- und Eingänge in geeigneter Form verknüpf-bar sein müssen. Diese Art des Umgangs mit abgelösten, ersetzten Techniken suggeriert eine ähnliche Lösung für digitale Archive.

Digitale Objekte stehen vor einem deutlich komplexeren Problem. Anders als bei vielen analogen Objekten, die komplett ohne ihren Erstellungskontext betrachtet werden können, ist dieses bei digitalen Objekten nicht mehr gegeben. Computer basieren auf dem Zusam-menwirken von Software und Hardware. Die Maschinen selbst können als statische Objekte quasi beliebig lange aufbewahrt werden. Der reine physische Erhalt garantiert jedoch nicht die Funktionsfähigkeit. Ebenso wie die Abspielgeräte aus der analogen Welt teilen sie mit diesen die Probleme mechanischer oder elektrischer Ausfälle. Darüber hinaus nimmt die Komplexität der Gesamtsysteme permanent zu, so dass die Hoffnung auf relativ einfache Reparaturen oder Ersatzteilbeschaffung abnehmen muss.

Ist das Abspielsystem ”Computer” nicht mehr einsetzbar, ergeben sich daraus fatale Fol-gen für dynamische digitale Objekte, wie Betriebssysteme und Anwendungsprogramme. Ein simpler Programmausdruck auf Papier oder Anzeige auf einem Bildschirm ist nicht ausrei-chend, weil es keine Interaktivität ermöglicht und damit der Dynamik des Mediums nicht gerecht wird. Mit der Gefährdung der Software, mit denen digitale Objekte erstellt wurden, ist auch das Objekt selbst gefährdet.

Anders als bei überlieferten Theaterstücken aus der Epoche des griechischen Altertums oder Noten aus der Bach-Zeit ist ein Informationsgewinn aus der Interpretation statisch abgelegter Programme sehr schwer zu realisieren. Er fällt damit eher spärlich aus und ist von geringem Wert. Die fehlende Ausführung verhindert die Möglichkeit eines Nachempfindens, womit Sinn und Funktion eines Programmes im Dunklen bleiben.

2.4.3 Kontexte

Viele Daten sind nur im gemeinsamen Kontext mit ihrem erzeugenden Programm heraus sinnvoll interpretierbar, was man schon beim fehlschlagenden Versuch feststellt, ein Word-Dokument sinnvoll in einem klassischen Texteditor darzustellen. Dies stellt ein zentrales Pro-blem dar, welches häufig unterschätzt wird. Im Gegensatz dazu lassen sich statische HTML-Dokumente, die im klassischen Text-ASCII-Format vorliegen, selbst ohne Browser nach vielen

31Es muss sichergestellt sein, dass das Abspielgerät ein Ausgangssignal produziert, welches dann vom System zur Betrachtung wiederum geeignet interpretiert werden kann. Probleme können bereits die unter-schiedlichen Fernsehnormen PAL und NTSC bereiten.

2.4. HALTBARKEIT DIGITALER OBJEKTE 27

Jahren mithilfe der Dokumentation der Beschreibungssprache rekonstruieren. Ebenso zeigt sich die Langlebigkeit des TEX-Formates, eines Textsatzsystems, welches Mitte der 1980er Jahre entstanden ist und auch heute noch die Generierung von vor 15 Jahren geschriebe-nen Dokumenten für die Druckausgabe erlaubt. Dieses schlägt jedoch bei unvollständig oder nicht dokumentierten Binärformaten fehl. Enthaltene Informationen gehen zum großen Teil verloren oder lassen sich nur mit hohem Aufwand in ihrem Gesamtsinn rekonstruieren.

Konvertierungen von Betriebssystemen und Programmen auf aktuelle Hardwarearchitek-turen erfolgt nur dann, wenn es sich ökonomisch lohnt oder besondere Interessen dahinter stehen. Häufig ist der Aufwand einer Aktualisierung oder Konvertierung so hoch, dass er nicht geleistet wird. Vielfach stellt sich der Wert bestimmter Daten erst zu einem viel späteren nicht vorhersehbaren Zeitpunkt heraus.

2.4.4 Abreißen der kulturellen Überlieferung

Eine pointierte Zusammenfassung der Probleme digitaler Archive, die auch schon an anderer Stelle, wie [Borghoff u. a. 2003] S. 3 zitiert wurde, liefert Rothenberg: ”Digital documents last forever - or five years, whichever comes first”. Ein etwas konstruiertes, aber gut nachvoll-ziehbares Szenario beschreibt derselbe Autor in seiner Einleitung zu [Rothenberg 1999].

Sehr lange Zeit war der bestimmende Datenträger auch zur langfristigen Aufbewahrung von Information das beschriebene oder bedruckte Papier. Auch wenn die seit zehn Jahren gemachten Versprechungen vom papierlosen Büro noch nicht erfüllt wurden, so ist die Ten-denz klar. Immer mehr Daten werden ausschließlich in elektronischer Form vorgehalten. In diesem Zuge sind jedoch zwei wesentliche Vorteile des klassischen Mediums Papier verloren gegangen – der Zugriff auf die Inhalte ist im Regelfall ohne Hilfsmittel möglich und so vom technischen Wandel unbeeinflusst. Zusätzlich ist das Medium Papier verglichen mit den im Computerbereich üblichen Speichermedien extrem langlebig.

Eine breite Palette an sogenannten Multimedia-Daten erweitert die Möglichkeiten der Speicherung von Bild und Ton oder löst analoge Verfahren ab, die zum Teil mehr als 200 Jahre alt sind. Gerade durch bessere Kompressionsverfahren können teilweise deutlich mehr Daten als auf analogen Medien abgelegt werden. Anders als bei analogen Medien erleiden Kopien von digitalen Objekten keinen Qualitätsverlust.32

Hierbei steht man jedoch vor einem Dilemma: Es existieren zwar langjährige Erfahrungen mit traditionellen Datenträgern, wie dem Papier. Jedoch sind die Erkenntnisse zu aktuellen Datenträgern systembedingt beschränkt. Physische ”Inschriften” auf Datenträgern verlieren im Laufe der Zeit durch externe Einflüsse und medienbedingt an Unterscheidbarkeit.

• Magnetbänder gibt es schon seit den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts. Allgemein ging man von einer längeren Haltbarkeit aus. Vielfach sorgte jedoch ungünstige Ma-terialwahl oder Materialermüdung dafür, dass Bänder vorzeitig unbrauchbar wurden.

So beeinflussen sich beispielsweise die unterschiedlich polarisierten Magnetisierungen gegenseitig und heben sich im Laufe der Zeit langsam auf. Dieses ist besonders für Bänder, bei denen der Datenträger in engen Schichten aufgewickelt ist, problematisch.

32Er ist dann jedoch total, wenn die technische Lesbarkeit des Objekts nicht mehr gegeben ist.

• Unlesbarkeit von Disketten und CDs treten auf: Verformungen optischer Datenträgern können dafür sorgen, dass sich die Spuren auf dem Medium leicht verschieben und damit bei sehr hoher Dichte nicht mehr getroffen werden. Ein Ausfall der Abspielgeräte und die Veraltung ihrer Schnittstellen treten mit zunehmendem Alter in immer höherer Wahrscheinlichkeit auf.

Der Verfall der Datenträger ist nur eines der möglichen Probleme. Damit sie wieder einge-lesen werden können, bedarf es der passenden Geräte mit passenden Schnittstellen zu heutigen Systemen. Ein recht prominentes Beispiel der jüngeren Zeit sind die Stasi-Magnetbänder, auf denen Aktenreferenzen gespeichert waren, die erst eine sinnvolle Zuordnung von Akten über-wachter Personen und beteiligter Mitarbeiter erlaubten.33 Erst nachdem die Abspielgeräte und das notwendige Wissen zur Bedienung wieder auftauchten, konnten die gut erhaltenen Datenträger eingelesen werden.

Selbst wenn Daten auf aktuelle Medien kopiert werden, ist damit nicht die Garantie ge-geben, dass die Daten sinnvoll interpretiert werden können. Das Wissen um das Datenformat und Software zur Interpretation sind weitere Erfolgsmomente. Bisher gibt es noch wenig dokumentierte Beispiele des unwiederbringlichen Verlusts digitaler Daten. Daraus folgt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass dieses Problem nicht auftritt.