• Keine Ergebnisse gefunden

systemtheoretischer Perspektive

4.2 Systemtheoretische Linguistik als sukzessiv zu entwickelndes Paradigma

4.2.1 Zum Gegenstandsbereich

Ein zentrales, auf der Sprachkonzeption von de Saussure (1916) beruhendes Grundlagenproblem der synchronen Linguistik besteht darin, dass vielfach unklar ist, wie man den Bereich der in einem Zeitraum vorfindlichen oder elizi-tierbaren sprachlichen Äußerungen (parole) und den Aspekt der menschlichen Sprachkompetenz (langue) als gleichermaßen berechtigte Untersuchungsgegen-stände in einen eindeutigen Zusammenhang bringt� So wird z�B� manchmal gesagt, ein für die Linguistik spezifisches Dilemma liege darin, dass ihr genuiner Gegenstand nicht die Menge der sprachlichen Äußerungen, sondern der mensch-liche Sprachbesitz sei, dass man aber trotzdem nur über die Beobachtungen von Äußerungen zu einer Beschreibung dieses Gegenstandes gelangen könne (vgl�

Gauger 1976: 17)� In ähnlichem Sinne formuliert Dietrich (2004: 460– 61): „Wir sagen nach wie vor, dass die menschliche Sprachfähigkeit das Explicandum der Linguistik ist, nur: heute besteht zudem weithin Konsens darin, dass der Gegen-stand der Linguistik immateriell ist, eine Kompetenz eines idealisierten Sprach-benutzers, eine Fähigkeit eines Wesens, das es per definitionem nicht gibt und das auch nicht via Generalisierung von beobachteten Verhaltensreaktionen zu fassen ist“� Letzterem Urteil ist eindeutig zu widersprechen, weil man aus hin-reichend vielen Äußerungsbeobachtungen durch logisch kontrollierte induktive Generalisierungen sehr wohl auf eine Sprachkompetenz und die Geltung zuge-höriger kommunikativer Regeln und Prinzipen rückschließen kann�

Will man das Problem lösen, das mit der langue- parole- bzw� mit der Kompetenz- Performanz- Unterscheidung verbunden ist, dann empfiehlt sich für eine Definition des Gegenstandsbereichs der Linguistik ein gestuftes Vorgehen�

Als Gegenstände der synchronen Linguistik sind zunächst alle Leistungen anzu-setzen, die von Menschen bei der Produktion oder Rezeption von Äußerungen und Äußerungssequenzen einer zur Untersuchung ausgewählten natürlichen Sprache L innerhalb eines bestimmten Zeitraums T erbracht werden� Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die Äußerungen von L zu verschiedenen Zeitpunkten von T höchstens geringfügig in der Verwendung von Wörtern unterscheiden und dass insoweit noch von einer synchronen Betrachtung gesprochen wer-den kann� Weil aber nur Laut- und Schriftäußerungen als Gegenstände empi-risch unmittelbar zugänglich sind, sollten sie in einer ersten Forschungsphase als primäre Untersuchungsobjekte eingestuft und genutzt werden� Nicht jede durch einen Sprecher/ innenwechsel oder zeitlich bzw� räumlich abgegrenzte Laut- bzw� Schriftäußerung A, die von einer für L kompetenten Person inner-halb von T produziert wurde, gehört jedoch zwangsläufig L an� A könnte näm-lich auch eine nichtkommunikative Äußerung sein, aus einer anderen Sprache

stammen oder nicht regulär gebildet sein� Deshalb muss in Zweifelsfällen vor einer endgültigen Einstufung von A als linguistisch relevanter Gegenstand über die Zugehörigkeit von A zu L entschieden werden� Für derartige Entscheidun-gen greift man in der Linguistik i�Allg� auf die Sprachkompetenz befragter Mut-tersprachler/ innen zurück� Dazu muss allerdings vorher geklärt sein, welche Personen die gewünschte Kompetenz besitzen� Unabhängig davon ist es jeden-falls aus forschungspraktischen Gründen sinnvoll, so wie in der Grammatik-theorie üblich einen rein materialen Sprachbegriff zugrunde zu legen� Deshalb besteht eine erste linguistische Aufgabe darin, ein möglichst großes und für L relevantes Äußerungskorpus zu erstellen und die dort gesammelten mündlichen und schriftlichen Äußerungen und monologisch oder interaktiv realisierten Äußerungssequenzen genauer strukturanalytisch zu untersuchen� Aus den so gewonnenen Ergebnissen lassen sich dann Hypothesen über zugrundeliegende Regeln und Prinzipien ableiten� Dagegen sollte man empirisch nicht unmittelbar zugängliche Prozesse der Sprachverarbeitung und deren systeminterne Inputs oder Outputs im Prinzip erst später ergänzend mit dafür geeigneten Methoden als relevante Gegenstände erforschen�

Ein noch nicht angesprochenes Problem der eben dargestellten Vorgehens-weise besteht darin, dass man im Fall einer bisher unerforschten Sprache L eine zirkuläre wechselseitige Definition der beiden Konzepte „natürliche Sprache“

und „Muttersprachler/ innen“ vermeiden muss� Somit stellt sich die Frage, wie man die Äußerungen von L und L- kompetente Personen zumindest partiell unabhängig voneinander empirisch identifizieren kann� Für eine Beantwortung dieser Frage hilft die Erkenntnis, dass die Verwendung von natürlichen Sprachen jeweils weitgehend an bestimmte Regionen in der Welt gebunden ist und dass man nach theoriendynamischer Auffassung anfangs für die beiden Konzepte keine vollständigen Definitionen benötigt, die also zwar schon einige hinrei-chende, aber noch nicht alle erforderlichen Definitionsbedingungen enthalten�

Deshalb kann zu Beginn von Untersuchungen das Äußerungsverhalten der Bewohner/ innen einer geeigneten, geographisch und kulturell eigenständigen Region RE gewählt werden� Dabei lässt sich hier der Einfachheit halber unter-stellen, dass die in RE lebenden und aufgewachsenen Personen nicht generell zweisprachig sozialisiert sind� Wenn man nun die Interaktion von Menschen in RE eine längere Zeit beobachtet, dann wird man evtl� bemerken, dass es eine größere Zahl von Äußerungen (bzw� lautlich oder graphisch ähnliche Realisie-rungen) gibt, die relativ häufig in bestimmten gesellschaftlichen Situationen vor-kommen und evtl� zu speziellen verbalen oder nonverbalen Nachfolgereaktionen führen� Äußerungen dieser Art könnten in einer Region, in der Standarditalie-nisch gesprochen wird, z�B� sein: Buon giorno/ Come sta?/ Dove abita?/ Grazie/

Mi scusi� Wenn außerdem sehr viele in RE wohnende und dort (soweit nachweis-bar) aufgewachsene Personen eine derartige rekurrent auftretende Äußerung A verwenden, dann darf man annehmen, dass A wahrscheinlich zu der in RE überwiegend verwendeten Muttersprache L gehört� Die Menge aller Äußerun-gen mit dieser EiÄußerun-genschaft wird also vermutlich einen relevanten Teilbereich L0 von L bilden� Umgekehrt ist anzunehmen, dass in RE wohnende und aufgewach-sene Personen, die jeweils sehr viele Äußerungen aus L0 verwenden oder die entsprechenden Nachfolgereaktionen zeigen, wahrscheinlich L- kompetent sind;

ggf� lässt sich diese Annahme noch durch zusätzliche Informationen über die betreffenden Personen absichern�

Die beiden durch Angabe hinreichender Bedingungen vorgeschlagenen par-tiellen Definitionen von L und L- kompetenten Person lassen sich in nachfolgen-den Schritten sukzessiv erweitern� Dieses Verfahren soll hier aber nur für die Sprachdefinition skizziert werden� Zunächst ist es zweckmäßig, das bisher für L zugrundegelegte Korpus zu vergrößern, indem man zusätzliche Äußerungen der mutmaßlich L- kompetenten Personen erhebt oder sogar gezielt elizitiert, weil die Zugehörigkeit solcher Äußerungen zu L ohnehin naheliegt� Grundsätzlich kann man vier Arten der Erweiterung unterscheiden� Erstens gehört eine L bis-her nicht zugerechnete Äußerung A im Korpus wahrscheinlich auch dann zu L, wenn sie in gleicher oder ähnlicher Realisierung von einer oder mehreren L- kompetenten Personen produziert wurde� Bei nur einem Vorkommen von A sollte diese Annahme evtl� zusätzlich abgesichert werden, weil das Perfor-manzphänomen zu berücksichtigen ist, dass mit A versehentlich eine partiell inkorrekte Äußerung formuliert wurde (s�u�)� Zweitens gehören Äußerungen, die vor oder im Anschluss an eine Äußerung von L vorkommen, vermutlich selbst zu L� Drittens lassen sich Äußerungen, deren Zugehörigkeit zu L noch fraglich ist oder zusätzlich gestützt werden soll, ebenfalls L zurechnen, wenn L- kompetente Personen das in Tests überwiegend bejahen� Auf Aussagen in Wörterbüchern kann man sich für Zugehörigkeitsurteile dagegen nicht immer berufen� Z�B� ist der Eintrag on the rocks zwar im deutschen Rechtschreib- DUDEN (2006) zu finden� Daraus folgt jedoch nicht, dass dieser Teil einer Äuße-rung wie Ich habe einen Martini on the rocks getrunken zum Standarddeutschen gehört� Bei der Anwendung von Zugehörigkeitstests muss man zudem noch den Fall berücksichtigen, dass befragte Personen aufgrund ihrer normativ gepräg-ten Wahrnehmung eine Äußerung A zwar einheitlich für inkorrekt halgepräg-ten, dass sie aber A oder eine dort verwendete problematische Formulierung – ohne es zu merken – selbst oft benutzen� Dann spricht das Rekurrenzkriterium für die Zugehörigkeit von A zu L� Dieser Fall liegt bei manchen syntaktischen Kon-struktionen der gesprochenen Sprache vor, z�B� bei Nachfeld- Ausklammerungen

2� Ordnung (s� Abschnitt 7�2)� Viertens schließlich wird häufig dafür argumen-tiert, dass neben den empirisch ermittelten und als i�W� akzeptabel eingestuften auch alle Äußerungen zu L gehören, die man potentiell und im Einklang mit den Regeln der Sprache produzieren kann� Der Gesamtbereich möglicher Äuße-rungen lässt sich also erst bestimmen, nachdem auf einer theoriendynamisch vorherigen Stufe für einen kleineren Gegenstandsbereich ermittelt wurde, wel-che Regeln für die Formulierung sprachliwel-cher Äußerungen von L gelten� Das bedeutet aber nicht, dass das Postulat der der generativen Grammatik zutrifft, jede natürliche Sprache bestünde aus potentiell unendlich vielen Sätzen� Denn eine Formulierung von beliebig langen Sätzen ist wegen der jeweils nur begrenzt verfügbaren Kommunikationszeit weder zugelassen noch empirisch möglich�

Zudem lässt sich der abgeleitete Gegenstand der Sprachfähigkeit von Menschen als Beherrschung der für die betreffende Sprache einschlägigen Regeln und Prin-zipien explizieren und modellieren�

Neben Äußerungen und Äußerungssequenzen können einerseits andere direkt beobachtbare systemexterne Inputs und Outputs, also u�a� nonverbale Reaktionen auf Äußerungen, linguistische Untersuchungsgegenstände bilden, wenn sich aus ihnen Rückschlüsse über die Verarbeitung von Äußerungen zie-hen lassen� Das trifft z�B� für das Kopfschütteln als einer nonverbalen Reaktion auf eine Frage zu� Zentrale Gegenstände sind andererseits die empirisch nicht unmittelbar zugänglichen Sprachverarbeitungsprozesse mit ihren jeweils zuge-hörigen systeminternen Inputs und Outputs� Deshalb muss man insbesondere dann einen erweiterten Gegenstandsbereich zugrunde legen, sobald Aussagen über die Bedeutung von Äußerungen gemacht werden sollen� Einen vergleichs-weise direkten Zugang zu mentalen Prozessen und Objekten ermöglichen nur psycho- und neurolinguistische Methoden, bei denen man während der Ver-arbeitung sog� online- Messungen durchführt (vgl� Rickheit et al� 2010: 22f�);

auf ihre Aussagekraft und Probleme kann jetzt nicht näher eingegangen wer-den� Somit stellt sich die Frage: Erhält man auch durch offline- Methoden, also durch Erhebung von Beteiligtenreaktionen nach Verarbeitungsende und durch Strukturanalysen einen indirekten Zugang zu Bedeutungen? Den an einer Kom-munikation Beteiligten sind ihre eigenen Verarbeitungsprozesse i�Allg� nicht vollständig bewusst und deshalb können sie oft keine spezifische Auskunft darüber geben� Günstigenfalls erfährt man z�B�, dass bei ihnen der Prozess der Interpretation einer Äußerung aus irgendeinem Grund gestört war� Anders ver-hält es sich, wenn es um die Resultate von Bedeutungszuordnungen geht� Über solche Resultate können Beteiligte zumindest teilweise Aussagen machen� Diese Fähigkeit müssen sie schon deshalb besitzen, weil aus nicht erwartungsgemäßen Zuordnungen Formulierungs- oder Verstehensprobleme resultieren, die speziell

in dialogischer Kommunikation oft unmittelbar im Anschluss an die jeweilige problematische Äußerung sprachlich manifestiert und durch Vorschläge für eine partielle Äußerungs- oder Verstehensmodifikation in Reparaturen gelöst werden� Insofern kann man auch aus der Erhebung und Auswertung von Betei-ligtenreaktionen bestimmte Rückschlüsse auf semantische Verarbeitungspro-zesse und deren systeminternen Resultate ziehen bzw� zugehörige Hypothesen über Regeln und Prinzipien ableiten, mit denen sich diese Prozesse modellieren lassen�

Insgesamt gesehen ist der vorausgehend umrissene Gegenstandsbereich so weit gefasst, dass alle Gegenstände, die bisher in der synchronen Linguistik untersucht wurden, einbezogen sind� Allerdings erfordert die Zielsetzung, aus der Linguistik eine erklärungsorientierte Wissenschaft zu machen, eine stärkere Fokussierung auf die Erforschung von Verarbeitungsprozessen� Das bedeutet, dass die Inkrementalität der Produktion und Rezeption von rungen untersucht wird und dass die prozeduralen Eigenschaften der Äuße-rungsverarbeitung eine größere Aufmerksamkeit erhalten� Das betrifft in der Grammatikforschung u�a� die Untersuchung von Linksversetzungen im Vor-feld, von Nachfeldkonstruktionen wie Nachträgen, Ausklammerungen und Rechtsversetzungen sowie von Reparaturen und kooperativen Satzproduk-tionen� Noch dringlicher ist der Übergang zu einer verarbeitungsbezogenen Forschung in der Semantik� Trotz der schrittweisen Durchführung von Äuße-rungsinterpretationen und ihrer häufig interaktiven Bedeutungskoordinatio-nen werden die zugehörigen Prozesse bisher nicht ausreichend untersucht und damit bleibt in semantiktheoretischen Ansätzen ein wesentlicher empirischer Zugang ungenutzt�

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE