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Das Heim als Risikoraum – Einzeltäter und/oder institutionell

I. Teil

20 Das Heim als Risikoraum – Einzeltäter und/oder institutionell

20 Das Heim als Risikoraum – Einzeltäter und/oder institutionell begünstigende Strukturen

Bei der Frage, ob es bei den vielfältigen und vielschichtigen Formen von Stra-fen, Misshandlungen und Gewalt eher Einzeltaten und individuelle Täter und/oder ob es institutionelle (organisatorisch-strukturelle) Risiko- und Um-weltfaktoren, Dynamiken sowie Verantwortlichkeiten waren, die gewaltförmi-ges Verhalten begünstigten und systematisch ermöglicht haben, sind beide als miteinander verschränkte Dimensionen zu berücksichtigen. Das gilt für alle Formen von körperlicher und psychischer Gewalt und für die sexualisierte Ge-walt von pädosexuell wie auch nicht pädosexuell orientierten Fachkräften mit ihren fehlgeleiteten Intimitätswünschen. Dabei haben wir es mit institutionel-len Konstellationen und nicht „nur“ den (isolierten) Einzeltätern zu tun, die Gewalt legitimiert und ermöglicht, toleriert und begünstigt haben. Die Einrich-tungen waren potenzielle Risikoräume, in denen es neben der individuellen Schuld und Verantwortung von Einzeltätern eine Heimkultur und ein „System Heimerziehung“ gab, das Gewalt als Gelegenheitsstruktur (systematisch) er-möglichte, duldete und begünstigte. Dabei gehörten physische und psychische Gewalt zum Alltag und für sexualisierte Gewalt suchten und fanden Täter im Heimalltag Gelegenheiten, Orte und Zeiten.

Fälle von sexualisierter Gewalt wurden – wenn sie bekannt und heimöf-fentlich wurden –jeweils individuell thematisiert und unterschiedlich geahn-det, aber eine Auseinandersetzung mit der institutionellen Verantwortung (Strukturen, Mechanismen) fand nicht statt. Es gab keine Sensibilität für struk-turelle Fragen und auch keine Ansätze von Schutz- und Präventionskonzepten.

Die Faktoren und Risiken, die physisches und psychisches gewaltförmiges Verhalten legitimierten und förderten sowie Grenzüberschreitungen in Form von sexualisierter Gewalt begünstigten, lagen – über die Einzeltätertheorien hinausgehend –in den institutionellen Zusammenhängen, den Strukturen und Mechanismen der Heime. Dabei sind für den Untersuchungszeitraum insbe-sondere folgende äußere und innere Risikomerkmale bedeutsam:

▪ Staat und Gesellschaft haben schlechte bis katastrophale Rahmenbedingun-gen –Räumlichkeiten, Kostensätze, Personalmangel, unzureichende Qua-lifikation – zugelassen und damit keine „gute Pädagogik“ ermöglicht.

▪ Im Mittelpunkt standen das Primat bzw. die Reputation der Einrichtung und der Träger gegenüber dem Wohl von Kindern und Jugendlichen; wenn möglich, sollten Gewalterfahrungen nicht nach außen (zu den Eltern, den Behörden, in die Medien) dringen.

▪ Geschlossene Einrichtungen und dichter Alltag haben eine mit Risiken ver-bundene Doppelstruktur: Abgrenzung nach Außen und Geschlossenheit

bzw. zwangsläufige Nähe nach Innen –und haben eine Nähe zur Figur der

„totalen Institution“ (Goffman 1973).

▪ Die Abschottung und (auch physisch-räumliche) Abgrenzung der Heime und des Geländes zur Außenwelt bedeutet Einschränkung und Kontrolle von Kontakten und Kommunikation zu Personen außerhalb der Einrich-tung. Der Heimalltag ist von einem dichten (beengten) Binnen(nähe)leben mit emotionalen Entbehrungen gekennzeichnet, das ein „Nährboden“ für gewaltförmige Erziehungspraktiken und sexualisierte Gewalt ist und Disclosureprozesse erschwert bzw. verhindert.

▪ Generell begünstigen und fördern autoritär-hierarchische Strukturen, Machtverhältnisse mit einer patriarchalen Position des Hausvaters und Ab-hängigkeiten in pädagogischen Institutionen, denen Kinder und Jugendli-che schutzlos ausgesetzt sind, alle mögliJugendli-chen Formen von Gewalt. Sie sind zugleich ein Muster bzw. eine verhängnisvolle Lernerfahrung für Kinder und Jugendliche, die sich auch in deren Beziehungsgeflechte untereinander einschreiben, unter ihnen gewaltfördernd wirken und langfristig folgen-reich sind bzw. sein können.

▪ Es gab eine Alltagskultur, ein allgemeines „Klima der Gewalt“ bzw. deren Allgegenwart, die aus unterschiedlichen Motiven –zu denen insbesondere Disziplinierung, Erziehung, Macht, Überforderung, Sadismus, Straflust zählen – angewandt wurde, und die mit Gefühlen der Angst, Ohnmacht, Abhängigkeit und Unsicherheit bei Kindern verbunden sind. In einem sol-chen Klima musste man immer Sorge haben, „dass man dran war“.

▪ Ein vom Träger, von der Leitung bis zu den Erziehern durchgehendes er-zieherisches Selbstverständnis, das von einer autoritären und strafenden so-wie streng religiös geprägten Kultur – einem Zusammenhang von „Gehor-sam –Ordnung – Religion“ (Frings/Kaminsky 2012) –in einem weitge-hend abgeschlossenen und kontrollierten System (christlicher Hausge-meinschaft) geprägt war. Körperliche und psychische Bestrafung und Ge-walt, streng religiöse Erziehung und Erziehung durch Arbeit folgten einem

„negativen Kinderbild“, einer Defizitorientierung in der Erziehung und Vorstellungen einer „schwarzen Pädagogik“ (Rutschky 1977).

▪ Eine theologisch-erzieherische Dimension und eine christliche Sicht in der Denktradition von Wichern, nach der es nicht um die Entfaltung des Kin-des, sondern um das „Heraustreiben des Sündhaften“ –mit den Mitteln der erbarmenden Liebe, strenger Zucht und notwendiger Strafe – durch er-wachsene Erzieher geht (Kuhlmann 2010).71

▪ Eine Kultur des Verschweigens und Vertuschens, die bei Kindern, Erzie-hern und Eltern mit „Ringen des Schweigens“ (Keupp et. al. 2017) verbun-den waren. Diese erschwerten es, über Gewalterfahrungen offen zu reverbun-den 71 In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wissen wir seit langem um den

problemati-schen Zusammenhang von Zucht und Liebe, wenn sich Zucht und Strafe als Ausdruck von Liebe gerieren (so z.B. auch im „Wildbader Memorandum I“ im Jahr 1970 formuliert).

und vertrauensvoll zu kommunizieren. Die Atmosphäre, der Angstdruck, die Kontrolle „rund um die Uhr“ waren wie ein „Filter“ –so z.B. die Brief-zensur, die Vermutung, dass einem nicht geglaubt wird, dass aus den Grup-pen kaum etwas nach außen drang; dann die fehlende Sprache und Scham-und Schuldgefühle –ein Filter, der kaum eine Kommunikation nach innen und außen ermöglichte.

▪ Ein vielfach pädagogisch unausgebildetes und wenig geeignetes, fachlich und psychisch überfordertes Personal, das mit unwürdigen und unprofessi-onellen Erziehungspraktiken zu Grenzverletzungen und Übergriffen neigt oder solche Praktiken duldet und gegenseitig wegsieht; das selbst zugleich Träger und Opfer in den „Ringen des Schweigens“ war.

▪ Verunsicherte Kinder aus schwierigen, hoch belasteten Familien kamen in den Heimen in ein folgenreiches Bindungsdilemma mit vielfach traumati-schen Folgen: Sie erfahren als kleine, hilflose Kinder, „dass gerade die Per-sonen, von denen sie Schutz und Fürsorge erwarteten und die Verantwor-tung für sie trugen, diese Situation schamlos ausgenutzt haben“ (Ab-schlussbericht Runder Tisch Heimerziehung 2010, S.28).

▪ Die Tabuisierung und das negative Bild von Leiblichkeit und Sexualität waren u.a mit Weltabgewandtheit, Hilflosigkeit und fehlendem Sprachver-mögen verbunden (vgl. Lemma 2017).

▪ In unbestreitbaren und heimöffentlich gewordenen „Fällen sexualisierter Gewalt“ wurde im Rahmen einer „Einzeltäterthese“ agiert und es wurden – wie die aufgelisteten „Fälle“ zeigen –unterschiedliche Konsequenzen ge-zogen.

Aus heutiger Sicht fehlten:

▪ ein einrichtungsinterner und -externer Wahrnehmungskontext, eine fachli-che und systematisfachli-che (Selbst-)Reflexion der Straf- und Gewaltkultur in-nerhalb der Profession, Leitung und Institution sowie staatlicher Instan-zen/der Aufsichtsbehörde (LJA);

▪ eine interessierte und sensibilisierte Öffentlichkeit (Opferinitiativen haben sich erst im letzten Jahrzehnt gegründet),

▪ eine aufklärende (fach)wissenschaftliche Expertise,

▪ wie auch eine ausgewiesene kontrollierende Behörde (Heimaufsicht), die in der Lage gewesen wäre, Verdachtsmomente zu identifizieren und zu ver-folgen.

Und aus heutiger Sicht fehlten weiter:

▪ der Blick für die Bedeutung der Weitergabe von Interaktions- und Bezie-hungsmustern, die Kinder von Erwachsenen lernen,

▪ sowie für kindliche Körperlichkeit und Sexualität, eine Privat-/Intimsphäre und Raum für Rückzugsmöglichkeiten (vgl. Traxl 2017);

▪ eine institutionelle Verantwortungskultur und ein sensibles Beschwerde-system/-management sowie Vertrauenspersonen, denen Kinder vertrauen und an die sie sich wenden konnten;

▪ eine fehlende Struktur der Zusammenarbeit und Vertrauenskultur zwischen Fachkräften und Kindern bzw. Jugendlichen und eine offene innerinstituti-onelle Kommunikation über Konflikte, problematisches erzieherisches Verhalten, die auch nach Ursachen fragt und Veränderungen herbeiführt.