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I. Teil

6 Zwei historische Exkurse: NS-Zeit und Nachkriegsjahre

6.2 Die Heime in den Nachkriegsjahren (1945 – 1949)

Mädchenschlafsaal der lange mit Blech beschlagene Waschtisch mit den einzelnen email-lierten Waschschüsseln drauf (von den Plumpsclosets gar nicht zu reden). (…). Ja, da saßen sie, rechts die Buben in ihren blauen, abgetragenen „Kutten“, links die Mädchen in ihren Schürzen. Wir Tanten schöpften ihnen am Morgen mit Begeisterung den dampfenden Ha-ferbrei, der immer schmeckte (in Blechteller, d. V.). (…). Es wurde gebetet um gute Witte-rung und Wachstum auf Feld und Garten. Und wie dankbar ging man ans Ernten! (…). Be-sonders schön war alles Schaffen mit den Kindern im Freien an den meisten Nachmittagen oder auch an manchen ganzen Tagen. Da unsere Kinder keine offiziellen Ferien hatten, weil nur ganz wenige zu den Angehörigen konnten, gab es je nach Witterung schulfreie Tage für

´s Beerensammeln, Tannenzapfenholen oder für die Arbeit in den Torfstichen, die dem Kin-derheim zugeteilt waren („Umdrehen“, „Ablesen“, „Umsetzen“ (….). Aber schön waren im-mer die abendlichen Heimwege! Wenn dann die müde geschafften und getollten Kinder ganz ordentlich mit uns marschierten (…). Eingeprägt hat sich mir noch das Bild, wie Großmutter (Bizer, d. V.), in der Küche sitzend, aus einer dicken Bibel mit ernster Stimme die Strafrede gegen die Töchter Zions aus Jes. 3 vorlas!“. (L6 –unbearbeitete Akten).

6.2 Die Heime in den Nachkriegsjahren (1945 1949)

Mit dem Ende des Krieges und dem Beginn der Besatzungszeit wurden zu-nächst alle Vereine durch die Militärregierung aufgelöst und mussten –nach Antrag –von den Alliierten erneut im Rahmen eines Lizensierungsverfahrens zur Genehmigung angemeldet und von ihnen genehmigt werden. Das gilt auch für den „Verein für Kindererziehungsheime Korntal und Wilhelmsdorf e. V.“, der im Mai 1945 ohne größere Behinderungen durch die alliierten Besatzungs-mächte weiter arbeiten konnte. Er stellte am 29. Oktober 1945 beim Amtsge-richt in Leonberg einen Antrag, in dem er folgende Änderungen vormerken will: In § 2 der Satzungen sollen folgende Worte gestrichen werden „…deut-schen Blutes und…“, und der Satz sollte nun heißen: „Zweck dieser Anstalten und des hierfür gegründeten Vereins ist: Armen, besonders verwahrlosten Kin-dern deutscher Staatsangehörigkeit eine Heimat mit christlicher Hausordnung und Erziehung zu bieten und sie dadurch zu brauchbaren Menschen für diese und jene Welt heranzubilden“. (L6 –63 (II)).

Vereine mussten nach deren allgemeinen Auflösung durch die Militärre-gierung erneut zur Genehmigung angemeldet und genehmigt werden; für den

„Verein für Kindererziehungsheime e. V. in Korntal“ war eine solche Geneh-migung nicht erforderlich. (L6 –63 (II)). Die Weiterbeschäftigung der Mit-arbeiter erfolgte nach Prüfung des Meldebogens durch die US-amerikanische Militärregierung. Danach wurden die 12 geprüften Mitarbeiter(innen) in unter-schiedlichen Funktionen –Johannes Altenmüller, Karl Gottlob Daßdorf, Jakob Dobler, Hans Gottlob Ehrhardt, Friedrich Hartmann, Konrad Köhl, Carl Laib-ling, Carl Meier, Herrmann Maurer, Emilie Schlecht, Karl Simpfendorfer und Gotthilf Traub – als unbelastet eingestuft; einige waren Mitglied in der „Nati-onalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV), vereinzelt auch im

bund, in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) oder in der NS-Frauenschaft. (L6 –94).

Die sechs Spruchkammerakten im Landesarchiv Baden-Württemberg/

Staatsarchiv Ludwigsburg zeigen die Beschlüsse der zuständigen Spruch-kammer Leonberg. Alle Verfahren gegen die Betroffenen wurden eingestellt, weil sie vom Gesetz – dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 –nicht betroffen waren. Das gilt u.a für den Oberlehrer Karl Simpfendörfer, der „nicht in der Partei war und sich in keiner Weise für den NS eingesetzt hat“ (Bestand EL 902/14, Bestellnr. Bü 7810, Bestand EL 204 I, Bestellnr. 3666) und für den Lehrer, dann stellver-tretenden Schulleiter (und späteren Rektor) Johannes Altenmüller, der u.a. der

„Korntaler Brüdergemeinde viele Jahre als Organist und Chorleiter diente“. Er war vom Gesetz nicht betroffen, weil „seine Neigung zu praktischen Christen-tum ihn instand setzte, sich vom NS frei zu halten“ (Bestand EL 204 I, Bestellnr. Bü 51). Auch der Kaufmann Carl Laiblin, der beim „Verein für Kin-dererziehungsheime Korntal“ arbeitete, war nicht betroffen und wurde frei gesprochen. (Bestand EL 350 I, Bestellnr. 1912).16

Der Heimbetrieb ging mit seiner autoritären Struktur und personellen Kon-tinuität auch nach 1945 unter den neuen Bedingungen weiter; Vorsitzender war Gustav Barchet und neu eingestellt wurde 1946 Paul Link als Leiter des land-wirtschaftlichen Betriebes in Korntal. (L6 – 157). Der erzieherische Heim-alltag ist zugleich mit Brüchen und Kontinuitätslinien verbunden, bleibt der Denk- und Erziehungstradition von „Verwahrlosung“ und „(Un-)Erzieh-barkeit“ der Weimarer Republik –die in der NS-Zeit radikalisiert wurde – ver-haftet. Der kirchlich-institutionelle Rahmen blieb –wie seit seiner Gründung –ein eigenständiges Handlungssystem, das nach eigenen Regeln arbeitete. Ins-gesamt verfolgten viele Heimleiter und Erzieher (vielfach mit völlig unzu-reichender pädagogischer Qualifikation) nach 1945 zunächst – wenig ver-ändert und unreflektiert –die seit Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte und vom NS-Regime menschenverachtend fortentwickelte Straf- und Besserungs-pädagogik weiter (vgl. Zwischenbericht Runder Tisch Heimerziehung 2010).

Die Vormundschaftsgerichte und Jugendämter nahmen im August 1945 ihre Arbeit wieder auf. Die Jugendhilfe nutzte ihre alten repressiven und auto-ritären Muster und gesetzlichen Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche bei drohender oder eingesetzter „Verwahrlosung“ und „schwerer Erziehbarkeit“ – ob mit oder ohne Einverständnis der Eltern –wegzusperren und aus der Ge-sellschaft auszuschließen. Dabei war die Fürsorgeerziehung in den Nach-kriegsjahren – die Heime wurden nach wie vor als „Anstalten“ oder „Zweigan-stalten“ bezeichnet –geprägt von Kriegsfolgen und schlechten baulich-räum-lichen Bedingungen (Zerstörung von Gebäuden), von materiellen und perso-16 Der langjährige Vorsitzende von „Kinderheime Korntal und Wilhelmsdorf e. V.“, Erwin Re-bel, war nach der parteistatistischen Erhebung 1939 in Korntal Mitglied der NSDAP (Partei-eintritt 01.05. 1937; Staatsarchiv LB PL 502/18 Bü 4).

nellen Engpässen (unzureichende Pflegesätze durch die öffentlichen Kosten-träger, von Geld-, Material- und Personalnot, schlechter Ernährungslage), von Platznot und „Überfüllung“ durch die große Zahl von eingewiesenen Kindern und Jugendlichen sowie von fehlender Qualifikation der Erzieher (ein Großteil hatte keine pädagogische Ausbildung). Und noch „bis in die 1960er Jahre hin-ein kämpften die Erziehungsheime mit hin-einer vernachlässigten Infrastruktur, schlechter finanzieller Ausstattung und unausgebildetem Personal, mit schlechten Arbeitsbedingungen“ (AFET 2011, S. 18; vgl. auch Scherpner/

Trost 1955).

Diese Situation gilt auch für die Heime der Brüdergemeinde in Korntal und Wilhelmsdorf. Es gibt in den Dokumenten zahlreiche Hinweise zum Heimall-tag bis 1949. In den Berichten des Vereins aus den Jahren 1948 und 1949 wer-den die letzten Jahre als Zeit „besonderer Not“, „schwerer Heimsuchungen“, des „Wiederaufbaus“ (1948, S. 5) von Heim und Schulhaus charakterisiert; die Häuser waren durch Fliegerangriffe („durch Feindeinwirkung“) in den Jahren 1944/45 schwer beschädigt und die Schule war völlig zerstört. Es ist die Rede

„vom Jammer dieser Welt“, den „schon sehr die Kleinen zu spüren bekamen“

(Jahresbrief 1949, S. 10). Weiter waren die Währungsreform und „leere Kas-sen“, der Mangel an Arbeitskräften, die Beschaffung ausreichender Lebens-mittel (die durch die eigene Landwirtschaft verbessert werden konnte), große Futterknappheit und dezimierter Viehbestand die beherrschenden Themen und eine tägliche Herausforderung. Die Heime, in denen die Lebensumstände als

„trostlos, unwirtlich und ungeeignet für die Erziehung von Kindern“ beschrie-ben werden (Bing-von Häfen 2017, S.47), waren existenziell auf die Mitarbeit der Kinder und auf Spenden angewiesen. Im Umgang mit der Zeit setzte man auf Gottvertrauen: „Alle diese Anliegen werfen wir auf den Herrn. Er wird uns versorgen“ (Jahresbrief 1948, S. 6).

Die schwer beschädigten und notdürftig wieder hergestellten Häuser bzw.

behelfsmäßig eingerichteten Schlafräume waren Ende der 1940er Jahre voll belegt; „in der Enge des Raumes steht Bett an Bett, und doch sollten wir, um der Vielzahl von Anfragen auf Unterbringung von Kindern gerecht zu werden, noch weiter Räumlichkeiten haben“ (L6 –45). Der Gesundheitszustand der Kinder wurde als „recht gut“ beschrieben und für das Kleine Heim wird kon-statiert: „Viele der Kinder sind nur vorübergehend bei uns untergebracht, meist deshalb, weil die Eltern wegen Mangel an Wohnraum ihre Kinder nicht bei sich behalten können. Wir sind so recht eine Heimat für Heimatlose geworden“

(Jahresbrief 1948, S. 6). Im selben Jahr ist der Wiederaufbau weitgehend abgeschlossen und beide Heime sind „voll belegt“ (Jahresbrief 1949, S. 7). Als Kinderheim der Inneren Mission hieß es für das Kinderheim Wilhelmsdorf im Jahr 1949 zum Erziehungsziel: „Die anvertrauten Kinder sollen im Rahmen einer evangelischen christlichen Hausordnung zu tüchtigen Menschen heran-gebildet werden. Neben den Hauseltern werden die Kinder durch Lehrkräfte und Erzieherinnen betreut“. (L6 –1721).

In einem Dokument aus „Gesprächen mit Ehemaligen“ wird Ende der 1990er Jahre über die Zeit – d.h. den wirklichen Alltag in den Heimen der Brüdergemeinde –von 1946 bis 1949 u.a so erinnert:

„Es gab wenig Matratzen und geschlafen wurde in größeren Schlafsälen mit Doppelstock-betten“; und „nicht nur die Bettnässer haben auf Strohsäcken geschlafen“.

Die Heimkinder mußten im Stall helfen und „auf den Feldern arbeiten“. Dort wurden Kartoffeln und Steckrüben geerntet, mussten sie „Kartoffelkäfer lesen“

und „manchmal barfuß“ Ährenlesen sowie „Feldmäuse fangen“. „Manchmal wurden sie auch von einem Münchinger Bauer zum Ährenlesen angefordert“

– hier blieb „das tolle Essen zum Abschluß in bester Erinnerung. Gegessen wurde aus Blechtellern“.

Der Gottesdienst wurde mittwochs und sonntags besucht. „Man mar-schierte in 4er-Reihen hoch und hatte seinen festen Platz im Saal“. (…). „Wäh-rend der Andacht mussten die Kinder vor ihrem Platz stehen. Der Hausvater begleitete die Lieder auf dem Harmonium“ und „las anschließend die Losung“.

Erinnert wird auch an Strafen, so „hatte der Hausvater einen gefürchteten Gummischlauch mit Stahleinlage in der Kitteltasche. Schläge hinterließen lange Zeit ihre Striemenspuren auf dem Rücken“. (L6 –17).

Im Jahr 1945 lagen die Verpflegungs-/Kostgeldsätze pro Kind und Tag bei 1.80 RM und 1949 in Wilhelmsdorf bei 1.70 DM (das war der Verpflegungs-satz der französischen Zone) bzw. dann angehoben bei 4.00 DM. In einem Bericht über Wilhelmsdorf wird mitgeteilt, dass das mäßig bemessene Ver-pflegungsgeld ab 1949 monatlich 65.00 DM beträgt, aber „die Verpflegung nun wieder so reichlich ist, dass wir die Eltern bitten, den Kindern außer einem Brotaufstrich und einer gelegentlichen Sendung zum Geburtstag o. ä. keine Lebensmittel mehr zu senden“. (L6 –1721).