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8 „Dafür brauchen Sie einen gesunden Rücken“ – Gesundheit als Selektionskriterium

Im Dokument › Arbeits(un)fähigkeit herstellen (Seite 196-200)

Sozialverwaltungen leiden unter chronisch knappen Mitteln. Daher sind sie genötigt, ihre Mittel möglichst effizient und effektiv einzusetzen (Dahme/Wohlfahrt 2008). Das gilt erst recht für den „investierenden Sozial-staat“ (vgl. Esping-Andersen 2002; Lessenich 2012), der seine Investitionen so lohnend wie möglich einsetzen möchte, wozu er eine Selektion betreiben muss (vgl. Nadai/Hauss/Canonica 2013): Gemäss dieser Logik muss er jene Klient_innen, von denen angenommen wird, eine Investition in sie würde sich zu einem späteren Zeitpunkt ausbezahlen – also die „Bodensatzrosinen“, wie ein Coach in unserem Forschungsfeld es ausdrückt –, von den anderen, die als wenig ‚investitionswürdig‘ erscheinen, unterscheiden. Wie wird bei dieser „Selektionsarbeit“ vorgegangen, welche Praktiken und Logiken finden sich und welche Funktion kommt dabei der Gesundheit der Klient_innen zu?

Zunächst erläutere ich, wie das Personal der beiden erforschten Arbeitsintegrationsagenturen seine Aufgabe hinsichtlich gesundheitlich eingeschränkter Klient_innen wahrnimmt und beschreibt (Kapitel 8.1).

Ärztliche Einschätzungen der Arbeits(un)fähigkeit der Klient_innen reichen dem Personal als (empirische) Basis zur Einschätzung der ‚Integrierbarkeit‘

der Klient_innen nicht immer aus, da medizinische Gutachten selten explizit auf den Arbeitsmarkt Bezug nähmen. Das Personal ergänzt das ‚Bild‘ über die Klient_innen daher durch weitere „Abklärungen“: Insbesondere sogenannte Arbeitsversuche im Rahmen von „Beschäftigungsprogrammen“ oder im ersten Arbeitsmarkt sollen darüber Aufschluss geben, was die Klient_innen

„wirklich noch können“. Das führt mitunter dazu, dass berufliche Optionen für Klient_innen wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ausge-schlossen werden.

Darauf aufbauend zeige ich im folgenden Kapitel (8.2), welche Rolle gesundheitliche Einschränkungen der Klient_innen spielen können, wenn es um die Finanzierung von Weiterbildungen geht. Anhand der gemachten Beobachtungen wird die These einer Flexibilisierung der Gesundheit von Klient_innen durch das Personal entwickelt.

Schliesslich wird in Kapitel 8.3 der Frage nachgegangen, welche Funk-tion der Gesundheit beim Ausschliessen bestimmter beruflicher OpFunk-tionen und beim „Abschliessen“ von Fällen zukommt. Mittels eines Fallbeispiels arbeite ich heraus, inwiefern durch die Sichtbarmachung von

Arbeitsunfähig-keit und von gesundheitlichen Einschränkungen eine „strategische Funktio-nalisierung“ (Menz 2008, 92) von Gesundheit stattfindet, wenn sich Fälle als

„nicht vermittelbar“ und damit als nicht mehr „bearbeitbar“ herausstellen.

8.1 „Wir müssen sie davon wegbringen“ – Gesundheit und Ausschluss beruflicher Optionen

Ärztliche Einschätzungen der Arbeits(un)fähigkeit der Klient_innen sind zwar für die ‚Integrationsarbeit‘ des Personals zentral (siehe dazu Kapitel 6), sie reichen gemäss den Aussagen des Personals als Basis zur Einschät-zung der ‚Integrierbarkeit‘ der Klient_innen allerdings selten aus. Das hat unterschiedliche Gründe: So sind ärztliche Berichte für Laien nur schwer zu verstehen und bedürfen daher einer ‚Übersetzung‘, um anschlussfähig an die Aufgabe der Arbeitsintegration zu sein. Ferner beziehen sich medi-zinische Einschätzungen zwar auf berufliche Tätigkeiten, sie orientieren sich aber selten an der Arbeitsmarktlage, die für die Berater_innen in der Arbeitsintegration allerdings den zentralen Massstab darstellt, wenn es um die Beurteilung der Integrierbarkeit oder der Arbeitsmarkttauglichkeit der Klient_innen geht. Im Folgenden gehe ich zunächst der Frage nach, welcher Übersetzungsprozesse medizinische Einschätzungen bedürfen und was das Personal im Kontrast und in Ergänzung zum „klinischen Blick“ (Foucault 2008) als seine eigene Aufgabe beschreibt, bevor ich skizziere, welche Mittel dem Personal zur Erfüllung seiner zentralen Aufgabe, die Arbeitsmarktfähig-keit der Klient_innen zu beurteilen, zur Verfügung stehen.

Eine Personalberaterin eines Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) der Arbeitslosenversicherung im Standortkanton von Matrix stellt im Interview klar, sie sei „keine Medizinerin“, um auszuführen, dass sie die Arbeits(un)fähigkeit von gesundheitlich eingeschränkten Personen nicht einschätzen könne. Sie führt im Interview ausserdem aus, dass es dazu nicht nur eines spezifischen medizinischen Fachwissens bedürfe, sondern dass Mediziner_innen zudem ein kodiertes bzw. kodifiziertes Fachvokabular ver-wendeten (vgl. auch Atkinson 1995), das zu verstehen Laien oftmals kaum möglich sei. Sie ist deshalb froh, dass durch nicht-medizinisches Personal der Invalidenversicherung eine Art Übersetzung in eine – für versicherungs-rechtlich geschulte Personen – verständliche Sprache erfolge.

„Medizinische Berichte können 750-seitige Berichte sein. Das sprengt meinen zeitlichen Rahmen und auch mein Fachwissen, ja ich verstehe das auch nicht alles und da bin ich immer froh,

wenn die Invalidenversicherung dann in Kurzversion ihren Stand mitteilt. Das sind nicht Ärzte, die mir das mitteilen, sondern das sind Personen wie ich, die einfach vom Versicherungstechnischen sagen: ‚Ja, das ist das, das sind die und die Einschränkungen, die haben wir erkannt und das ist der Werdegang und wir stehen heute an dem Punkt, können sagen, das und das und das ist mög-lich, und das und das und das ist nicht möglich. Wir sehen diese Schwierigkeit und wir haben ihn so erlebt.‘“ (Interview mit einer Mitarbeiterin eines RAV)

Zur Rezeption medizinischer Unterlagen braucht es spezifische Kom-petenzen – und ausserdem Zeit. Diese Personalberaterin ist deshalb auf die Arbeit der Invalidenversicherung angewiesen, welche nicht nur eigene medizinische Untersuchungen und Einschätzungen durch den Regionalärzt-lichen Dienst (RAD) vornehmen lassen kann, sondern auch die Rezeption medizinischer Unterlagen und deren Zusammenfassung und Übersetzung in eine versicherungstechnische Fachsprache vornimmt. Der Fokus der Invalidenversicherung liegt dabei – in den Worten der RAV-Mitarbeiterin – auf der Bestimmung und der Einschätzung der Einschränkungen und der Möglichkeiten der Klient_innen.

Der Übersetzungsbedarf medizinischer Berichte in eine „Versiche-rungssprache“ wird auch von einem anderen Mitarbeiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums angesprochen:

„Die Mediziner machen die Abklärungen und die Invalidenversi-cherung hat dann Spezialisten, die diesen medizinischen Bericht in die Versicherungssprache und in die Stellensuchsprache über-setzen. ((lachen)) Das ist kompliziert. ((lachen)) Die medizinischen Berichte muss man richtig interpretieren können und das macht die Invalidenversicherung. Die müssen diesen medizinischen Be-richt in die Versicherungssprache übersetzen, sodass sie beurteilen können, was ist möglich. Und diesen Bericht bekommen wir dann.“

(Interview mit einem Mitarbeiter eines RAV)

Hinter den unterschiedlichen „Sprachen“ verbergen sich unterschiedli-che Logiken der involvierten Institutionen und Berufsgruppen. Zur medizini-schen Logik und der Versicherungslogik gesellt sich diejenige der beruflichen Integration, die hier als „Stellensuchsprache“ bezeichnet wird.

Ärztliche Zeugnisse und Berichte sind für die Coachs, Assessor_innen und Case Manager_innen also Anhaltspunkte, um einschätzen zu können, welchen Tätigkeiten ihre gesundheitlich eingeschränkten Klient_innen noch nachkommen können. Diese Zeugnisse bedürfen aber einer Interpretation, zum Teil gar einer „Übersetzung“. Während der „medizinische Teil“ Sache von Mediziner_innen beziehungsweise der Invalidenversicherung ist, sehen sich die untersuchten Arbeitsintegrationsagenturen für andere Teile des Falls zuständig. So sagt ein Personalberater eines RAV:

„Im Prinzip der Umschulungsteil, was der Klient für Alternativen hat auf dem Arbeitsmarkt, das ist eigentlich nicht unbedingt unser Teil hier. […] Die IV-Berufsberatung ist sehr umfassend, dort wer-den Eignungstests gemacht und die kennen die Berufsfelder und Berufsbilder viel detaillierter als wir. Aber das Problem ist dann der Arbeitsmarkt, das ist ein anderer Teil. Die schauen: Was gibt es, was kann man machen, welche Alternativen gibt es. Aber der Arbeitsmarkt wird in diesem Teil eben zu wenig berücksichtigt.

[…] Die Leute kommen von der Berufsberatung der IV und wissen dann den Bereich. Und wir sind dann die, die den Arbeitsmarktteil anschauen. Wir nehmen entgegen, was die Leute von der Berufs-beratung bekommen haben, und schauen dann, wie passt das mit dem Arbeitsmarkt zusammen.“ (Interview mit einem Mitarbeiter eines RAV)

Die Einschätzung der Arbeits(un)fähigkeit und der Vermittelbarkeit erschöpft sich nicht in dieser „medizinischen Sicht“ – denn es handelt sich dabei nicht um Konzepte, die rein medizinischer Natur sind. Der Fall wird durch die Arbeitsteilung respektive die Segmentierung im System der sozialen Sicherung gleichsam fragmentiert: Er weist neben dem medizinischen Teil einen Versicherungsteil bzw. einen „Umschulungsteil“ und einen „Arbeits-marktteil“ auf. Der Umschulungsteil, „was der Klient für Alternativen hat auf dem Arbeitsmarkt“, liegt in der Zuständigkeit der IV-Berufsberatung, während das RAV als verantwortlich für den „Arbeitsmarktteil“ gesehen wird:

„Wir nehmen entgegen, was die Leute von der IV-Berufsberatung bekommen haben, und schauen dann, wie passt das mit dem Arbeitsmarkt zusammen.“

Sowohl private Krankentaggeldversicherungen als auch die Regional-ärztlichen Dienste, die mit der Invalidenversicherung zusammenarbeiten, abstrahieren explizit vom konkreten Arbeitsmarkt in der Schweiz

beziehungs-weise gehen sie grundsätzlich von einem „ausgeglichenen Arbeitsmarkt“ aus, denn die Erwerbsfähigkeit wird „medizinisch-theoretisch“ festlegt – und eben nicht in Bezug auf die faktische Arbeitsmarktlage. Das lässt sich sehr gut an einer Sequenz im Erstgespräch zwischen der Sozialberaterin Frau Favre und dem Ehepaar Eren verdeutlichen (siehe dazu auch Kapitel 6.1):

Nachdem Frau Eren, die Ehefrau des Klienten, auf Nachfrage der So-zialarbeiterin Frau Favre ausführt, dass ihr Mann so eingeschränkt sei, dass er nicht einmal Hausarbeit machen oder ihr Kind betreuen könne, fragt Frau Favre weiter: „Sie hatten ja Krankentaggelder eines privaten Versicherers zu Beginn Ihrer Krankheit. Ist da mal eine IV-Anmeldung besprochen worden?“ Frau Eren antwortet:

„Nein. Der private Versicherer hat meinem Mann nicht geglaubt und hat ihn zum Vertrauensarzt geschickt. Dort musste er Tests machen, Nägel von der Tischplatte hochheben. Kleine, leichte Nä-gel. Das kann doch jeder! Nicht etwas Schweres. Mein Mann hat es gemacht. Da haben sie gesagt, er ist 100% arbeitsfähig bei leichter Arbeit. Aber diese leichte Arbeit gibt es nicht. Mein Mann ist halt ein Ruhiger, er wehrt sich nicht, sagt nichts, wenn er Schmerzen hat. Ich verstehe das manchmal nicht, sage ihm, er müsse sich halt auch wehren und sagen, wenn es weh tut. Der private Versicherer hat ja dann die Krankentaggelder abgelehnt.“ Frau Favre entgeg-net: „Ich kann das noch nachvollziehen. Diese Bewegung mit den Nägeln entspricht dem, was man bei einer leichten Arbeit macht.“

Frau Eren sagt: „Aber er kann nicht länger als eine Viertelstunde sitzen oder stehen.“ (Beobachtungsprotokoll)

Aufgrund des Ergebnisses eines Tests (Herr Eren kann sitzend leichte Nägel hochheben) folgert der private Versicherer, dass Herr Eren leichte Arbeit verrichten könne. Dieser Befund kollidiert mit Frau Erens Einschät-zung der Leistungsfähigkeit ihres Mannes, den sie bei alltäglichen Verrich-tungen als stark eingeschränkt wahrnimmt. Es lässt sich an diesem Beispiel sehen, dass die Bestimmung der Gesundheit des Klienten von verschiedenen Seiten vorgenommen wird und Gegenstand eines Interpretationskampfes ist („er wehrt sich nicht“). Der Arbeitsmarkt mit seiner konkreten Ausprägung und seinen Opportunitäten wird explizit nicht berücksichtigt bei dieser Art von Test. Denn diese „Beobachtungspraxis“ (Kelle 2010, 19) fokussiert primär auf einzelne Körperfunktionen und segmentiert den Körper damit gleichsam

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