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Aktivierung „gesundheitlich eingeschränkter Erwerbsloser“? – Forschungsdesiderat und Erkenntnisinteresse

Im Dokument › Arbeits(un)fähigkeit herstellen (Seite 62-66)

Krankheit unterliegt soziohistorischen Definitionsprozessen; wer oder was als krank beziehungsweise als arbeitsunfähig und wer oder was als gesund oder als arbeitsfähig gilt, ist nicht ‚objektiv‘ zu ‚messen‘, sondern Produkt sozialer Aushandlungen und Problematisierungen. Dies kommt im Konzept der „Handicapologie“ des französischen Soziologen Robert Castel (2008) zum Ausdruck: Damit meint er den Katalog an Behinderungen und Einschränkungen, welche ein Individuum von der Verpflichtung ausneh-men, seine Existenz selbst zu sichern. Dieser Katalog entscheidet darüber, welche Einschränkungen als ausgleichsbedürftig respektive als zumutbar gelten und wer in der Folge als „würdige_r“ oder als „unwürdige_r“ Klient_in wahrgenommen wird.

20 Das Argument der „kostenintensiven“ Fälle ist bei genauerer Betrachtung paradox, da sich die „Kostenintensivität“ eines Falles nie mit völliger Sicherheit voraussagen lässt.

Sie kann erst retrospektiv mit Bestimmtheit festgestellt werden: dann, wenn ein Fall tatsächlich hohe Kosten verursacht(e). Dennoch verlangt die auch durch Dean (1995) beschriebene Politik (präventiver) Verhinderung von Kosten solche Vorhersagen, die ih-rerseits bestimmter Techniken und Instrumente (insbesondere Assessments und allerlei Tests) bedürfen, um die in Frage stehende Gruppe Arbeitsloser möglichst „korrekt“ zu klassifizieren. Beispielsweise Rudolph (2001) äussert sich programmatisch-affirmativ zur „Früherkennung des Risikos von Langzeitarbeitslosigkeit“.

Arbeits(un)fähigkeit ist insofern ein soziales Konstrukt, als ihre Bestimmung in einem ganz konkreten sozialen Kontext stattfindet: Welche gesundheitlichen Phänomene als die Arbeitsfähigkeit teilweise oder ganz einschränkend bewertet werden, hängt nicht nur von biopsychosozialen Fak-toren des betroffenen Menschen (seiner sozialen Position, seines Lebenslaufs, seiner Arbeitsbiografie und anderem), sondern ebenso vom gesellschaftlich-politischen Kontext und der fachlichen Perspektive (bspw. der Medizin, des Rechts oder der Sozialen Arbeit) auf die Einschränkung ab. Die soziale Kon-struiertheit von Arbeits(un)fähigkeit ergibt sich daraus, dass gesellschaftlich definiert wird, was Arbeit ist, wer wann wie viel arbeiten muss oder davon ausgenommen ist. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Produktivität und von Leistung sind normative Ideen, die sich wiederum in rechtlichen, ökono-mischen und medizinischen Konzepten von Arbeits- und Leistungsfähigkeit niederschlagen. Das Aushandeln und damit das Herstellen von Arbeits(un) fähigkeit, die in dieser Arbeit in den Blick genommen werden, finden nicht im luftleeren Raum statt: Vielmehr sind diesen Praktiken Grenzen gesetzt, die zum einen durch die erwähnten normativen gesellschaftlichen Vorstellungen und Wertorientierungen und zum anderen durch die – damit zusammenhän-genden – rechtlichen, ökonomischen und medizinischen Bestimmungen von Arbeits(un)fähigkeit gesteckt werden.

Dieses Verständnis von Arbeits(un)fähigkeit wird hier mithilfe eines soziohistorischen Abrisses und unter Rückgriff auf Castels Konzept der

„Handicapologie“ entwickelt. Im Anschluss daran lässt sich fragen, wie die Bewertung von Arbeits(un)fähigkeit im heutigen Sozialstaat vorgenommen wird. Dazu bedarf es zunächst einer näheren Bestimmung dieses Sozialstaats:

Dieser wird hier als „aktivierend“ und „investierend“ beschrieben. Zentrale Elemente der so gefassten Sozialpolitik sind die Unterstellung von „Passivität“

und von „Aktivierbarkeit“ sowohl gegenüber arbeitslosen Individuen als auch gegenüber den Institutionen der sozialen Sicherung. Diese Sichtweise geht mit der Zuschreibung von Eigenverantwortung an die betroffenen Menschen einher: Nicht nur ihre Erwerbslosigkeit sollen sie aktiv angehen, sondern zunehmend gelten auch die Gesundheit und der Körper als individuell gestaltbar (vgl. Schmidt 2008). Denn ein zentrales Konzept der beschriebenen Politik ist die „Beschäftigungsfähigkeit“. In Korrelation dazu entpuppt sich als Schlüsselelement der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik die Arbeits(re) integration, denn Erwerbslose sollen (fast) um jeden Preis (zurück) auf den Arbeitsmarkt gebracht werden.

Im Anschluss an diese Ausführungen stellt sich die Frage, wie der aktivierende und investierende Sozialstaat Arbeits(un)fähigkeit konzipiert, bewertet und zuschreibt und wie er mit gesundheitlichen Einschränkungen bei Menschen ohne Erwerbsarbeit umgeht. Um einer Antwort näher zu kom-men, wird hier ein Blick auf die sozialstaatliche Arbeitsintegration geworfen, die zunehmend mit Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen kon-frontiert ist. Forschungsbefunde zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit zeigen auf, inwiefern sich diesbezüglich ein „Teufelskreis“

ergibt, da sich Arbeitslosigkeit negativ auf die Gesundheit auswirken kann, während gesundheitlich angeschlagene Menschen geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Bezug auf solche Forschungsbefunde nehmen sowohl policy-orientierte Schriften wie die referierten der OECD als auch Programme zur (Re-)Integration gesundheitlich eingeschränkter Menschen wie die Interinstitutionelle Zusammenarbeit in der Schweiz.

Was ist nun das Forschungsdesiderat, das sich aus den gemachten Ausführungen ergibt? Die Problematisierung von Arbeits(un)fähigkeit ist aus (sozio)historischer Perspektive bereits erforscht worden, und zur aktivie-renden und investieaktivie-renden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik liegt eine Reihe makro-, meso- und mikrosoziologischer Studien vor, auf die hier punktuell eingegangen wurde. Zu konkreten Programmen der Arbeitsmarktintegration wurden bisher vor allem Evaluationsstudien durchgeführt. Zu fehlen schei-nen jedoch Forschungen, die sich der konkreten Praxis der Problematisierung und Bewertung von Gesundheit und Arbeits(un)fähigkeit und dem Umgang mit gesundheitlich eingeschränkten Menschen in der Arbeitsintegration zuwenden.

Die vorliegende Studie geht daher der Frage nach, wie gesundheitliche Einschränkungen Erwerbsloser bei der (inter-)institutionellen Arbeit an ihrer beruflichen Eingliederung ausgehandelt, konzeptualisiert und bearbeitet werden. Da diese Arbeit auf ethnografischem Datenmaterial einer grösseren Studie basiert, ist das konkrete Forschungsfeld sozusagen vorgegeben: Es handelt sich um zwei Projekte respektive Institutionen, die im Zusammen-hang mit dem Programm der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) entstanden sind, die in der vorliegenden Studie aber primär als Arbeits-integrationsagenturen verstanden werden (siehe zu einer Beschreibung dieser beiden Institutionen Kapitel 4), während die IIZ selbst hier als akti-vierungspolitische Massnahme aufgefasst wird. Denn mit der IIZ wurde in der Schweiz ein sozialstaatliches Programm entwickelt, das Erwerbslose mit

gesundheitlichen und weiteren Problemen in den Arbeitsmarkt integrieren möchte. Im Zuge der vorherrschenden Aktivierungspolitik gelten gewisse Beeinträchtigungen als zumutbar und scheinen die Arbeitsintegration nicht grundsätzlich zu behindern. Das hängt mit einer inhaltlichen Verengung der

„Handicapologie“ zusammen.

Konkret interessiert hier, wie diese „Handicaps“ in einem ganz spezi-fischen Feld, der sozialstaatlichen Arbeitsintegration, produziert, gedeutet, ausgehandelt werden und wie sie zum Ausgangspunkt von Interventionen werden. Ausgehend von der Annahme, dass Konzepte und Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit ebenso wie von Arbeits- und Leistungs-fähigkeit historisch, gesellschaftlich und kulturell wandelbar sind, wird gefragt: In welchen Kontexten und mit welchen Praktiken wird Arbeits(un) fähigkeit beziehungsweise werden gesundheitliche Einschränkungen in den zwei untersuchten Arbeitsintegrationsagenturen sicht- und wahrnehmbar gemacht und problematisiert? Wie werden „gesundheitlich eingeschränkte Fälle“ bearbeitbar gemacht und welche Strategien und Praktiken werden zu ihrer Bearbeitung angewendet? Was gilt als legitime, zu Unterstützung berechtigende, und was als illegitime, d.h. zumutbare, Einschränkung?

Diese Fragen zielen auf das Herstellen von Arbeits(un)fähigkeit ab:

In diesem Zusammenhang sind die institutionellen Praktiken und Prozesse von Interesse, die den ‚arbeits(un)fähigen Fall‘ organisieren, konstituieren und durch die er bearbeitet wird. Primär betrachte ich also die Arbeit des Personals als Vertreter_innen der untersuchten Institutionen, während die

„Arbeit“ der Klient_innen (vgl. Maeder/Nadai 2004) eher am Rand betrachtet wird. Neben den Praktiken werden ferner die institutionellen und politischen Logiken, die die Arbeit am Fall durchdringen, in den Blick genommen. In den Fokus rücken also weniger die Programmatiken der Arbeitsintegration gesundheitlich eingeschränkter Menschen, sondern vielmehr die “welfare in practice” (Schultheis 2012b, 176): die alltägliche Praxis der untersuchten Institutionen im Hinblick auf Arbeits(un)fähigkeit. Der methodologischen Konzeptualisierung des Gegenstands und der methodischen Vorgehensweise gehe ich im folgenden Kapitel nach.

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