• Keine Ergebnisse gefunden

1. Einleitung

M. de Quervain

Im Bereich von besiedelten Zonen wird der Grad der Lawinenbedrohung einerseits durch die Intensität, d. h. die Druckwirkung möglicher Lawinen bestimmt und anderseits durch ihre Häufig keit (Frequenz)

Lawinendrücke und -Frequenzen lassen sich grundsätzlich messen und beobachten, wobei aller dings in der Praxis nur vereinzelte Testobjekte in Betracht gezogen werden können, Zur Erfas sung kleiner Frequenzen sind zudem große Beobachtungszeiträume bis in die Größenordnung von Jahrhunderten nötig, Es können also nur verhältnismäßig häufig niedergehende Lawinen aufgrund direkter Beobachtungen zuverlässig klassiert werden, und diese sind für die Zonenpla nung nicht problematisch. Für die so wichtigen seltenen Niedergänge müssen die genannten Grö ßen daher rechnerisch erfaßt werden können, wobei die berechneten mittleren relativen Häufig keiten von Lawinenniedergängen oder die mittleren Wiederkehrdauern (reziproke Werte der rel.

Häufigkeiten) als Erwartungswerte zu betrachten sind.

In der gegenwärtigen Praxis werden Lawinengefahrenzonen primär nach zu erwartenden Druck-wirkungen ausgeschieden, und diesen Wirkungen wird ein bestimmter Bereich der Häufigkeit zu geordnet. Ein zur Zeit noch diskutiertes Schema lautet (Fig. 1):

Fig. 1 Schema für die Zonenab grenzung in der Lawinengefahrenkarte (1973, SLF)

rote Zone:

E

0D Q

Druck von 3 t/m2 und mehr mit einer Wiederkehrdauer bis zu 300 Jahren.

Druck von weniger als 3 t/m2 mit einer Wiederkehrdauer bis zu 30 Jahren.

(Intolerable Störungen durch Fließlawinen) blaue Zone:

—— Druck von weniger als 3 t/m2 mit Wiederkehrdauer von 30 bis 300 Jahren.

(Mit Vorbehalten tolerable Störung durch Fließlawinen) gelbe Zone: (fakultativ)

Lawinenwirkungen mit Wiederkehrdauer über 300 Jahren.

Schwache Wirkungen auslaufender Staublawinen.

(Tolerables Restrisiko)

In Klammern ist die bis dahin angenommene allgemeine Gefahreninterpretation im Hinblick auf bauliche Entwicklungen beigefügt.

Während die Lawinendrücke von Fließlawinen in Verbindung mit Auslaufstrecken berechnet werden können, ist es vielerorts nicht klar wie die Häufigkeiten ins Spiel kommen. In der vorlie genden Betrachtung soll diese letzte Frage diskutiert werden, nicht aber das Problem der Zonen-grenzen und ihrer Interpretation.

2. Statistische Uberlegungen

Im bereits eingeführten Verfahren zur Berechnung der Auslaufstrecken von Fließlawinen geht man aus:

vom Anrifivolumen, als Produkt einer angenommenen Anrißmächtigkeit und der zu erwarten den primären Anrifilläche.

von der Topographie (Neigung, Querprofil) der Sturzbahn und des Auslaufgeländes.

Mit diesen Elementen und mit erfahrungsmäßigen Reibungswerten lassen sich Auslaufstrecken nahezu objektiv berechnen. Die Auslaufstrecke markiert das untere Ende der Lawinenablagerung und damit den Grenzwert null des Lawinendruckes. Weiter oben auftretende mittlere Drücke be rechnen sich aus der mittleren Geschwindigkeit und Dichte des Lawinenstroms. Die Lawinenhäu figkeit scheint in diesem Verfahren nicht enthalten zu sein. Sie steckt aber ganz einfach in der vorgegebenen Anrißmächtigkeit und indirekt teilweise auch in der Annahme über die Ausdeh nung der primären Anrißfläche.

Wenn zur Berechnung einer Lawine eine Anrißmächtigkeit von z. B. 150 cm angesetzt wird, be deutet das, daß sich im betrachteten Einzugsgebiet von gegebener Neigung eine Schneelage von mindestens 150 cm aufbauen muß, bis es zum maßgebenden Lawinenniedergang kommt. Dies wird um so häufiger geschehen, je schneefallreicher das betreffende Gebiet ist. Oft wird vor Erreichen der 150-cm-Schicht eine kleinere Lawine niedergehen. Es wird aber auch seltener natürlich

geschehen, daß die angesetzte Mächtigkeit von 150 cm überschritten wird und eine größere La wine zu befürchten ist.

Maßgebend für die Streuung der sich einstellenden Anrißmächtigkeit ist bei gleichbleibenden topographischen Bedingungen (i. bes. Neigung) die Variation in den Eigenschaften des abgelager ten Schnees. Bei den Katastrophenlawinen wird es sich dabei vor allem um die Neuschneeverhält nisse handeln, da solche Lawinen in der Regel mit ergiebigen Schneefällen verknüpft sind. Die Ab hängigkeit der Anrißmächtigkeiten von der Neigung ist besser zu überblicken, sie ist einerseits gegeben durch den Zusammenhang zwischen Schichthöhe h und Schichtmächtigkeit d (siehe un ten) und anderseits durch die Abnahme der Stabilität (Verhältnis der Scherfestigkeit zur Scher kraft) mit der Neigung.

Um die Zusammenhänge klarer erkennen zu lassen, soll hier angenommen werden, alle zur sta tistischen Lawinenberechnung erforderlichen Funktionen seien bekannt.

Es sei N (h) die mittlere Anzahl von Schneefaliperioden pro Jahrhundert, die einen Schneezu wachs von mehr als h cm ablagern. Eine Schneefaliperiode sei gekennzeichnet durch eine Folge von Schneefalltagen mit oder ohne kürzere Unterbrechungen, derart daß die ganze abgelagerte Schicht mechanisch im Zustand des Neuschnees verbleibt. Diese Funktion hängt ganz von den kli matischen Verhältnissen eines Gebietes ab, und, da hier auch Treibschneeablagerungen einzube ziehen sind, von den Windbedingungen.

Im Hinblick auf das Lawinenanrißproblem interessiert indessen nicht die lotrechte Schichthöhe h, sondern die hangsenkrechte Mächtigkeit d=h. cos ~

(~

Hangneigung). Die Funktion N (d) gilt also nur für eine vorgegebene Hangneigung in einer betrachteten Klimaregion. Sie stellt eine me teorologische Statistik dar, bezogen auf eine bestimmte Anrißzone.

Fig. 2 zeigt ein fiktives Beispiel eines derartigen Verlaufs von N (d) für zwei Klimaregionen A und B. Es wären in der Region A also 50 Schneefälle pro Jahrhundert mit Ablagerungen über

150 cm Mächtigkeit zu erwarten; in der Region B wären es nur 25, 158

7 1000 1—

w0

zD

=

= 500

1-w0

200

w =-~

0

N

cl:= 2

N

Wie viele dieser Schneefälle führen zu Lawinenanrissen, und wie verteilen sich die Anrißmäch tigkeiten häufigkeitsmäßig?

Wenn an einem Hang von gegebener Neigung die über einem kritischen Wert liegen muß

anhaltend Schnee fällt, wird eine Schneebrettlawine anreißen, sobald eine gewisse kritische Neu schneemächtigkeit erreicht ist. Die Anrißhöhe d0entspreche dieser Neuschneemächtigkeit. Es soll darunter die mittlere Mächtigkeit der abgleitenden Schneetafel verstanden sein.

SLF .1

ZN,. 2-0304

NORMIERUNG fw-ddo 0!

0,015

‘2‚.3

~ 0,010

0,005

0 100 200

d [cm]

Fig.2

0 Fig.3

100 200

do [cm]

300

Z 0 fw.N.ddo

00

100

100 200 0

d0 [cm] 0

Fig.4

Fig. 2 N (d) Anzahl der Schneefailperioden pro Jahr hundert, die in einem Anrißgebiet von gegebener Nei gung einen Schneemächtigkeitszuwechs von d und mehr erbringen. Klimegebiete A und B gleicher Hengneigung.

(schematisch)

Fig. 4 z=w. N. Anzahl der Anrißhöhen pro Jahrhundert und pro cm Zuwachswert. Klimagebiet A. (schematisch)

100 200

d0 [cm]

Fig.5

Fig. 3 w d0) Verteilungsfunktion (Anzahl/cm) der Lawinenanrißmächtigkeiten d0 bei kontinuierlichem Schneefall unter variablen meteorologischen Bedin gungen. (schematisch)

Fig. 5 Anzahl Z der Anrisse pro Jahrhundert größer als d0 für die Klimagebiete A und B bei gleicher Nei gung. (schematisch)

Denkt man sich diesen Vorgang häufig wiederholt, jedesmal unter etwas anderen Schneefallbe dingungen (Temperatur, Schneeart, Schneefallintensität, Windeinwirkung etc.) und auch unter Variation des Zustandes der Unterlage vor Beginn des Schneefalls (Boden oder Altschneeoberflä che), dann werden sehr verschiedene Werte der Anrißmächtigkeit auftreten. Sehr kleine Werte (unter 10 cm) werden selten sein, aber auch sehr hohe Werte, da jeder eingetretene Lawinennie dergang den Vorgang von vorn beginnen läßt,

Wie bereits erwähnt, verschieben sich die relativen Anrißhäufigkeiten mit zunehmender Hang-neigung nach kleineren Werten von d0. Bei abnehmender Neigung wird der Schnee unterhalb eines gewissen Hangwinkels schätzungsweiseca. 25~ dagegen nur vereinzelt, aber dann mit großer Mächtigkeit anreißen, im übrigen aber in den Bereich der absoluten Stabilität gelangen.

Die Natur spielt dieses Experiment im Lauf der Jahrhunderte in allen Varianten vor, Es ist tat sächlich noch komplexer als im beschriebenen vereinfachten Modell angedeutet. Leider wird es kaum je möglich sein, dieses Verhalten theoretisch-schneemechanisch voll zu erfassen. Die benö tigte statistische Verteilung der Anrißmächtigkeit unter ergiebigen Schneefällen kann letztlich nur der Naturbeobachtung entnommen werden. Zurzeit kann man sich lediglich auf vereinzelte Erfah rungswerte stützen.

1-IX

w zD IX

L~-)

N

100

d0 [cm] Fig. 6 Z (d0) Ausschnitt aus Fig. 5

Ein fiktives Beispiel (Fig. 3) soll den Häuiigkeitsverlauf, wie er aus umfangreichen statistischen Erhebungen abgeleitet werden müßte, veranschaulichen. Es zeigt für eine gegebene Hangneigung die angenommene Häufigkeitsverteilung w der Anrißmächtigkeit d0. Ein Ordinatenwert w ist die relative Anzahl von Lawinenniedergängen mit Anrißmächtigkeiten im Bereich von d01/2 bis d0 +1/~ cm. Die Normierung der Ordinatenskala ist so getroffen, daß die von der Kurve umschlos sene Fläche = 1 ist. Der Wert w kann auch als Erwartungswert für einen Lawinenniedergang im gesamten Bereich von d0 betrachtet werden. Die Beziehung w (d0) wird hier vereinfachend als all gemein gültig für alle Klimaregionen betrachtet, was in Wirklichkeit nicht ganz zutreffen dürfte.

ESLF .j,~

1zN~4.ta36j

5 4 3 2 0

150 200

160

Multipliziert man die mittlere Anzahl der Niederschläge pro Jahrhundert, die einen gewählten Wert d erreichen, d. h, die Funktion N (d) gemäß Fig. 2, mit dem Erwartungswert für die Anriß mächtigkeit, w (d0), gemäß Fig. 3 unter Gleichsetzung von d und d0,so erhält man die Anzahl z der im betrachteten Klimagebiet pro Jahrhundert zu erwartenden Anrisse im Bereich der Mächtigkeit d0 ± 1/2 cm. Fig. 4 veranschaulicht diese Funktion für das Klimagebiet A.

Die Integration dieser Kurve von d0 bis oc, aufgetragen als Funktion von d0, liefert die gesuchte mittlere Anzahl Z der Lawinenanrisse pro Jahrhundert, die gleiche oder größere Mächtigkeiten aufweisen als ein beliebig gewählter Abszissenwert d0. Fig. 5 veranschaulicht diese Kurve für die Klimagebiete A und B. Da in Fig. 2 für das Klimagebiet B der halbe Niederschlagswert von A über den ganzen Bereich von d angesetzt wurde, erscheint auch im Endresultat für B ein auf die Hälfte reduzierter Wert von Z.

3. Interpretation und Schlußfolgerungen

In Fig. 6 ist der vor allem interessante Abszissenabschnitt der Fig. 5 mit d0> 100 cm noch in anderem Maßstab dargestellt. Es handelt sich um die Anrißmächtigkeit seltener, katastrophaler Lawinen. Lawinen mit Anrißmächtigkeiten von 140 cm und mehr werden im Gebiet A im Mittel 2mal pro Jahrhundert zu erwarten sein, im schneeärmeren Gebiet B dagegen nur 1mal.

Wenn man umgekehrt von der Frage ausgeht, welche Anrißmächtigkeit nicht mehr als durch schnittlich einmal pro Jahrhundert erreicht oder übertroffen wird, findet man für das Gebiet A den Wert 152 cm und für das Gebiet B 139 cm.

Wenn sich also die Aufgabe stellt, für die Gebiete A und B Gefahrenkarten zu zeichnen, in de nen die lawinengefährdete blaue Zone gegen die weiße (oder gelbe) Zone durch die Bestimmung abgegrenzt werden soll, daß die Zonengrenze beispielsweise nicht häufiger als 1mal im Mittel pro Jahrhundert durch Lawinen erreicht werden darf, muß im Gebiet A eine Auslaufstrecke (= Zo nengrenze) mit der Anrißmächtigkeit 152 cm berechnet werden, im Gebiet B dagegen nur mit 139 cm. Es wird dabei vorausgesetzt, daß beide Anrißzonen A und B gleich steil sind. Das weiße (gelbe) Gebiet kann von Lawinen überführt werden, aber nach der getroffenen Annahme seltener als einmal im Jahrhundert. Sollte dieses Risiko zu hoch erscheinen, und wollte man auf 500 Jahre hinaus Ruhe haben, wären Anrißhöhen von 175 cm und 160 cm zur Berechnung der Zonengrenzen in A, bzw. B anzusetzen.

Auf diese Weise kann durch angemessene Variation der Anrißhöhe in verschiedenen Klimage bieten die gleiche Risikoskala in den Gefahrenkarten erreicht werden.

Welches Restrisiko im Randgebiet der gelben oder weißen Zone verbleiben darf, ist grundsätz lich eine politische Ermessensfrage und soll hier nicht diskutiert werden.

Die rote Zone wird nach gegenwärtiger Praxis, wie erwähnt, primär aufgrund der rechnerischen Druckwirkung von 3 t/m2 einer bis zur blauen Zonengrenze auslaufenden Lawine gezogen. Diese 3 t/rn2 werden also gleich häufig erreicht wie die Uberflutung der blauen Zone. Die zusätzliche Auflage, wonach Gebiete, die häufiger als alle dreißig Jahre von Lawinen überfahren werden, ungeachtet der Druckwirkungen als rot zu klassieren sind, kann mit der 3-t/m2-Grenze in Konflikt geraten, Nach Fig. 6 wäre einer Lawine mit 30 Jahren mittlerer Wiederkehrdauer (Frequenz 3,3/

Jahrhundert) eine Anrißmächtigkeit d0von 1~0 cm zuzuordnen, Eine Auslaufstrecke, mit diesem Wert berechnet, liefert also einen Punkt der roten Zonengrenze basierend auf der Zusatzbestim mung. Der unabhängig davon berechnete 3~t/m2~Punkt der 300jährigen Lawine kann weiter berg wärts oder talwärts liegen, je nach den Verhältnissen. Man wird im Sinn erhöhter Sicherheit die Zonengrenze durch den tiefer gelegenen Punkt ziehen.

Eingangs wurde erwähnt, daß die primäre Anrißfläche für das Anrißvolumen und die Auslauf strecke mitbestimmend ist. Letzteres trifft zu, wenn sich die Lawinenbahn verengt (Runsenlawine).

Es ist in Betracht zu ziehen, daß bei gleichen topographischen Bedingungen in schneereichen Ge

bieten u. U. größere Anrißflächen aktiviert werden, als in schneearmen. Der Einfluß des Schnee-reichtums beschränkt sich also nicht ausschließlich auf die Anrißmächtigkeiten, was von Fall zu Fall zu beachten ist.

Die ganze Betrachtung wurde weitgehend auf fiktive Zusammenhänge aufgebaut, und es stellt sich die berechtigte Frage, wie man zu konkreten Unterlagen gelangen kann. Auf lange Frist wird die Statistik der Schneefalldaten und der Anrißhöhen Werte zu den gesuchten Funktionen bei steuern. Auch schneemechanische Experimente können Beiträge erbringen. Für die Gegenwart muß man sich weiterhin auf Erfahrungswerte von Anrißmächtigkeiten aus Katastrophengebieten stützen, oder solche aus extremen Auslaufstrecken rückwärts berechnen, Wesentlich ist zunächst, daß man zwischen schneereichen und schneearmen Gebieten eine vernünftige Abstufung in der Anrißmächtigkeit von Lawinen gleicher Häufigkeitskategorie vornimmt, oder innerhalb einer Kli maregion eine solche Variation berücksichtigt, wenn Lawinen verschiedener Häufigkeit zu behan deln sind.

Abschließend sei noch einmal davor gewarnt, die als fiktive Beispiele angeführten Kurven und Zahlenwerte, die nur zur Erläuterung des Prinzips dienen, quantitativ anzuwenden.

162

F. Hinweise auf weitere w~ihrend des Berichtsjahres 1972/73