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Gesundheit als Voraussetzung

Im Dokument › Arbeits(un)fähigkeit herstellen (Seite 102-107)

Praktiken und Logiken der Aushandlung von

5 Zum Einstieg – drei exemplarische Fallanalysen

5.1 Platzzuweisung über Körper und Gesundheit – Frau Pekay 30

5.1.3 Gesundheit als Voraussetzung

Zum geplanten Antritt der Praktikumsstelle wird es im Falle Frau Pekays nicht kommen, denn wieder erfährt der Fall eine Wende: Frau Pekay erleidet wenige Tage vor Beginn ihres Praktikums einen Bandscheibenvor-fall und wird von ihrem Hausarzt krankgeschrieben. Der Coach reagiert auf dieses Ereignis in einer Art und Weise, die durch seinen Arbeitsauftrag der Arbeitsintegration geprägt ist: Er möchte, wie er der Klientin im folgenden Coachinggespräch sagt, „das Problem verstehen“, wohl um einschätzen zu können, wie weitreichend die aufgetretene Diskushernie das Ziel der beruflichen Integration der Klientin beeinflussen könnte. Für ihn ist die Frage zentral, ob Frau Pekays „Rückenprobleme“ es ihr verunmöglichen, einen „Beruf“ im Pflegebereich auszuüben. Dies kommt auch im Interview zum Ausdruck, wo er sagt: „Und es ist klar, wenn sie mit Patienten arbeiten möchte, dann muss sie einen stabilen Rücken haben, also das ist eigentlich die Voraussetzung.“ Mit anderen Worten: Aus der Perspektive Herrn Bohrers ist weniger entscheidend, dass Frau Pekay für einige Wochen ärztlich krank-geschrieben ist; für ihn zählt mehr, dass das für sie anvisierte Berufsfeld der Pflege mit einem grundsätzlich anfälligen Rücken nun möglicherweise nicht mehr in Frage kommt. Diese – institutionell geprägte – Perspektive auf die Erkrankung kann als „naturalistisch-funktionalistisch“ (Lenk 2006, 65) und fragmentierend bzw. parzellierend (vgl. Schroer 2005) bezeichnet werden,

denn sie rückt die Funktionseinschränkung ins Zentrum und ‚zerlegt‘ den Körper der Klientin in einen „kranken“ Rücken und einen gesunden Rest.39

Im weiteren Verlaufe des Gesprächs schliesst der Coach dann die Option ‚Praktikum‘ und ‚Pflege‘ bereits weitgehend aus. Er sagt zu Frau Pekay, sie könne das Praktikum nicht antreten, da sie dort „Hand anlegen“ müsse und fügt an: „Mit alten Menschen müssen Sie mit dem Körper arbeiten.“ Wie es seinem institutionellen Auftrag entspricht, ist für den Coach relevant, was Frau Pekay körperlich leisten kann – und was nicht. Ihre akuten Rückenpro-bleme sind für ihn also nicht primär ein Hinweis auf temporäre Arbeitsunfä-higkeit, sondern vielmehr auf einen chronisch instabilen Rücken und damit ein Indikator dafür, dass sich die Klientin für bestimmte Arbeitsmarktsektoren nicht eignet. Im Interview, das nach Abschluss des Coachings geführt wurde, bezeichnet er dieses ‚Ergebnis‘ als Erfolg:

„Erfolg in dem Sinn, also es hat sich einiges geklärt während dieser Zeit: Ihre Idee war ja ursprünglich, in die Pflege arbeiten zu gehen.

Und das hat sich dann herausgestellt, dass das aus gesundheit-lichen Gründen nicht möglich ist.“ (Interview mit Herrn Bohrer, Coach ZBE)

Eine berufliche Option, die Frau Pekay vor nur wenigen Monaten noch hätte erschlossen werden sollen, wird nun ausgeschlossen, unter Rekurs auf die Gesundheit der Klientin. Ein gesunder Körper wird gleichsam zur Voraus-setzung, um als beschäftigungsfähig und investitionswürdig wahrgenommen zu werden.

Der der Klientin anfänglich zugeschriebene Status als “employable”

wird nach und nach in Frage gestellt, und zwar im Kontext gesundheitlicher Einschränkungen wie einer Operation, psychischer Probleme und einer Rückenerkrankung. Diese Beeinträchtigungen der Gesundheit werden als Einschränkung der Beschäftigungsfähigkeit Frau Pekays wahrgenommen, was mehrere „Abklärungen“ wie ein Vertiefungsassessment und ein Praktikum nach sich zieht. Bei diesen Abklärungen geht es in der Logik des investieren-den Sozialstaats darum, das Risiko einer ‚Fehlinvestition‘ möglichst gering zu halten. Eine Fehlinvestition wäre gemäss dieser Logik die Ermöglichung einer Ausbildung, die die Klientin anschliessend nicht verwerten kann, weil es bei-spielsweise ihre Gesundheit nicht erlaubt. Bei Frau Pekay bestehen Zweifel, ob der zur Diskussion stehende „Pflegehelfer-Kurs“ finanziert werden soll,

39 Das erinnert auch an den „klinischen Blick“, wie ihn Foucault (2008) rekonstruierte.

da ihre psychische Verfassung und ihre Rückenerkrankung es ihr in Zukunft möglicherweise gar nicht erlauben, diese Investition in ihr Humankapital adäquat zu verwerten. Gesundheitliche Einschränkungen werden zum ent-scheidenden Faktor, wenn es um die Rentabilität einer Investition geht (siehe dazu auch Kapitel 8).

Doch was heisst das für die Klientin und ihre Sozialposition? Mit dieser Mikropolitik arbeiten die untersuchten Institutionen an der sozialen Positio-nierung der Klient_innen mit und reproduzieren soziale Ungleichheit. Dass

‚objektive‘ gesundheitliche Einschränkungen von Vertreter_innen sozial-staatlicher Agenturen opportunistisch genutzt werden können, um gewisse Optionen der Klient_innen auszuschliessen (vgl. Nadai/Canonica/Koch 2015) und damit zugleich soziale Positionierungen zu (re-)produzieren, zeigt der Umstand, dass der Coach im Interview eine Tätigkeit als Reinigungsmitar-beiterin durchaus als berufliche Option für Frau Pekay betrachtet – obwohl diese Tätigkeit keineswegs schonender für Pekays Rücken sein dürfte.

5.1.4 „Zurzeit nicht vermittelbar“

Einige Wochen später erfährt Herr Bohrer per Telefon von Frau Pekays Psychotherapeutin, dass seine Klientin schwanger sei. Frau Pekay wurde, wie sie im darauffolgenden Coachinggespräch sagt, von ihrer Schwangerschaft

„überrascht“. Sie stellt diese damit als nicht geplant oder gewählt dar. Auch die Schwangerschaft der Klientin wird in der Folge vom Coach als „Handi-cap“ (vgl. Castel 2008) bzw. als Vermittlungshemmnis konstruiert. Der Coach schliesst den Fall für das Empfinden der Klientin und auch der Forscherin relativ abrupt ab, mit der gegenüber der Forscherin informell geäusserten Begründung, die Klientin habe „das“ (die Schwangerschaft) ja so gewählt und die berufliche Integration gehe bei ihr aus diesem Grund jetzt nicht mehr. Denn die Klientin sei „zurzeit nicht vermittelbar“. Vermittelbarkeit ist aber ein zentrales Kriterium, um ein „Fall“ für die Arbeitsintegration zu sein.

Dahinter steckt ein institutionalisierter ‚Schonraum‘ für Mütter mit kleinen Kindern: Die Sozialhilfe im Standortkanton des Zentrums für berufliche Eingliederung nimmt Mütter von der Arbeitspflicht aus, bis ihr jüngstes Kind drei Jahre alt ist.40

Die Aussagen des Coachs erwecken den Eindruck, Frau Pekays ‚Körper-einsatz‘ (ihre Rückenschmerzen just zum Zeitpunkt des Praktikumsbeginns

40 Die Altersgrenze ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Tendenziell ist sie in den letzten Jahren gesunken (vgl. Nadai/Hauss/Canonica 2013).

und ihre Schwangerschaft während des Prozesses der beruflichen Einglie-derung) folgten einer (bewussten oder unbewussten) Strategie. Daraus kann gefolgert werden, dass Frau Pekays Eingliederungscoach ihr erheblich mehr Handlungskompetenz zuschreibt als sie sich selbst. Dies mag mit dem vom Coach mehr oder weniger verinnerlichten Paradigma aktivierender Sozialar-beit zusammenhängen, das von einem ‚autonomen‘ Subjekt ausgeht. Auch im Gesundheitssektor ist eine Perspektive auf Gesundheit, die diese als machbar konzipiert, weit verbreitet (vgl. Schmidt 2008). Aus dieser Perspektive muss praktisch jede Handlung bzw. Veränderung der Situation der Klientin als eine aktive und rationale Strategie erscheinen. Ihre Schwangerschaft könnte – in den Augen des Coachs – als eine Art ‚somatische Strategie‘ gelesen werden, dank der sie sich gewissen Zwängen entziehen kann, beispielsweise dem Druck, Arbeit zu suchen.

So oder so durchkreuzt die Schwangerschaft – respektive ihre insti-tutionelle Übersetzung in ein „Moratorium“ für Mütter mit Kindern, die jünger als drei Jahre sind – den Imperativ der Arbeitsintegration – weshalb Herr Bohrer den Fall Frau Pekays auch sehr schnell abschliesst. Der rasche Abschluss erklärt sich ferner auch aus dem Umstand, dass die sozialstaat-lichen Integrationsagenturen durch ihre „Fixierung auf den Arbeitsmarkt“

(Möhle 2005) auf eine rasche statt nachhaltige und zeitaufwändige berufliche Integration setzen. Diese hätte sich während der Schwangerschaft und der Mutterschaftspause planen und im Anschluss an diese auch angehen lassen.

Durch den Abschluss des Eingliederungsprozesses rückt der Arbeitsmarkt für die Klientin noch ein Stückchen weiter weg. Dies verweist auf eine verge-schlechtlichte Sozialpolitik: Priorität hat im Fall von Schwangeren und von Müttern mit Kleinkindern nicht die „Re-Kommodifizierung“ der Arbeitskraft der Klientinnen, sondern ihre „Ent-Kommodifizierung“ (vgl. Ostner 1995):

Frau Pekay wird von der beschäftigungs- und arbeitsfähigen Stellensuchen-den zur schonungsbedürftigen Schwangeren bzw. Mutter. So sagt ihr Coach im Interview:

„Ich denke, ihre zwei Kinder, das ist im Moment das Wichtige, dass sie Mutter ist und zu ihren Kindern schaut. Was dann in zwei Jahren –, sie kann in der Sozialhilfe –, bis drei [bezieht sich auf das Alter des jüngsten Kindes], kann sie zuhause sein als Mutter.“

(Interview mit Herrn Bohrer, Coach ZBE)

Dieser Verweis auf eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung wird an einer anderen Stelle im Interview mit Herrn Bohrer untermauert. Nach einer Prognose zum weiteren Fallverlauf gefragt, verweist der Coach auf den in der Türkei lebenden Vater des zweiten Kindes, der nach einem Umzug in die Schweiz möglicherweise als „Ernährer“ der Familie fungieren könne, so dass Frau Pekay selbst „gar nicht mehr arbeiten gehen muss“. Obwohl anzu-nehmen ist, dass der Vater des zweiten Kindes, der in der Türkei lebt und wohl kaum über Deutschkenntnisse und Arbeitserfahrung in der Schweiz verfügt, auf dem hiesigen Arbeitsmarkt wohl noch weniger Chancen haben wird als Frau Pekay, liegt für den Coach offenbar ein traditionelles Familienmodell nahe.41 Damit wird impliziert, dass für Frau Pekay der nächstliegende Weg aus der Sozialhilfeabhängigkeit die Heirat eines ‚Alleinernährers‘ sei – eine „Nor-malisierung ihrer Familienkarriere“ ist in den Augen des Coachs realistischer als die „Normalisierung der Erwerbskarriere“ (Leibfried et al. 1995, 171).42

Damit scheint zumindest teilweise immer noch zuzutreffen, was die feministische Wohlfahrtsstaatsforschung vor allem im angelsächsischen Sprachraum schon vor längerem festgestellt hat: „Frauen, sagen amerika-nische Feministinnen mit Blick auf die Lebenschancen der meisten Frauen in westlichen Ländern, seien ‘a husband away from poverty’, ‚einen Ehe-mann weit von der Armut entfernt‘“ (Ostner 1995, 3). Was die feministische Wohlfahrtstaat-Debatte fordert, nämlich „staatliche Ausstiegsoptionen für die besondere Situation von Frauen“ (Ostner 1995, 5), die deren besondere Verwundbarkeit berücksichtigen und ihre soziale und ökonomische Unab-hängigkeit (von Ehemännern) zu stärken vermöchten, wird hier gleichsam ins Gegenteil verkehrt: Nicht der Sozialstaat soll vor der Abhängigkeit vom Ehemann, sondern der (zukünftige) Ehemann vor der Abhängigkeit vom Sozialstaat schützen.

Diese Konzeption der Klientin steht im Widerspruch zum eingangs skizzierten Modell des “adult worker”, das an Frauen und Männer und an Väter und Mütter dieselben Ansprüche stellt. Wie zwei Studien kürzlich

41 Was die Verteilung von Erwerbsarbeit unter den Geschlechtern anbelangt, deckt sich die Einschätzung des Coachs mit Studien, die zeigen, dass nach wie vor vor allem Männer „Normalarbeitsverhältnisse“ eingehen, während weibliche Erwerbsarbeit von Teilzeitarbeit, befristeter Beschäftigung, geringfügiger Beschäftigung und temporären Unterbrüchen geprägt ist (vgl. BFS/EBG 2008).

42 Studien zeigen, dass eine „Normalisierung ihrer Familienkarriere“ als (einfachere) Möglichkeit für Frauen gilt, von Sozialhilfe unabhängig zu werden, da für sie die „Nor-malisierung der Erwerbskarriere“ (Leibfried et al. 1995, 171) tendenziell schwieriger ist als für Männer (vgl. Gebauer et al. 2002; Mädje/Neusüss 1996; Schultheis 1987).

gezeigt haben, finden sich bezüglich der Gleichstellung von Frauen respektive der Geschlechtergerechtigkeit ambivalente Logiken in der Sozialhilfe (vgl.

Nadai/Hauss/Canonica 2013; Keller/Modak/Messant-Laurent 2013). Ähnli-ches kann auch für das hier untersuchte Feld konstatiert werden.

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