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Wie kann gelingen, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg einen Schul- und Berufsabschluss schaffen? Wie können Flüchtlinge gut unterstützt werden? Wie können

Lehr-kräfte und Pädagog/innen unterstützt werden, dass sie gute Angebote leisten können? Auf diese Fragen suchten die Teilnehmer/innen einer Tagung im Januar Antworten.

Eng wurde es im Tagungszentrum Hohenheim. Über 200 Teilnehmer/

innen kamen, erwartet wurden 40. Und das gleich nach den Weihnachtsferien am 11. Januar. Das Kultusministerium (KM), die evangelische Akademie Bad Boll und die Akademie der Diözese Rot-tenburg-Stuttgart hatten zu der Tagung

„Flüchtlinge im baden-württembergi-schen Schul- und Ausbildungssystem“

eingeladen. Es ging um die Frage, wie geflüchtete Kinder und Jugendliche gut unterstützt werden können. Das KM will bisherige Erfahrungen zusam-mentragen. „Wo ist Sand im Getriebe?“

fragte der Kommunikationschef des KM, Michael Hermann. Er wollte vom Tagungspublikum wissen, wo vor Ort in den Schulen, in den Vorbereitungs-klassen (VKL) oder VABO-Klassen (Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutsch-kenntnissen) Hindernisse und Probleme den Alltag erschweren. Schulleitungen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter/innen, Pfar-rer/innen oder Jugendreferent/innen mussten nicht lange überlegen. Gefor-dert wurde unter anderem, den Klassen-teiler der Vorbereitungsklassen von 24 auf 15 zu senken, zusätzliches Personal wie pädagogische Assistent/innen hin-zuzuziehen, Ethik ab Klasse 1 anzubie-ten, den islamischen Religionsunterricht auszuweiten, wer Deutsch als Zweitspra-che studiert hat, soll auch ohne Staats-examen unterrichten dürfen, spezielle Kenntnisse der Lehrkräfte an den Son-derpädagogischen Beratungs- und Bil-dungszentren sollen besser einbezogen und neue Kolleg/innen unbefristet ein-gestellt werden.

Eine Teilnehmerin berichtete aus der Erstaufnahmestelle in Karlsruhe, in der

„Kinder im Dreck“ spielten, statt in eine

Kita oder eine Schule zu gehen. Vitto-rio Lazaridis, Schulpräsident am Regie-rungspräsidium Karlsruhe suchte umge-hend das Gespräch mit der Teilnehmerin.

Er will Abhilfe schaffen. Auch in einer Erstaufnahmestelle haben Kinder und Jugendliche bereits ein Recht auf einen Schulbesuch. Nur die Pflicht, in eine Schule zu gehen, greift erst nach sechs Monaten. „Das ist zu wenig bekannt“, bemängelte Monika Gessat vom GEW-Landesausschuss Migration. Sie kennt Ehrenamtliche, denen untersagt wurde, Eltern dabei zu unterstützen, die Kinder in Schulen anzumelden.

Mit einem Brief an die Eltern will das KM die Wissenslücke füllen. In Eng-lisch, Französisch, Persisch und Ara-bisch erhalten Eltern seit Kurzem grund-legende Informationen, ab wann ihre Kinder in Baden-Württemberg zur Schu-le gehen können bzw. müssen. „Der Brief soll Unsicherheiten abbauen und dazu beitragen, dass die Eltern sich rasch in der neuen Umgebung orientieren und dass ihre Kinder schnell einen Zugang zu unseren Bildungsangeboten finden kön-nen“, sagte Kultusminister Andreas Stoch.

Allerdings wissen auch viele Schulleitun-gen und Lehrkräfte nicht, dass Kindern ab dem ersten Tag ihres Aufenthalts in Baden-Württemberg ein Schulbesuchs-recht zusteht. Auch Schulverwaltung meinen, dass nach dem Flüchtlingsauf-nahmegesetz (FlüAG) Kinder in LEAs kein Recht auf Schulbesuch haben. (Siehe Kasten auf Seite 33).

Neue Pläne des Kultusminsiteriums Der Kultusminister präsentierte auf der Tagung weitere Vorhaben, um die schu-lische Integration junger Flüchtlinge zu verbessern. Jedes Kind soll passende Bil-dungsangebote erhalten. Dazu ist eine

bil-Für Deutschkurse fehlen Lehrkräfte

Foto: imago

dungsbiografische Ersterfassung geplant.

Neben persönlichen Angaben werden dabei beispielsweise Kenntnisse im Lesen und Schreiben (Alphabetisierung), zur Muttersprache und weiteren Sprachen sowie zur Dauer des bisherigen Schulbe-suchs im Herkunftsland erfasst. Anhand dieser Informationen werden Schulverwal-tung und Schulen entscheiden, an welche Schule und in welche Vorbereitungsklas-se bzw. VABO-KlasVorbereitungsklas-se ein junger Flücht-ling kommt. Schulleiter/innen sollen diese Informationen aus einer elektronischen Datenbank entnehmen und nutzen können.

Die bildungsbiografische Ersterfassung soll noch im Januar 2016 im Registrierungszen-trum Heidelberg starten. Erprobt wurde sie bereits seit Mitte November 2015 in der Landeserstaufnahmeeinrichtung Meß- stetten.

Neu hinzu kommt eine Potenzialanaly-se für Flüchtlinge. Nachdem die jungen Flüchtlinge in einer Vorbereitungs- oder VABO-Klasse aufgenommen wurden, soll die Potenzialanalyse künftig dazu beitragen, dass der Übergang in eine Regelklasse mit individueller Förderung gelingt. Bei der Potenzialanalyse werden mit Tests sprachliche, mathematische Fähigkeiten und überfachliche Kom-petenzen erfasst. Der Start ist für Mitte Februar vorgesehen. An dem Modellver-such beteiligt sich bis 2018 der Bund mit zwei Millionen Euro.

„Zurzeit fehlt es nicht an bereitgestell-ten Mitteln, sondern an Lehrkräfbereitgestell-ten“, sagte Kultusminister Andreas Stoch.

„Wir brauchen alle Lehrkräfte“, betonte er und ermunterte Ruheständler/innen, wieder an die Schulen zurückzukehren.

Ein Brief des Ministers, der Ende 2015 an 30.000 pensionierte Lehrkräfte gerichtet war, hat nicht viele Ruheständler/innen aktivieren können. Bisher wurden 65

Verträge mit pensionierten Lehrer/innen geschlossen. Sie arbeiten im Durch-schnitt 6,8 Wochenstunden. Inzwischen werden auch angehende Lehrkräfte ange-sprochen, die nach dem Studium auf den Vorbereitungsdienst warten.

Stoch sagte auch: „Die Realität nimmt keine Rücksicht auf Traditionen.“ Damit meinte er vor allem, dass zurzeit die üblichen Abläufe in der Schulverwal-tung über den Haufen geworfen wer-den. Die Flüchtlingszahlen ändern sich laufend, neue Klassen und Personalzu-weisungen müssen ständig angepasst werden. Der Minister äußerte Respekt vor der „komplexen Puzzle-Arbeit, die Schulverwaltungen jetzt leisten müs-sen“. Stand Dezember 2015 gibt es 2.160 Vorbereitungs- und VABO-Klassen für 30.000 junge Menschen. Zum Schuljah-resbeginn 2014/15 wurden knapp 18.000 Schüler/innen in 1.270 Vorbereitungs- und VABO-Klassen unterrichtet.

Alten Garantiefonds neu aufleben lassen

Ein Blick zurück kann auch Erkenntnis-se liefern. Was lernen wir aus früheren Zuwanderungsbewegungen? Seit 1988 kamen 2,5 Millionen Aussiedler/innen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. 40 Prozent der Russland-deutschen waren jünger als 25 Jahre. Am Anfang versagte die Schul- und Integ-rationspolitik. Die jungen Aussiedler/

innen wurden benachteiligt und ausge-grenzt. Inzwischen haben sie gegenüber den einheimischen Jugendlich fast voll-ständig aufgeholt. Ein Grund, warum sich die Integration deutlich verbesserte, wird auch dem damaligen Garantiefonds zuge-schrieben. Mit diesem Förderprogramm des Bundes wurde die sprachliche, schu-lische, berufliche und soziale Eingliede-rung der jungen Spätaussiedler/innen bis zu ihrem 27. Lebensjahr drei Jahre lang gefördert. Oftmals in Internaten

erhiel-Viele Migrant/innen wissen nicht, wie wichtig eine Berufsausbildung in Deutschland ist.

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Arbeitsplatz Schule

32 bildung & wissenschaft 01-02 / 2016 Arbeitsplatz Schule

ten die jungen Menschen individuelle, ganztägige Förderungen. Auch älteren Schüler/innen gelang damit ein Schul-abschluss. Geld vom Bund gab es, weil die Integration der Spätaussiedler/innen politisch gewollt und gesteuert wurde.

Nachdem um das Jahr 2000 die Zahl der Spätaussiedler/innen zurückging, wurde der Garantiefonds für die schulische Bil-dung abgeschafft, überlebt hat der Fonds im Hochschulbereich. Ulrike Mucke, die ab 1991 zehn Jahre lang mit Spätaussied-ler/innen gearbeitet hat, plädiert sehr dafür, den Garantiefonds wieder einzufüh-ren. „Alle jungen Menschen, die integriert werden sollen, unabhängig davon, woher sie kommen, sollten Zeit bekommen, die deutsche Sprache zu lernen und einen Schulabschluss zu erlangen“, sagte Mucke, Regionalleiterin von IN VIA, Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozi-alarbeit der Diözese Rottenburg-Stuttgart außerhalb der Tagung. Mehrere Teilneh-mer/innen auf der Tagung wiesen nach-drücklich darauf hin, dass ein Garantie-fonds auch jetzt Kinder und Jugendliche individuell unterstützen könnte, wenn sie nach dem Sprachunterricht in den Vor-bereitungs- und VABO-Klassen in den Regelunterricht oder die Berufsausbil-dung wechseln.

Berufsausbildung braucht Zeit

Wenn man den Vertretern der Arbeits-welt zuhört, wird klar, dass es

Flüchtlin-ge über 16 besonders schwer haben. Für das allgemeine Schulwesen sind sie zu alt.

Der Ausbildungsleiter Siegfried Czock berichtete, wie es dem Unternehmen Bosch gelang, 45 spanische Jugendliche auszubilden. Seine Empfehlungen für die Flüchtlinge lauteten aus dieser Erfah-rung heraus: Enge Begleitung der Aus-zubildenden beispielsweise mit sozial- pädagogischen Betreuer/innen und Paten, sensible Ausbilder/innen und Berufsschullehrkräfte. Er rät auch dazu, der Ausbildung ein Praktikum vorauszu-schicken, damit die Jugendlichen besser einschätzen können, was sie in der Aus-bildung erwartet. Vielen Migrant/innen sei die Bedeutung der Berufsausbildung in Deutschland nicht klar. „Sie dürfen nicht dem Lockruf des schnellen Gel-des erliegen“, erklärte Czock, es müsse klar sein, dass es sich lohnt, 5 bis 7 Jahre zu investieren, bis man eine Berufsaus-bildung in der Tasche hat. Ungefähr so lange dauert es nämlich, bis ein Flücht-ling vom Spracherwerb bis zum Ausbil-dungsabschluss die ersten großen Hür-den überwunHür-den hat.

Thomas Löffler von der ZF Friedrichs-hafen (weltweiter Technologiekonzern in der Antriebs- und Fahrwerktech-nik) räumte ein, dass sich die Industrie mit der Einstellung von Flüchtlingen zurückhalte. Als Grund nannte er, dass die Industrie nur mit qualifiziertem Per-sonal den Markt bedienen könne und

Qualität würde formal nur am Aus-bildungs- oder Hochschulabschluss gemessen. Löffler zitierte auch eine Studie von Ludger Wößmann vom ifo-Institut München, nach der zwei Drittel der Flüchtlinge aus Syrien und Albani-en keinAlbani-en berufsqualifizierAlbani-endAlbani-en Bil-dungsabschluss hätten. Nach Erfahrun-gen seines Unternehmens fehlten den Zuwander/innen vor allem Sprach- und MINT-Kenntnisse. Christian Rauch, Geschäftsführer der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagen-tur für Arbeit, teilte Löfflers negatives Votum nicht. Er glaubt, dass die Hälfte aller Flüchtlinge einen Hauptschul- oder mittleren Abschluss erreichen kann, rund ein Viertel könnte seiner Einschät-zung nach studieren. Defizite könnten sie über Engagement ausgleichen. „Für Staaten mit dualer Ausbildung ist es schwieriger, Flüchtlinge zu integrieren.

Deshalb müssen wir auch Kompetenzen anerkennen, die außerhalb der dualen Ausbildung erworben wurden“, erklär-te Rauch. Flüchtlinge würden in dem durchstrukturierten System, wie Unter-nehmen in Deutschland Auszubildende auswählen, schon aus Sprachgründen immer durchfallen. Er plädierte dafür, das System zu öffnen. Das würde nicht nur den Flüchtlingen helfen. Rauch sieht in den jungen Geflüchteten nicht die Lösung des Fachkräftemangels, aber das Potenzial von übermorgen.

Der Kultusminister klärt Flüchtlingsfamilien in

einem Brief über ihr Recht auf Bildung auf. Derselbe Brief auf Persisch und auf Arabisch

Arbeitsplatz Schule

Auch Peter Jany, Hauptgeschäftsführer der IHK Bodensee-Oberschwaben, sieht im dualen Ausbildungssystem einen Nachteil für die Flüchtlinge. Gute Chan-cen hätten Migrant/innen in Branchen wie Hotel- und Gastronomie, Logistik oder Lagerwirtschaft. Dort blieben viele Ausbildungsplätze momentan unbe-setzt. „Als IHK hoffen wir, dass viele Flüchtlinge in die duale Ausbildung kommen. Rund zwei Drittel der Unter-nehmen sind dazu bereit“, sagte Jany.

Er betonte wie der Geschäftsführer der Arbeitsagentur, dass ein Verzicht auf eine Ausbildung große Risiken berge.

Schulen in Afghanistan und Syrien Zwei junge Afghanen, die mittlerwei-le als Auszubildende arbeiten, erzähl-ten in gutem Deutsch, wie es ihnen in Deutschland ergangen ist. Sie leben seit vier Jahren hier. Baktsch Amani gefällt in deutschen Schulen, dass man dort vieles ausprobieren kann. „Wir lernten in Afghanistan mit Fantasie. Wir

glaub-ten daran, dass eine Lampe mit Strom brennt“, erzählt der 23-Jährige. Testen konnten sie es nicht. Volker Bausch, der in Kabul Schulen beraten hat, infor-mierte ebenfalls über das Schulsystem in diesem Land. Afghanistan habe einen großen Nachholbedarf, über 7 Milli-onen Schüler/innen seien im System.

Eine Schule mit 4.000 Schüler/innen sei eine kleine Schule. In jeder Klasse säßen 30 bis 40 Schüler/innen. Es fehlten 6.000 Schulen. Die nur wenig qualifizierten Lehrkräfte unterrichteten im 3-Schicht-Betrieb. „Es ist ein Glück, wenn eine Schule Fenster hat und eine Tafel vor-handen ist“, erzählte er. Es finde fast nur Frontalunterricht statt und die Schüler/

innen lernten hauptsächlich auswendig.

Berufsbildende Schulen gebe es nicht.

Wer studieren wolle, müsse nach Klasse 13 eine anspruchsvolle Aufnahmeprü-fung bestehen.

Ein ehemaliger Schulleiter aus Syrien, Muhammed Alhussan, schilderte die schulischen Rahmenbedingungen aus

seinem Land. Er nennt das Schulsystem korrupt und instabil. Man könne nie-mandem vertrauen, auch den Schüler/

innen nicht. Die Klassen seien groß, die Lehrer hätten keine didaktische Aus-bildung und müssten sich vieles selbst beibringen. Entfaltungsmöglichkeiten für Schüler/innen gebe es nicht. Alhus-san lernt seit einem Monat deutsch und stellt sich vor, für Flüchtlinge eine deut-sche Grammatik zu entwickeln, mit der man mit vereinfachten Regeln die Sprache lernen könne. Baktsch Amani schmunzelt über dieses Vorhaben. Das habe seine Deutschlehrerin auch ver-sucht. Schon die Regel, Hauptwörter, die auf „e“ enden, seien weiblich, sei schnell an ihre Grenzen gestoßen.

Dass Geflüchtete in erster Linie gut