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Forschungsbefunde zu aktivierender und investierender Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik 12

Im Dokument › Arbeits(un)fähigkeit herstellen (Seite 38-42)

2.2 Aktivierende und investierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

2.2.1 Forschungsbefunde zu aktivierender und investierender Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik 12

Der Schweizer Sozialstaat folgt in den letzten Jahren einem Trend westlicher Sozialstaaten und befindet sich in einer „Transformation“ vom

‚fürsorgenden Wohlfahrtsstaat‘ hin zum ‚aktivierenden Sozialstaat‘ (vgl. Wyss 2007, 14; Opielka 2003, 543 ff.; Opielka 2004, 59 ff.; Brütt 2003, 645 ff.; Butter-wegge 2005, 237 ff.; Nadai 2013). Zentrales Merkmal der aktivierenden Arbeits-markt- und Sozialpolitik, wie sie seit Ende der 1980er Jahren von der OECD propagiert (vgl. Dean 1995) und seit den 1990er Jahren umgesetzt wird (vgl.

für die Schweiz: Magnin 2005; Wyss 2007; Nadai 2006), ist die „Schwerpunkt-verlagerung von sozialen Rechten zu sozialen Pflichten“ (Brütt 2003, 645). Die Verlagerung von Rechten zu Pflichten erklärt Brütt durch einen politischen Diskurs, der die Institutionen der sozialen Sicherung unter Schlagwörtern wie

‚soziale Hängematte‘ und ‚Armutsfalle‘ als strukturelle Verhinderung indivi-dueller Chancen und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt beleuchtet und mehr Eigenverantwortung und Handlungsspielraum für Betroffene fordert13:

11 Seit Herbst 2010, dem Zeitpunkt des Abschlusses des Forschungsprojektes, aus dem die hier verwendeten Daten stammen, haben sich die kantonalen Projekte der Interinstitutio-nellen Zusammenarbeit gewandelt. Der Stand, der sich hier abbildet, bezieht sich auf den Zeitraum der Datenerhebungsphase, die 2008 und 2009 stattfand. Die Weiterentwicklung der Interinstitutionellen Zusammenarbeit kann ich hier nicht weiter verfolgen.

12 Ich stütze mich im folgenden Kapitel auf eigene Vorarbeiten zu dieser Thematik (vgl.

Koch 2010; Koch/Canonica 2012a).

13 Deutlich kommt diese Einstellung im sogenannten „Schröder/Blair-Papier“ zum Aus-druck. Die beiden Politiker halten fest: „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung um-wandeln“ (Schröder/Blair 1999; zitiert nach Butterwegge 2005, 237).

„EmpfängerInnen von Sozialleistungen sind in diesem auf Em-powerment bezogenen Diskurs nicht mehr einfach ‚TäterInnen‘, die potenziell den Sozialstaat betrügen. Sie werden zusätzlich als

‚Opfer‘ dargestellt: Faktische Mindestlöhne in Form von Sozialhilfe und Arbeitslosenleistungen entmächtigen Arbeitslose und Arme;

sie werden um die Verwirklichung ihrer potenziellen Chancen geprellt und zur Passivität gezwungen.“ (Brütt 2003, 635)

Unter „Aktivierung“ wird demnach eine Politik beziehungsweise eine politische Rationalität verstanden, die von folgender Grundannahme geprägt ist: Die Institutionen der sozialen Sicherung behinderten den individuellen Handlungsspielraum statt ihn zu vergrössern, wodurch eine Entmächtigung von Arbeitslosen und Armen stattfände. Diese würden „zur Passivität gezwun-gen“, wie Brütt (2003, 635) rekonstruiert. Aus ebendieser Passivität gelte es, Erwerbslose und Sozialhilfebeziehende durch (Arbeits-)Anreize und – falls notwendig – auch durch Sanktionen zu ‚befreien‘, so lautet die (paradoxe) Maxime der Aktivierung.14

Die Unterstellung von Passivität führt schliesslich zur Delegitimierung sozialer Rechte und zu einer Zunahme von Pflichten. Die Installierung von Anreizsystemen und der Ausbau des Beratungs- und Beschäftigungsangebots gehen mit Leistungskürzungen einher. Es wird ein Sozialumbau und -abbau betrieben, „in dessen Mittelpunkt die Selbstverpflichtung des Bürgers auf eine marktkonforme Lebensorientierung steht“ (Opielka 2003, 544). Aktivität scheint in dieser „Kultur der Aktivität“ (Lessenich 2008, 76) zum Mass aller Dinge zu werden:

„Inzwischen wird Aktivität beziehungsweise die glaubhaft ver-mittelte Bereitschaft zur Aktivität bereits zur Voraussetzung dafür, überhaupt soziale Anrechte geltend machen zu können. So müssen Arbeitslose, um Leistungen beziehen zu können, nicht nur den Verlust ihres Arbeitsplatzes, sondern gleichzeitig ein bürokratisch verordnetes Aktivitätsniveau bei der Arbeitssuche nachweisen.“

(Kocyba 2004, 17)

14 Paradox ist diese Maxime deshalb, weil sie den zu aktivierenden Individuen gleicher-massen Passivität und Aktivität unterstellt. Denn nur wer als passiv erscheint, benötigt Aktivierung. Zugleich zielt diese im Sinne einer „Selbstaktivierungsaufforderung“ (Kocyba 2004, 19) auf Individuen, die „im Kern bereits aktiv“ sind (Ebd., 21). Sie appelliere „dabei an ein immer schon vorausgesetztes Potential der Selbsttätigkeit und Eigenverantwor-tung“ (Ebd.).

Aus diesen Annahmen beziehungsweise Unterstellungen leitet sich auch das sozialpolitische Paradigma des „Förderns und Forderns“ ab: Mate-rielle und immateMate-rielle Hilfe (wie Beratung, Qualifizierung und Vermittlung) wird in der aktivierenden Sozialpolitik als Vorleistung interpretiert, die einer Gegenleistung durch das unterstützte Individuum bedarf. Diese Gegenleis-tungen werden in der Regel allerdings eng gefasst, denn sie sind oftmals einzig in Form von Arbeitsleistungen möglich (vgl. Koch 2010; Nadai 2006;

Wyss 2007). Deshalb wird diesbezüglich auch von „Workfare“ (als Kurzformel von „Welfare-to-Work“) gesprochen (vgl. Wyss 2007).

Mit dem „Fördern“ sind „Sozialinvestitionen“ in die Erwerbslosen oder Sozialhilfebeziehenden verbunden. Die Programmatik des investierenden Sozialstaats geht auf zwei Sozialwissenschaftler zurück (vgl. Lessenich 2003):

auf Anthony Giddens (1999) und auf Esping-Andersen (2002). Ihr ‚positiver‘

Sozialstaat möchte Sozialpolitik mit Wirtschaftspolitik verzahnen und sieht in erster Linie Bildungsinvestitionen in Jugendlichen und in Frauen vor, um so bisher ungenutztes Humankapital für den europäischen Arbeitsmarkt erschliessen zu können (vgl. kritisch dazu: Lessenich 2012). Konsumptive Ausgaben wie Sozialtransfers sollen zugunsten produktiver Ausgaben wie Investitionen in Bildung zurückgefahren werden. Im Fokus der Investitionen steht die Beschäftigungsfähigkeit, die von den ‚unterstützten‘ Menschen mög-lichst eigenverantwortlich aufgebaut, ausgebaut und erhalten werden soll.

Mit diesem „neue[n] Sozialmodell, das das eigenverantwortliche Engagement der Bevölkerung zu erzwingen sucht“, werde eine neue Aufga-benteilung zwischen Staat und Gesellschaft angestrebt, wie Kocyba (2004, 20) schreibt:

„Der Diskurs und die Programme des ‚aktivierenden Staates‘

antworten gleichermassen auf die Finanzkrise der öffentlichen Hand wie auf die Steuerungskrise staatlicher Politik und wollen beide durch geeignete Anreizsysteme sowie durch die Stärkung der Eigenverantwortung der Leistungsbezieher überwinden.“

(Kocyba 2004, 20)

Die Aktivierungspolitik operiert mittels einer Zuschreibung von Eigen-verantwortung: Das Individuum ist gemäss dieser politischen Rationalität für seine Beschäftigungsfähigkeit und damit auch für seine Arbeitsfähigkeit verantwortlich, denn mit Aktivierung werde, wie Wyss (2007) kritisch bemerkt, auf eine Individualisierung struktureller Bedingungen abgezielt.

„Eigenver-antwortlichkeit heisst […], dass Misserfolge jenen zugerechnet werden, denen es nicht gelingt, erfolgreich im Sinne des Aktivierungsimperativs zu handeln“

(Kocyba 2004, 20). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass „Verantwortung auch unter Bedingungen, unter denen wir nach üblicher Betrachtung gerade nicht in der Lage sind, wirklich Verantwortung zu übernehmen“, dem Indivi-duum überantwortet werde (Ebd.) – beispielsweise bei sich kumulierenden Problemlagen wie Arbeitslosigkeit und Krankheit.

Im Zentrum der aktivierenden und investierenden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik steht die sogenannte Beschäftigungsfähigkeit (“employability”) aktueller und potentieller Arbeitnehmender (vgl. Schultheis 2009; 2012a;

Maeder/Nadai 2009b). Diese sollen unter anderem durch „lebenslanges Lernen“ (“lifelong learning”) (vgl. OECD 1997), eine ausgeglichene „Work-Life-Balance“, ein möglichst präventives individuelles „Gesundheits- und Stressmanagement“ und anderes mehr ihre „Skills“ und Kompetenzen möglichst à jour halten und dabei gleichzeitig so gesund wie möglich und vor allem arbeitsfähig bleiben (vgl. Pongratz/Voss 2002). All diese Massnah-men dienen der Erhaltung respektive der (Wieder-)Erlangung der eigenen

„Fähigkeit, auf dem Markt Nachfrage nach der eigenen Arbeitskraft zu wecken beziehungsweise marktfähig und -gängig zu sein“ (Schultheis 2012a, 177).

Das soll garantieren, dass die durch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik (ide-alerweise) geschaffenen Stellen und die beschäftigungsfähigen, potentiellen Arbeitsmarktteilnehmer_innen optimal zueinander „passen“. Denn das Ziel dieser Politik ist, wie es in einer Publikation der Europäischen Union heisst,

“to reduce the skills gap so that more of the potential workforce are equipped for the jobs that are being created”, damit letztlich “the economy benefits from the skills of all its citizens” (Watt 1998, 5).

Beschäftigungsfähigkeit hängt massgeblich von der Gesundheit und der (körperlichen) Leistungsfähigkeit ab. Nun ist auch in Bezug auf Gesundheit und auf Körper eine Responsibilisierung und Aktivierung von Patient_innen und (noch) Gesunden zu finden (vgl. Dollinger 2006a; 2006b), denn auch die Verantwortung für die eigene Gesundheit und den Zustand des eigenen Körpers scheint zunehmend dem Individuum überantwortet zu werden (vgl. Schmidt 2008). Vor diesem Hintergrund kann auch das Konzept der Beschäftigungs- und Arbeits(markt)fähigkeit auf die ihm inhärente spe-zifische Vorstellung des individuellen Umgangs mit der eigenen Gesundheit und dem eigenen Körper befragt werden. Gesundheit und Arbeitsfähigkeit sind zentrale Dimensionen von Employability.

Dabei ist eine Reduktion von Gesundheit – als Konzept – zu beobach-ten: Gesundheit wird insofern reduziert, als sie oftmals mit der individuellen

„Arbeitsfähigkeit“ gleichgesetzt wird (vgl. Bauman 2003; Gruber 2008) und zwar primär mit körperlicher Arbeitsfähigkeit (Winker/Degele 2009, 49).

Nicht nur die eigene Gesundheit scheint zunehmend gestaltbar zu werden, auch der Körper werde zu einer individuellen Aufgabe (Winker/Degele 2009, 49): Körper und ihre Erscheinungen werden – gemäss den hier rezipierten Zeitdiagnosen – durch technischen und gesellschaftlichen Wandel optional und damit zugleich veränderungsfähig und veränderungsbedürftig (Maasen 2008, 112). Gefordert werde Arbeit am eigenen Körper und an der eigenen Gesundheit und die „Sorge um den Körper“ (Goffman 1986, 192), insbe-sondere von Arbeitnehmenden, denn diese „müssen beweglich, belastbar, permanent lernbereit und -willig sein“ (Winker/Degele 2009, 49; vgl. auch Rittner 1982).15

Nachdem ich gezeigt habe, dass sich ‚Aktivierung‘ nicht bloss auf Erwerbslosigkeit bezieht, sondern auch auf Gesundheit und Körper als zentrale Bestandteile der Beschäftigungsfähigkeit, wende ich mich nun der Sozialpolitik in der Schweiz zu, denn auch hier hat das Aktivierungspara-digma Einzug gehalten.

Im Dokument › Arbeits(un)fähigkeit herstellen (Seite 38-42)