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I. Teil

3 Geschichte der Korntaler Brüdergemeinde

3 Geschichte der Korntaler Brüdergemeinde

Die Geschichte der Heimerziehung als geschlossene Unterbringung reicht ins Mittelalter und in die Entstehung der Armen- und Anstaltspflege und hier auf den Umgang mit Waisen- und Findelkindern zurück. In Armenkinderanstalten, Waisen- und Findelhäusern sollten diese versorgt und verwahrt, vor allem aber zu gottesfürchtigen, arbeitstüchtigen, sittsamen und fleißigen Menschen erzo-gen und angepasst werden.5 In kasernierten Zucht- und Arbeitshäusern wurden sie von der Außenwelt getrennt und mit Drill- und Züchtigungspädagogik (und den zugehörigen Ordnungsregeln) zur Arbeit erzogen (vgl. Scherpner 1952, 1963, 1966, Ahlheim et. al. 1972, Arbeitsgruppe Kinderschutz 1975, Peukert 1986, Sachße/Tennstedt 2011). Nach dem 30-jährigen Krieg bekam die Wai-senhauserziehung durch den Pietismus mit Blick auf die seelische und religiöse

„Rettung“ des Einzelnen sowie der Minderung von Armut, Not und Verwahr-losung neue Impulse, die vor allem von August Hermann Francke (1663 – 1727) und der Gründung der „Hallischen Anstalten“ –jetzt als private Fürsorge –im Jahr 1695 ausging. Seine religiös-pädagogischen Grundgedanken waren, zur „werktätigen Herzensfrömmigkeit“ und zu einem „praktischen Christen-tum tätiger Nächstenliebe“ zurückzukehren: Ausgehend von der Verderbtheit der menschlichen Natur sollte gelernt werden, dem Willen Gottes zu folgen, die kindliche Existenz den „Gesetzen Gottes“ durch strenge Zucht, Kontrolle und Disziplin, durch Gebete, Buße und Bekehrung unterzuordnen und die Kin-der mit einer TugenKin-derziehung durch Gehorsam und Ordnung, Arbeit und Fleiß in die gesellschaftliche Ordnung einzugliedern (vgl. Scherpner 1966, Pe-ters 1968, Ahlheim et. al. 1972, Sauer 1979).

Die religiös-pietistisch begründete Erziehungsarbeit der evangelischen Brüdergemeinde steht in der Tradition der von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) gegründeten Inneren Mission (IM) und der von ihm für den Norden und von Gustav Werner (1809-1887) für Schwaben – nach den napoleonischen Kriegen mit seinen sozialen Armuts- und Verelendungsfolgen –gegründeten Rettungshausbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.6

5 In der historischen Arbeit werden die zeitgenössischen Begriffe ohne Anführungszeichen verwandt; sie drücken das zeitbezogene Verständnis aus, das hier nicht „modernisiert“ wer-den soll und damit nicht mehr kontextbezogen wäre. Das gilt z.B. für wer-den damals üblichen und nicht abwertend gemeinten Begriff „Zögling“, der sowohl für Kinder als auch für Ju-gendliche galt.

6 Das bekannteste Rettungshaus, das „Rauhe Haus“, wurde 1833 von Wichern in Horn bei Hamburg gegründet; 1840 gründete er die ersten Heimerzieherschulen, die Vorläufer der späteren Diakonen- und Diakonissenanstalten. Seine pädagogischen Prinzipien waren die Rettung vor der Sünde, Bewahrung vor schädlichen Einflüssen, Freiwilligkeit in familien-ähnlicher Erziehung und Erziehung durch und zur Arbeit. Bei allen Unterschieden in den Ansätzen war die gemeinsame Idee von vielen Initiativen –zu denen zu Beginn der Moderne weiter Falk, Pestalozzi und Don Bosco, später Aichhorn, Bettelheim, Wilker, Korczak und

Die rettungspädagogische Arbeit hat eine lange Tradition und geht hier auf die Brüdergemeindesiedlung in Korntal zurück, die im Rahmen der Erwe-ckungsbewegung 1819 von dem gottesfürchtigen Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771 –1846) im Geiste des schwäbischen Pietismus –eines lebendigen Glau-bens an Jesus Christus und dessen Wiederkehr –gegründet wurde. Die Entste-hung zu Anfang des 19. Jahrhunderts hatte –so die Zeitverhältnisse –vor allem religiöse („Gewissensnot“), aber auch kulturelle, politische, wirtschaftliche und soziale Motive. Sie hing mit kriegerischen Auseinandersetzungen, fürstli-cher Gewalt- und Willkürherrschaft sowie „ausgepressten Untertanen“

(Steimle 1929, 11) und großer Armut von weiten Teilen der Bevölkerung mit bettelnden, streunenden, verwaisten und heimatlos gewordenen Kindern zu-sammen. Die Krisenverhältnisse dieser Zeit –u.a materielle Armut, zerrüttete Familien, Verwaisung und Verwilderung der jungen Generation –wurden vor allem als „innerstes Elend“ diagnostiziert: als Verlust der Bindung an den le -bendigen Gott. Dabei stand „im Zentrum der Erziehung die religiöse Unter-weisung; weiter sollte Arbeit die Kinder auf spätere Berufstätigkeit vorbereiten sowie zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung der Anstalten beitragen“ (Ahlheim et. al. 1972, S. 36).

Der Siedlung in Korntal geht eine Eingabe von Hoffmann an den König am 28. Februar 1817 voraus. Gläubige und fromme Kreise aus der evangelischen Kirche Württembergs kritisierten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den mit der Aufklärung verbundenen „Vernunftglauben“ –einer neuen theo-logischen Richtung, die sich angeblich gegen die „biblische Wahrheit“, die

„Kernwahrheiten der Heiligen Schrift von Versöhnung und Erlösung durch Christi Werk und Blut“ richten bzw. diese verflachen würde. Diesen schien die offizielle Kirche und mit ihr der König und Landesherr Friedrich I. „ihrem wahren Herrn“ untreu zu werden und es gab Überlegungen auszuwandern (was viele auch taten), um den Glauben frei leben können. Nach Aussagen des Pas-tors und späteren langjährigen geistlichen Vorstehers Fritz Grünzweig (1957) wurde die Brüdergemeinde Korntal gegründet, „weil viele ernste Christen in unserm Lande aus Gewissensgründen nicht mehr in der rationalistischen Staatskirche jener Zeit leben wollten“ (S. 166).

Die Evangelische Brüdergemeinde Korntal wurde 1819 gegründet und war (wie auch die Tochtergründung der Gemeinde Wilhelmsdorf) ein „Zweckge-bilde“ von „Schwaben, die nicht auswanderten“ (…) von „Menschen, die der Geist der Aufklärung und des „Rationalismus“, der am Anfang des 19. Jahr-hunderts auch in Württemberg immer tiefer eindrang, hierher getrieben hat, weil sie nicht auswandern wollten. Die geistigen Wurzeln der Brüdergemeinde liegen in der aus den Kreisen des Pietismus hervor gegangenen Bewegung ge-gen den Einbruch der Aufklärung in der württembergischen Landeskirche. Sie

Bernfeld zählten –, das Lebensrecht der armen, ausgesetzten, abgeschobenen, vergessenen Kinder und Jugendlichen anzuerkennen, einen Ort zu schaffen, an den sie gehören und an dem sie sich angenommen fühlen und erfahren.

glaubten, unter dem Druck kirchlicher und staatlicher Einschränkungen ihr Le-ben nicht mehr „gottgefällig“ führen zukönnen. Hier suchten und fanden sie Asyl, wo sie der nach ihrer Meinung (so ihre apokalyptischen Hoffnungen und chiliastischen Ideen, d. V.) in aller Bälde zu erwartenden „Wiederkunft des Herrn“ und der Aufrichtigkeit seines „Tausendjährigen Friedensreiches“ un-gestört durch äußere Einflüsse entgegen gehen konnten“(Steimle 1929, S. 8f.)7 Gründe und Motive für die Gründung lagen im „damaligen Ringen um das reine Evangelium durch ernste Christen“ (L1 –675). Sie rührten aus einer tie-fen Unzufriedenheit, inneren Ablehnung und einem Misstrauen von konserva-tiv-evangelischen Kreisen des württembergischen Pietismus (und hier vor al-lem der Landbevölkerung) gegen den „antichristlichen Geist“ (Kübler, o. J.).

Die Gründung war gegen die aufklärerischen Entwicklungen (die „Ver-nunftaufklärung“, den „Rationalismus“) in der (damals „rationalistisch ange-hauchten“) Landeskirche und im Staat gerichtet. Diese führte zu einer Aus-wanderungsbewegung, deren Entwicklung König Wilhelm I., den gemäßigten Nachfolger Friedrichs, der sich mit dem Thema öffentlich „belehrend“ be-fasste, nachdenklich und besorgt machte. In dieser Situation wandte sich der Leonberger Bürgermeister und kaiserliche Notar, Ständevertreter und Land-tagsabgeordnete Gottlieb Wilhelm Hoffmann, mit einer Eingabe an den König, dessen Vertrauen er besaß. Dabei machte er den viel beachteten und unterstütz-ten Vorschlag, „den zur Auswanderung Entschlossenen im eigenen Land die Gründung religiös selbstständiger, das heißt nicht unter der staatlichen Kir-chenregierung stehenden Gemeinden zu gestatten, wo sie dann ungehindert ih-res Glauben leben können“ (1967, S. 12). Schließlich wurde am 1.10.1818 vom König die grundsätzliche Genehmigung zur Gründung von Gemeinden erteilt und im mittleren Württemberg wurden zahlreiche Ansiedlungen – es wurde auch von „Kolonien“ gesprochen –religiöser Gemeinschaft gegründet.

In Korntal erfolgte –nach den napoleonischen Kriegen –die Gründung am 22.8.1819 und im Jahr 1824 wurde –als Tochtergemeinde von Korntal –die Brüdergemeinde Wilhelmsdorf (im heutigen Landkreis Ravensburg) gegrün-det; dies war die zweite Ansiedlung einer Brüdergemeinde in Württemberg.

Sie sollten in der Tradition der früher gegründeten Herrnhuter Brüdergemeinde eine „freie Gemeinde innerhalb der Landeskirche“ (Scheffbuch 2006, S. 34) sein, ihren „Glauben frei und unabhängig leben“, eine „bürgerlich-religiöse Gemeinde“, eine „persönliche Lebensgemeinschaft mit Jesus“ und „eine ent-schiedene, eng zusammengeschlossene, tätige und auf den wiederkommenden Herrn bereite Gemeinde sein“ (Jahresbrief 1960, S. 3).

Ein königliches Privilegium vom 22. August 1819 sicherte der Gemeinde ein Eigenleben in religiöser wie in kommunalpolitischer Hinsicht. Gründer und Vgl. zur Geschichte der Brüdergemeinde Korntal als einem „Gemeindemodell des Pietismus in Württemberg“ –hier vor allem als Selbstdarstellungen - auch: Sixt 1839, Römer 1848, Thumm 1875, Hesse 1910, Daur 1919, Grünzweig 1957, Döffinger 1967, Kullen 1994, Roth 1994, Scheffbuch 2001, 2003, Kübler o. J.

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erster Vorsteher der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal war von 1820 bis zu seinem Tode 1846 Gottlieb Wilhelm Hoffmann, dem pädagogische, diako-nische und missionarische Einrichtungen besonders am Herzen lagen. In Korn-tal wurden – neben der „KinderrettungsansKorn-talt“ –bereits im Gründungsjahr ein Internat für Knaben und 1821 ein Internat für Mädchen (das später Johann-Christoph-Blumhardt- Haus hieß) eröffnet. Das Erziehungswerk in den Häu-sern der Brüdergemeinde beinhaltete unter dem Motto „die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ einen „geordneten Tagesablauf“, dann eine „christli-che Hausordnung“ und die „Kinder an christli„christli-che Sitte und Ordnung zu ge-wöhnen“. (L1 –675).

Die Geschichte, das Wesen und Werk der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal wird von Pfarrer Fritz Grünzweig (1957) facettenreich vorgestellt.

Dazu gehört u.a –um nur einige wenige Aspekte anzudeuten –das Selbstver-ständnis und der Auftrag, der sich „auf den wiederkommenden Herrn warten-den Gemeinde“ (S. 211) bezieht; dass „Gott seiner Gemeinde warten-den Kampf ge-gen die Sünde in den eige-genen Reihen aufgetrage-gen hat“ (S. 159) und „Gott er-wartet, daß wir eine Gemeinde des Gebetes sind. Betet ohne Unterlaß“ (S.

229). Es ist die Rede von „Gemeindezucht“, die das Ziel hat, „das Verirrte zu den guten Hirten zurückzurufen und die ganze Herde auf den wiederkommen-den Herrn mit vor zu bereiten“ (S. 163).

Die Brüdergemeinden haben ihre geistigen Wurzeln im Pietismus und der aus ihr erwachsenen Gegenbewegung gegen die Ideen der Aufklärung in der Württembergischen Landeskirche sowie –mit Blick auf die diakonische Arbeit –im weitesten Sinne (bei allen Unterschieden) in der „Inneren Mission“, die Johann Hinrich Wichern im Jahr 1848 mit einem ambitionierten reformeri-schen Programm gegründet hat. Sein Begriff der Verwahrlosung meinte mate-rielles Elend, Autoritätsverlust von Obrigkeit und Familie, Sittenlosigkeit und den Verlust von Religiosität (vgl. Lemke 1964). Der angebotene kompensato-rische, religiöse und helfend-heilende, strafend-liebende Erziehungsgedanke von Wichern sowie die Wirksamkeitshoffnungen der „evangelischen Liebes-gesinnung“, die „heilende Kraft des Evangeliums“, die Hebung der „materiel-len Not“ und „sittlichen Not“ zur „Rettung der Jugend“ –wie sie Wichern (1902, 1908, 1962) formuliert hat –fanden sich als Pädagogik der Seelen- und Gewissensbildung auch in der Gesinnung der Brüdergemeinden.

Die Brüdergemeinden Korntal und Wilhelmsdorf gaben sich eine Ordnung, und hier soll beispielhaft auf drei Formulierungen hingewiesen werden, die unterschiedliche Facetten in ihrer langen Geschichte andeuten:

▪ Erstens hieß es im Jahr 1892 in den Bestimmungen aus der Kirchenordnung zum Glaubensbekenntnis, dass sich „die privilegierten evangelisch-lutheri-schen Brüdergemeinden Korntal und Wilhelmsdorf auf die Heilige Schrift (wie sie mit der Reformation formuliert wurde, d. V.) des Alten und Neuen Testaments als die alleinige und vollkommene Richtschnur ihres Glaubens, ihrer Lehre und ihres Lebens gründen“.

„christlich-soziales Gemeinwesen“ bzw. als „Tatchristentum“, als prakti-sche Umsetzung sozialer Ideen auf religiöser Grundlage verstanden. Neben der privilegierten Gemeinde haben sich die Brüdergemeinde und die „po-litische“ Brüdergemeinde herausgebildet.8

▪ Drittens wurden zur Aufnahme in die Brüdergemeinde am 18. Oktober 1981 im Festsaal des Gemeindehauses in Korntal die Aufzunehmenden ge-fragt: „Liebe Brüder und Schwestern, wollt Ihr in der Nachfolge unseres Herrn Jesu stehen und in unserer Brüdergemeinde und ihren Ordnungen und Diensten leben? Ist das Euer Entschluß, so antwortet miteinander: Ja, Gott helfe mir“. Zum geistlichen Anliegen der Väter der Brüdergemeinde und damit zum religiösen Zentrum führt der Pfarrer Fritz Grünzweig aus:

„Die Bibel sagt, dass Gott in Jesus Christus alles tat, tut und tun wird, was zu unserem heil nötig ist. Doch er nimmt uns zugleich als Menschen so ernst, dass er auf unser menschliches Ja dazu wartet. Glaube ist ja ein Ver-hältnis der Liebe zu Gott. Und zum Wesen der Liebe gehört, dass man ihrer erst voll teilhaftig wird, wenn man sie von Herzen erwidert. Erst wenn wir das Angebot der Liebe Gottes ausdrücklich angenommen haben und uns von ihr in Anspruch nehmen lassen, das heißt, wenn wir glauben, ist uns wahrhaft für Zeit und Ewigkeit geholfen“.9

Die Brüdergemeinde basiert bis heute – laut Satzung, die in ihrer langen Geschichte wiederholt geändert wurde –auf Mitgliedschaft und die Struktur der Leitungsorgane der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal besteht aus der Brüdergemeindeversammlung, dem Brüdergemeinderat, den beiden – weltlichen und geistlichen –Vorstehern (biografische Notizen zu den Personen vgl. Scheffbuch 2006). Für die Kinderheime Korntal und Wilhelmsdorf e. V.

gibt es einen Verwaltungsrat und Vorstand; und für Wilhelmsdorf weiter einen Ortsausschuss.

8 Die Bürgerliche Gemeinde Korntal entstand im Jahr 1919 und nach der Reichsverfassung war das Fortbestehen bürgerlich-religiöser Gemeinden nicht mehr möglich. Die Brüderge-meinde ist auch heute noch rechtlich selbständig und steht in einem brüderlichen Verhältnis zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

9 Auf die theologische Seite –Protestantismus, Diakonie, Pietismus, Brüdergemeinde –des Themas kann im Folgenden nur kursorisch hingewiesen werden; sie würde den Rahmen der Arbeit sprengen und wäre fachhistorisch zu untersuchen. Hier liegt der Schwerpunkt auf ei-ner sozialhistorischen Dokumentation der Heimgeschichte.

Abbildung 1: Evangelische Brüdergemeinde Korntal im Gesamtwerk

Quelle: Evangelische Brüdergemeinde Korntal.