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I. Teil

24 Verlauf der Aufklärung – Aufklärung mit Hilfe der Berichte der

24.3 Datenauswertung

cherheitshalber“ direkt erfahren. Alle Betroffenen wurden auch ermuntert, sich in den folgenden Wochen bei auftauchenden Fragen oder Problemen erneut an die Aufklärerin zu wenden. Nicht wenige haben sich zurückgemeldet mit der Nachricht, dass es ihnen gut gehe, und dass sie froh seien, das Gespräch ge-sucht zu haben. In zwei Fällen war es leider nachträglich nötig, die Anschrift des Therapeuten zu vermitteln, weil es den Betroffenen nicht gut ging.

Wichtig waren die Beachtung von trauma-sensibler Gesprächsführung und bedachten Formulierungen sowie ein empathisches Zuhören. Deshalb wurden Ablauf, Motive und Vorgehen transparent gemacht. Bei den erforderlichen Fragen ergab sich daraus durchaus ein Spannungsverhältnis, dass Nachfragen, die für die Plausibilitätsprüfung notwendig waren, belastend sein konnten.

Zum Ende des Interviews konnten die Betroffenen einen Antrag auf eine freiwillige finanzielle Anerkennungsleistung stellen, die die Evangelische Brü-dergemeinde im Hinblick auf das erlittene Leid grundsätzlich zu zahlen bereit war.

Es war selbstverständlich, dass die Betroffenen zum Interview eine Ver-trauensperson mitbringen konnten, wovon einige Gebrauch machten. Andere zogen es vor, das Gespräch im Beisein ihrer Beraterin in der Anlaufstelle für Heimerziehung in Stuttgart zu führen. Im Übrigen fanden die Gespräche, wie erwähnt, in einem angemieteten Besprechungsraum in einem zentral gelege-nen Stuttgarter Hotel statt, was von den Betroffegelege-nen wegen der anonymen At-mosphäre durchgehend begrüßt wurde. Nur eine Betroffene empfand die räum-liche Atmosphäre als „zu kalt“.

Die Zusicherung von Vertraulichkeit, Anonymisierung und Datenschutz ist bei diesem hochsensiblen Thema essentiell. Allen Betroffenen wurde zugesi-chert, dass ihre Daten nur der Aufklärerin bekannt würden. Auch der Aufklärer Hafeneger würde die Daten nur erhalten, wenn die Aufklärerin vor Ende der Aufklärungsarbeit an der Datenauswertung verhindert wäre. Dieses Einver-ständnis wurde schriftlich bestätigt.

24.3 Datenauswertung

Aus den Aufzeichnungen der Aufklärerin im Verlauf der Gespräche und nöti-genfalls der Tonbandaufnahme wurden in jedem Einzelfall anonymisierte Kurzberichte gefertigt. An persönlichen Daten wurden dort nur das Geburts-jahr und das Geschlecht aufgenommen, ferner Angaben zum Zeitpunkt des Heimaufenthalts, zum Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern, Gründen des Heimaufenthalts und schließlich das geschilderte Erleben.

Ob die Berichte richtig oder falsch sind, kann nur in wenigen Fällen „ge-richtsfest“ festgestellt werden. Die geschilderten Erlebnisse lagen zwischen ca.

65 und 30 Jahren zurück. Es kann nach diesem Zeitraum nur überprüft werden,

ob mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit von der Wahrheit des Berich-teten auszugehen ist.

Für diese Plausibilitätsprüfung war, wie erwähnt, die persönliche Ge-sprächsführung wichtig. Wichtig war weiter der Abgleich mit den Berichten anderer Betroffener, vor allem, wenn sie zur gleichen Zeit in der gleichen Gruppe gelebt haben. Haben sie entsprechende Taten geschildert? Kommen in ihren Berichten die gleichen Täter vor?

Besonders wertvoll waren Berichte von Betroffenen, die selbst keinen An-trag auf eine Anerkennungsleistung durch die Evangelische Brüdergemeinde gestellt haben, obwohl sie selbst Opfer sind, und die das Gespräch nur aus dem Grund geführt haben, dass sie zur Aufklärung beitragen wollten.

Weiter hat die Aufklärerin –mit Einverständnis der Betroffenen –in jedem Fall die Heimakten im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (LKA) auf Wider-sprüche und Bestätigungen des Vorgetragenen überprüft.

Der Aktenbestand dort war hervorragend katalogisiert und die Hilfestel-lung durch die Mitarbeiter des Archivs exzellent. Dass die Akten mancher Be-troffener wenig ergiebig waren, sogar manchmal nur aus wenigen losen Seiten bestanden, zeigt, wie wenig Bedeutung vor allem in den 1950er Jahren dem

„Berichtswesen“ geschenkt wurde.

Immerhin konnte mit Hilfe der Mitarbeiter des Landeskirchlichen Archivs die Anwesenheit fast aller Gesprächspartner in den Korntaler und Wilhelms-dorfer Heimen positiv festgestellt werden, auch wenn dies bei einigen Be-troffenen nur auf Umwegen über die Akten anderer Kinder gelungen ist. Le-diglich in zwei Fällen gab es keinerlei Akten und Hinweise, in diesen Fällen konnte aber der Wohnsitz der Betroffenen im Kinderheim zur entsprechenden Zeit über die Meldedaten bestätigt werden.

Dass die Akten manipuliert wurden, wie einzelne Betroffene vermutet ha-ben, scheint den Aufklärern unwahrscheinlich. Es fanden sich zahlreiche Ak-ten, welche die der Evangelischen Brüdergemeinde vorgeworfenen Vorfälle bestätigten. In den Heimakten waren diverse gänzlich unbedeutende Informa-tionen vorhanden –wie Anforderungen von Kleidergeld oder von Zuschüssen für Jugendfreizeiten bei den Jugendämtern -, dies belegt, dass die Akten nicht vorsortiert worden sind. Sie befanden sich auch offenbar äußerlich noch in dem Zustand, in dem sie ins Landeskirchliche Archiv gebracht worden waren –es waren ausschließlich „Loseblattsammlungen“ ohne Paginierung.

Viele Akten belegten, dass sich die Verantwortlichen in den Heimen der Brüdergemeinde durchaus im Rahmen der damaligen Möglichkeiten ein-drucksvoll um schwierige Kinder bemühten. In nicht wenigen Akten fanden sich ausführliche psychologische Gutachten, die zeigten, dass die Kinder nicht nur „verwahrt“ wurden, wie dies von vielen Betroffenen wahrgenommen wor-den ist, sondern dass man sich in vielen Fällen im Rahmen des damals Mögli-chen bemühte, den Kindern gerecht zu werden und sie bestmöglich zu fördern.

Vielfach wurde aus den Akten das biographisch Belastende ersichtlich, was die ehemaligen Heimkinder auch im Gespräch geäußert hatten: Im Unterschied zu Institutionen wie Kloster Ettal und der Odenwaldschule waren in den Hei-men der Brüdergemeinde vornehmlich Kinder untergebracht, die aus belaste-ten familiären Verhältnissen kamen und durchaus mit gubelaste-ten Gründen nicht in ihrer Familie verbleiben konnten75 . Dies bedeutete aber in vielen Fällen, dass die Kinder, als sie ins Heim kamen, schon erheblichen Belastungen ausgesetzt gewesen waren, was vom Heim kaum mehr „repariert“ werden konnte. Viele Kinder hatten zuhause Dinge erlitten, von denen man hofft, dass kein Kind sie je erleben muss. Viele Betroffene haben diese ungünstigen und schwierigen Ausgangsbedingungen reflektiert: So äußerte ein Betroffener: „Weiß ich, ob ich nicht so kaputt bin, weil meine Mutter mich abgelehnt und weggegeben hat?“ Das bedeutete aber auch, dass diese Kinder besonders liebe- und anleh-nungsbedürftig waren. Auch wenn dies, wie verschiedenen Berichten der Be-treuer an das Jugendamt zu entnehmen ist, erkannt worden ist, entsprach lie-bevolle Zuwendung nicht den damaligen Erziehungsvorstellungen, vielmehr war ein strenges Reglement zeitgemäß. Dies führte dazu, dass die Kinder umso leichter Opfer auch sexuellen Missbrauchs werden konnten, weil sie so erst-mals „Liebe“ erfuhren.

Schließlich wurden durch Hafeneger die Archivakten –Dokumente, Proto-kolle von Gremiensitzungen usw. –gesichtet und abgeglichen, wobei sich im Abgleich teilweise Übereinstimmungen ergaben.

Die Aufklärerin hat die plausibel geschilderten Taten strafrechtlich einge-ordnet unter Berücksichtigung der zur Tatzeit geltenden Strafgesetze76 .

Diese anonymisierten Kurzberichte wurden Hafeneger für den sozialwis-senschaftlichen Teil der Untersuchung zugeleitet, ferner Andre Morgenstern-Einenkel, der die Berichte computergestützt mittels Qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet hat77 .

Anderen Personen und Gruppen (mit Ausnahme der Vergabekommission) wurden die Informationen aus den Berichten der ehemaligen Heimkinder nicht zugänglich gemacht. Die Auftraggebergruppe wurde lediglich regelmäßig über die Zahl der stattgefundenen und noch ausstehenden Gespräche und den Stand der Archivarbeit von Hafeneger informiert.

75 Auch wenn es Ausnahmen gibt, wie den Betr. 020 (m,1958-1966), der als nichteheliches Kind gegen den Willen der Mutter vom Jugendamt ins Heim gegeben wurde, weil eine un-eheliche Mutter per se nach damaliger Auffassung ungeeignet zur Erziehung war. Mutter und Sohn litten schwer darunter. Die Mutter wurde deshalb psychisch krank.

76 Vgl. dazu Abschnitt 26.1, Strafrechtliche Einordnung der Taten.

77 Vgl. Berichtsteil II-B, Auswertung und Ergebnisse der Interviews.