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Aktualgenetische Dynamik als linguistisch zentraler Untersuchungsaspekt

1.2 Warum braucht die Linguistik eine systemtheoretische Grundlage?

1.2.3 Aktualgenetische Dynamik als linguistisch zentraler Untersuchungsaspekt

Eine generelle und besonders wichtige Eigenschaft von Sprachverarbeitung und Kommunikation wurde in den beiden vorigen Abschnitten schon angespro-chen, aber noch nicht genauer betrachtet, nämlich ihre Dynamik� Sie hängt ins-besondere mit den Eigenschaften der Kontextabhängigkeit, der Inkrementalität, der Prinzipienanwendung und der Erwartungssteuerung zusammen� Mit dem Stichwort „Dynamik“ verbindet man in der Linguistik oft zuerst das Phänomen des Sprachwandels, weil dort der dynamische Aspekt besonders deutlich wird�

So bemerkt man in der Alltagskommunikation nicht selten, dass sich bestimmte Redeweisen zunehmend und quasi spontan ausbreiten� Im Gegenwartsdeut-schen betrifft dies z�B� die seit einiger Zeit gebräuchliche, und vermutlich aus dem Englischen übernommene Phrase nicht wirklich, die auf Danksagungen folgende verkürzte Reaktion gerne und die Redewendung Da geht noch was�

Eine aktuelle Entwicklung ist, dass in politischen Diskussionen der Begriff Nar-rativ und das zum Wort des Jahres 2016 gekürte postfaktisch verwendet werden�

Sprachwandel beruht auf einer komplexen Interaktion von verändertem indivi-duellen und kollektiven Verhalten in einer Kommunikationsgemeinschaft� Auch für die Ausbreitung solcher Veränderungen gibt es systemtheoretische Modelle;

sie sind aber bisher auf Anwendungen wie der Ausbreitung von Infektions-krankheiten (vgl� Blanchard 1993) oder der Herausbildung von Überzeugun-gen in der Gesellschaft (vgl� Kozma und Barrat 2008) hin formuliert� Jedenfalls muss eine systemtheoretisch vollständige Modellierung von dynamischen Pro-zessen immer danach fragen, welche Faktoren (‚Kräfte‘) eine Verhaltensände-rung fördern und welche sie behindern� Beispielsweise wäre es sprachhistorisch

interessant, ob man herausfinden kann, warum bestimmte Normierungsver-suche für das Deutsche im vergangenen Jahrhundert erfolgreich waren (so die Ersetzung des französischen Worts Trottoir durch Bürgersteig), andere aber dagegen nicht (so die Ersetzung von Lokomotive durch Zieh)�

Nachfolgend soll es jedoch weder um Phänomene der phylogenetischen Dynamik wie beim kollektiven Sprachwandel gehen noch um ontogenetische Prozesse wie beim Spracherwerb oder bei anderen zeitlichen Veränderungen des Verarbeitungssystems von Kommunikationsbeteiligten� Vielmehr werden – ganz im Sinne der synchronen Linguistik – Beispiele betrachtet, die sich auf die aktualgenetische Dynamik unmittelbar während der Verarbeitung von Äuße-rungen beziehen� Dabei genügt es vorerst, sich auf die Betrachtung einfacher Fälle von rezeptionsdynamischen Phänomenen bei der grammatischen und semantischen Strukturbildung zu beschränken� Genereller gesehen ist Sprach-verarbeitung aber auf allen linguistischen Ebenen von aktualgenetischen Pro-zessen zentral betroffen� Das wurde in der Linguistik – trotz aller prinzipiellen Einsicht in die vielfältige Kontextabhängigkeit von Sprachverarbeitung z�B� bei Metaphern und Metonymien – bisher zu wenig berücksichtigt� Dieser Mangel ist möglicherweise einerseits damit zu erklären, dass die aktualgenetische Dynamik von Sprachverarbeitung Kommunikationsbeteiligten oft nicht bewusst wird und auch in linguistischen Lehrbüchern bisher nicht als vorrangig zu behandelndes Problem gilt� Andererseits werden aktualgenetische Prozesse in der Linguistik teilweise zu Unrecht als Performanzphänomene eingestuft, mit denen man sich nicht zu befassen brauche, weil es nur um die Untersuchung von Sprachkom-petenz gehe� Dabei ist die Beherrschung dynamischer Prozesse eine besonders erstaunliche kommunikative Fähigkeit und deshalb sollten die ihr zugrunde- lie-genden Verfahren systematisch untersucht werden� Genereller gesehen geht mit einer Erforschung der aktualgenetischen Dynamik von Kommunikation aber die Zielsetzung einher, dass man nach einer Erklärung für relevante kommuni-kative Phänomene sucht und dadurch die Linguistik auch in stärkerem Maße zu einer erklärungsorientierten Wissenschaft machen kann�

Als erstes, noch sehr einfaches Beispiel soll der verarbeitungsdynamische Effekt von folgendem Satz betrachtet werden�

(1/ 2a) Der Soldat betrat die Wachstube, nachdem er seinen Spind aufgeräumt hatte.

Bei einer Lektüre von (1/ 2a) werden Leser/ innen i�Allg� zunächst sagen, dass an (1/ 2a) nichts Auffälliges festzustellen ist� Das spricht bereits für die Mühelosig-keit, mit der sie bestimmte dynamische Prozesse bewältigen� Das (1/ 2a) zugrun-deliegende Problem wird aber deutlich, wenn man (1/ 2a) zu

(1/ 2b) Der Soldat holte die Wachstube, nachdem er seinen Spind aufgeräumt hatte.

variiert� Ein Vergleich von (1/ 2a) und (1/ 2b) zeigt nämlich, dass es von der Wahl des Verbs bzw� von seiner Bedeutung abhängt, wie das schriftsprachlich präsen-tierte Kompositum Wachstube zu segmentieren und zu interpretieren ist� Wie lässt sich dieser Effekt erklären? Offensichtlich wird trotz der morphologischen Korrektheit beider Zerlegungsmöglichkeiten des Kompositums jeweils die Seg-mentierung und die Interpretation gewählt, die im Sinne der Qualitätsmaxime von Grice (1975) zur Darstellung eines mit größerer Wahrscheinlichkeit beste-henden Sachverhalts führen� Neutraler formuliert basiert die Interpretation von (1/ 2a) und (1/ 2b) dann auf der Erwartung einer sachlichen Korrektheit der Aus-sagen von (1/ 2a) und (1/ 2b) und dem zugehörigen Prinzip, die dieser Erwar-tung entsprechende Äußerungsanalyse zu präferieren� Ggf� sind es aber auch auf dieser Erwartung beruhende Kookkurrenzeigenschaften, die schnelle Interpre-tationsentscheidungen ermöglichen, also z�B� das Wissen, dass das Verb betre-ten i�Allg� zusammen mit einem ortsbezeichnenden Akkusativobjekt verwendet wird� Zugleich wird deutlich, dass die jeweilige Segmentierung von Wachstube schon während der inkrementellen Verarbeitung der beiden Sätze gewählt wird, nämlich schon bei der Rezeption dieses Kompositums� Dagegen tritt bei einer mündlichen Äußerung von (1/ 2a) und (1/ 2b) kein Segmentierungsproblem auf, weil die Teilwörter von Wachstube dann phonetisch unterschiedlich ausgespro-chen werden� Unabhängig davon belegen (1/ 2a) und (1/ 2b) exemplarisch und im Einklang mit den Aussagen des Strukturalismus, dass die Segmentierung von Texten (im mündliche Kommunikation umfassenden Sinne) in kleinere Einhei-ten bei der Rezeption eine zentrale Strukturierungsaufgabe bildet� Das betrifft jedenfalls die Unterteilung von Texten in Sätze, die von Sätzen in Satzglieder, die von Satzgliedern in Wörter und partiell die von Wörtern in Morpheme (vgl�

hierzu Abschnitt 4�1�2 und 6�1�2)� Deshalb ist es linguistisch notwendig, die der Segmentierung zugrundeliegenden Prinzipien zu ermitteln�

Die Betrachtung mehrdeutiger Wörter und syntaktisch ambiger Konstruk-tionen hat zwar schon eine lange Tradition in der Linguistik; es wurde aber nicht berücksichtigt, dass Rezipierende ständig mit solchen Desambiguierun-gen befasst sind� Eine lokale kotextuelle Beeinflussung von Strukturierung und Bedeutungszuordnung wie bei den Sätzen (1/ 2a) und (1/ 2b) findet nämlich fort-während bei der Äußerungsrezeption statt; nur wird das den Beteiligten zumeist selbst nicht bewusst� Deshalb gelten manifeste Beispiele von aktualgenetischer Dynamik auch in der Linguistik manchmal zu Unrecht als Beleg dafür, dass solche Phänomene eher der Ausnahme- als der Normalfall sind� Auffällig ist diese Dynamik dagegen insbesondere bei prägnanten Beispielen inkrementell

verarbeiteter Garden- Path- Sätze� Mit bestimmten Arten solcher Sätze beschäfti-gen sich z�B� auch Bader et al� (2000); ihre Analysen sind aber in verschiedener Hinsicht unzureichend (s�u�)� Leicht erklären lässt sich jedenfalls, was bei der Rezeption von folgendem Satz geschieht�

(1/ 2c) Peter würde gerne das lustig herumspringende Fohlen fotografierende Mädchen kennenlernen.

Liest man von Satz (1/ 2c) nur die erste Zeile, dann kann man wegen der Nähe von das zu lustig und aufgrund eines syntaktischen Bildungsmusters und des-sen Kongruenzbedingungen zunächst annehmen, dass mit dem Artikel das die Konstituente einer Singular- Nominalphrase beginnt, die mit der Adjektivphrase lustig herumspringende fortgesetzt wird und die mit dem Nomen Fohlen endet�

Der anschließende Äußerungsteil fotografierende Mädchen erzwingt dann aber aufgrund der Erwartung von grammatischer Korrektheit von (1/ 2c) eine andere, durch eine mentale Reparatur zu erreichende syntaktische Analyse, nämlich eine diskontinuierliche Verknüpfung von das mit der Wortsequenz fotografierende Mädchen zu einer Nominalphrase, in die lustig herumspringende Fohlen als eine mit dem Adjektiv fotografierende gehörige Plural- Nominalphrase eingebettet ist.

An Beispielen wie (1/ 2c) kann man zunächst die Relevanz von vier matiktheoretischen Begriffen deutlich machen� Erstens ist (1/ 2c) ein gram-matisch korrekter Satz, weil (1/ 2c) im Einklang mit den syntaktischen Regeln für Sätze gebildet wird� Zweitens ist (1/ 2c) vollständig, weil in (1/ 2c) keine für einen abgeschlossenen Satz erforderlichen Konstituenten fehlen� Das schließt nicht aus, dass man (1/ 2c) durch Hinzufügung weiterer Konstituenten noch zu einem längeren Satz ausbauen könnte� Drittens ist (1/ 2c) wegen der Verarbei-tungsschwierigkeit durch das Garden- Path- Problem nicht besonders effizient und eine zweckmäßigere Formulierung wäre Peter würde gerne das Mädchen kennenlernen, das lustig herumspringende Fohlen fotografiert� Viertens kann eine Äußerung kein uneingeschränkt akzeptabler Satz sein, wenn sie eine der drei Erwartungen von syntaktischer Korrektheit, Vollständigkeit und Effizienz nicht erfüllt� Insbesondere ist deshalb ein grammatisch korrekter und vollständiger, aber partiell ineffizienter Satz auch nur eingeschränkt akzeptabel� Das lässt sich allerdings nicht immer durch Akzeptabilitätsbefragungen eindeutig nachweisen�

Deshalb ist in solchen Fällen z�B� eine zusätzliche Messung von Verarbeitungs-zeiten zweckmäßig; ohnehin hat sich dieses Verfahren in der Psycholinguistik speziell für die Erforschung von Rezeptionsprozessen bewährt� Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Einstufung eines Satzes als nicht oder als nur einge-schränkt akzeptabel auch auf der Verletzung von Korrektheits- , Vollständigkeits- oder Effizienzerwartungen semantischer oder pragmatischer Art beruhen kann�

Deshalb muss man bei Anwendung von Akzeptabilitätstests immer versuchen, solche Einflüsse in den Testsätzen auszuschalten (vgl� etwa Kindt 2016b: 351)�

Weiterhin macht (1/ 2c) verarbeitungstheoretisch gesehen deutlich, dass eine Klärung der Frage, welche Äußerungsteile aufgrund welcher Verarbeitungs-prinzipien bevorzugt zu einer größeren Konstituente verknüpft werden, neben Segmentierung und Klassifikation eine weitere zentrale Aufgabe der Strukturbil-dung in Texten ist� Dabei werden neben Korrektheitserwartungen auch Prinzi-pien wie z�B� das in 1�2�1 erwähnte Gestaltprinzip der Nähe herangezogen� Somit beschränkt sich die syntaktische Verarbeitung nicht auf eine Anwendung gene-reller Konstituentenregeln� Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht nur das Zustandekommen einer Verknüpfung zwischen zwei Segmenten, sondern auch die Art der jeweils bevorzugt gewählten Verknüpfung eine wichtige Rolle für den Prozess der Strukturzuordnung spielen� Das zeigt z�B� der Satz

(1/ 3a) Die neue Schülerin lobte gestern der Deutschlehrer.

Zunächst ist an (1/ 3a) interessant: Dass die kontextfreie Darbietung von (1/ 3a) ebenso wie bei (1/ 2c) evtl� eine syntaktische und semantische Reanalyse erfor-derlich macht, wird Rezipierenden vermutlich oft nicht bewusst� Jedenfalls prä-feriert man bei einer inkrementellen Wort- für- Wort- Verarbeitung von (1/ 3a) für die Sequenz Die neue Schülerin zunächst eine Kategorisierung als Nominativ- Nominalphrase sowie wegen der Nähe und Kongruenz zum finiten Verb lobte eine serielle Valenzverknüpfung mit dem Verb in der syntaktischen und seman-tischen Funktion als Subjekt� Diese Analyse wird aber später revidiert, weil die Sequenz der Deutschlehrer zugunsten der erwarteten grammatischen Korrekt-heit von (1/ 3a) als Nominativ- Singular- Nominalphrase und als Subjekt einzu-stufen ist� Deshalb muss man die neue Schülerin jetzt als Akkusativ- Objekt mit dem Verb lobte verknüpfen� Dagegen ist die ursprüngliche Analyse offensicht-lich kausal durch das Prinzip zu erklären, dass man Satzglieder, die in der Erst-position eines Aussagesatzes stehen und die sich als Nominativ- Nominalphrasen kategorisieren lassen, bevorzugt als Subjekt einstuft, sofern das zumindest vor-erst grammatisch zulässig ist� Dieser auch experimentell nachgewiesene Effekt (vgl� schon Hemforth 1993) zeigt sich noch deutlicher bei folgender Variante von (1/ 3a)�

(1/ 3b) Die neue Schülerin lobte gestern die Deutschlehrerin.

Auch hier wird eine Subjekteinstufung von Die neue Schülerin durch die Nähe und Kongruenz zu lobte unterstützt� Zugleich kann die Nominalphrase die Deutschlehrerin das vom Verb benötigte Akkusativ- Objekt bilden und deshalb nimmt man anders als in (1/ 3a) keine Revision der Subjekteinstufung von Die

neue Schülerin vor� Dagegen bleibt nach der Aussage von Bader et al� (2000: 35) unklar, welche Nominalphrase das Subjekt und welche das Objekt bildet� Im Unterschied zu (1/ 3a) wird die Subjektkategorisierung aber manchmal sogar dann noch beibehalten, wenn sie die zu verarbeitende Äußerung als syntaktisch inkorrekt erscheinen lässt� Z�B� liegt es nahe, der Äußerung

(1/ 4a) Maria hat gestern die Lehrerin eine SMS geschrieben.

einen grammatischen Fehler zu unterstellen, ihn mental zu korrigieren und evtl�

explizit zu monieren, es müsse in (1/ 4a) der Lehrerin statt die Lehrerin heißen�

Die Möglichkeit einer syntaktischen Analyse von Maria als Dativ- Objekt und von (1/ 4a) als zwar grammatisch korrekter, aber nur eingeschränkt akzeptabler Satz wird dann nicht erkannt oder nicht präferiert� Dagegen müsste man nach Auffassung von Bader et al� davon ausgehen, dass die Lehrerin eindeutig als Sub-jekt erkannt wird� Dabei werden aber zwei wichtige Umstände nicht berücksich-tigt� Erstens ist gemäß einer Grundwortstellung (vgl� Abschnitt 3�2�1) erwartbar, dass bei zwei auf das finite Verb folgenden Objekten das erste ein Dativ- Objekt bildet� Zweitens liegt ein typisch dynamischer Effekt vor: Je länger der präferier-ten Kategorisierung und Valenzverknüpfung eines Satzglieds sowie der Unter-stützung dieser Analyse durch nachfolgende Satzglieder nicht durch andere syntaktische Informationen eindeutig widersprochen wird, desto stabiler ist die Analyse und desto schwieriger wird eine Restrukturierung� Anders als bei (1/ 4a) verhält es sich offensichtlich bei

(1/ 4b) Maria hat gestern der Lehrer eine SMS geschrieben.

Hier stuft man die Nominalphrase Maria vermutlich analog zu (1/ 3a) vorläufig als Subjekt ein und entscheidet sich später trotz des Reanalyseaufwands zuguns-ten einer syntaktischen Korrektheit von (1/ 4b) eindeutig für die Kategorisierung von der Lehrer als Subjekt, obwohl auch eine Analyse als Genetiv- Plural- Phrase möglich wäre, die man dann mental zu dem Lehrer korrigieren müsste� Erklären lässt sich die Subjekteinstufung von der Lehrer evtl� dadurch, dass die Wahr-scheinlichkeit einer solchen Einstufung relativ groß ist und jedenfalls größer als bei die Lehrerin in (4/ 1a)�

Angesichts der verschiedenen Beispiele mit Garden- Path- Effekten ist zu fra-gen, warum man sich bei der Rezeption notwendige Reanalysen nicht dadurch erspart, dass man mit der Kategorisierung mehrdeutiger Segmente so lange war-tet, bis feststeht, dass die jeweilige Äußerungseinheit beendet und dann i�Allg�

eindeutig analysierbar ist� Das hängt – wie man aus der Psycholinguistik weiß – mit der begrenzten und sparsam zu nutzenden Kapazität des Arbeitsgedächtnis-ses sowie mit der wünschenswerten Verarbeitungsgeschwindigkeit zusammen�

Einerseits reicht diese Kapazität ohnehin nicht für die Aufnahme längerer Äuße-rungen aus, wie schon vor langer Zeit u�a� am Beispiel eingebetteter Relativsätze nachgewiesen wurde (vgl� etwa Engelkamp 1974: 36ff�)� Andererseits erweist es sich offensichtlich als effizienter, die für den jeweiligen Kontext und im Normal-fall geltenden Verarbeitungsresultate möglichst schnell zu erreichen und dafür in Kauf zu nehmen, dass in seltenen und schon bei der Äußerungsproduktion möglichst zu vermeidenden Ausnahmefällen zusätzliche Verarbeitungszeiten für eine Struktur- und/ oder Bedeutungsrevision erforderlich werden� Weiterhin stellt sich die Frage, wie die an den Beispielen (1/ 3a) - (1/ 4b) belegte Präferenz für eine Subjektkategorisierung topikalisierter Satzglieder bei der Rezeption zu erklären ist� Als eine erste, vorläufige Antwort auf diese Frage liegt die Annahme nahe, dass Rezipierende Äußerungen zunächst immer so analysieren, wie es dem nach der Vorkommenshäufigkeit wahrscheinlichsten Fall entspricht; anders ver-halten sie sich nur, wenn sie schon wissen, dass eine Ausnahme von der zuge-hörigen Normalfallregularität vorliegt� Deshalb ist es bei einer angemessenen Erforschung von Sprachverarbeitung grundsätzlich erforderlich, das in gängigen Grammatikmodellen nicht erfasste nichtmonotone Schließen (oder sog� Default- Schließen) mithilfe von Normalfallregularitäten oder - prinzipien aus dem Welt- und Kommunikationswissen als rekurrent verwendetes logisches Verfahren zu berücksichtigen (vgl� etwa Kindt 1994b)� Bei den diskutierten Beispielen besagt das zugehörige Verarbeitungsprinzip dann, dass man ein Satzglied in der Erst-position von Aussagesätzen, das sich als Nominativ- Nominalphrase analysieren lässt und das kasusmäßig nicht explizit anders markiert oder kotextuell determi-niert ist, i�Allg� als Subjekt des Satzes einstuft� Insofern verschiebt sich die Suche nach einer Erklärung auf die Frage, warum Produzenten zumeist die betreffende Reihenfolge präferieren� Diesbezüglich kann man zwar zunächst darauf ver-weisen, dass in den Sprachen der Welt überwiegend die Abfolge „Subjekt vor Objekt“ realisiert wird� Dieser Umstand liefert aber noch nicht die gewünschte kausale Erklärung� Tatsächlich sind für diese Abfolge wieder bestimmte system-theoretisch begründbare Sachverhalte verantwortlich, die sich auf den zeitlichen Verlauf des Geschehens, auf zugehörige Fokussierungsstrategien bei der Wahr-nehmung der externen Situation oder eines mentalen Modells und auf die unter-schiedliche Attraktion der betrachteten Referenzobjekte beziehen� Das kann man an elementaren Aussagesätzen wie z�B�

(1/ 5) Karl wirft den Stein ins Wasser.

plausibel machen� Die Wortstellung in (1/ 5) befolgt nämlich insofern das ikonische Prinzip einer natürlichen Reihenfolge (vgl� Kindt 1994c, 2001a), als die sukzessive Nennung der drei Referenzobjekte dem zeitlichen Ablauf bei der Wahrnehmung

der durchgeführten Handlung entspricht: Zunächst nimmt man den Akteur wahr, danach das Wurfobjekt und schließlich das Ziel des Wurfes� Außerdem werden die dem grammatischen Subjekt zugeordneten Referenten/innen vermutlich auch deshalb oft zuerst fokussiert und als Topik von Aussagen gewählt, weil sie in den drei von Osgood et al� (1957) identifizierten emotiven Grunddimensionen oft höhere Werte als die anderen Referenzobjekte besitzen, also in den Dimensionen der Potenz (stark- schwach), der Dynamik (aktiv- passiv) und der Valenz (wichtig- unwichtig)� Somit ziehen diese Referenten/innen zwangsläufig eine besondere Aufmerksamkeit auf sich�

Gehören das Prinzip der präferierten Subjektkategorisierung in der Erst-position und ihre Auswirkungen auf die Sprachverarbeitung nun eigentlich zum (impliziten) syntaktischen Wissen von Kommunikationsbeteiligten, also in den Untersuchungsbereich der Grammatiktheorie und somit zur sog� Kom-petenzlinguistik? Diese Frage ist aus kommunikationsorientierter Perspektive eindeutig zu bejahen� Die Beteiligten sollten nämlich ‚wissen‘, wie Äußerungen üblicherweise strukturiert und verstanden werden� Und wenn Formulierende in Fällen wie (1/ 3b) und (1/ 4a) eine andere grammatische Analyse als die prä-ferierte intendieren, dann wäre es zweckmäßig, dass sie von vornherein eine andere, ihrer Intention besser entsprechende Formulierung verwenden� Satz (1/ 4a) liefert übrigens auch schon ein Beispiel für ein typisches Trägheitsphäno-men dynamischer Systeme: Die ‚Kraft‘ der syntaktischen Korrektheitserwartung reicht bei (1/ 4a) anders als bei (1/ 3a) und (1/ 4b) nicht aus, um die die bereits durchgeführte Kategorisierung von Maria aus der ‚Position‘ der Subjektlesart

‚herauszubewegen‘ und in die ‚Position‘ des Dativ- Objekts zu bringen; das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Lehrerin mehrdeutig ist und dass bei ihr anders als bei der Lehrer in (1/ 4b) die Einstufung als Nominativ- Nominalphrase nicht eindeutig präferiert wird� Einerseits machen die hier zur Phänomenbe-schreibung genutzten metaphorischen Termini die Analogie zur Dynamik phy-sikalischer Bewegungsvorgänge deutlich� Andererseits zeigt sich, dass die zur Analyse einsetzbaren Verarbeitungsprinzipien in Konflikt miteinander geraten können und dass dann geklärt werden muss, wie Rezipierende in solchen Fällen verfahren�

Zugunsten einer systematischen Darstellung soll nach den ersten Beispieldis-kussionen noch genauer formuliert werden, was unter aktualgenetischer Dyna-mik von Sprachverarbeitung zu verstehen ist� Definitionsgemäß kommt ein Sprachverarbeitungsresultat genau dann durch die aktualgenetische Dynamik des Verarbeitungssystems zustande, wenn es durch einen während der Kommu-nikation vorliegenden Kontexteinfluss verursacht ist, also wenn andere mögliche Kontextbedingungen auch zu einem anderen Resultat hätten führen können� So

ist die Subjektkategorisierung der Nominalphrase Maria aufgrund der Erstposi-tion in Satz (1/ 4a) aktualgenetisch verursacht, weil diese Einstufung hinfällig wird, wenn man z�B� vor Maria den Artikel der einfügt und damit eine Analyse von Maria als Dativ- Objekt erreicht, wie folgender Satz zeigt�

(1/ 4c) Der Maria hat gestern die Lehrerin eine SMS geschrieben.

Ein ähnlicher Effekt tritt auf, wenn der Satz (1/ 4a) nicht isoliert präsentiert wird, sondern wenn ihm ein Fragesatz vorausgeht, der eine Erstposition von Dativ- Objekten eher erwartbar macht�

(1/ 4d) Die Lehrerin hat wem gestern eine SMS geschrieben? Maria hat gestern die Lehrerin eine SMS geschrieben.

Die sog� Echofrage in (1/ 4d) mit der Nachstellung des Frageworts wem begüns-tigt nämlich die Wahl einer Informationsstruktur für den Aussagesatz, die man in der Linguistik üblicherweise mit dem Spaltsatz Es ist Maria, der die Lehre-rin gestern eine SMS geschrieben hat paraphrasiert (vgl� Abschnitt 3�4)� Trotz-dem scheint die Einstufung von Maria als Dativ- Objekt erschwert zu sein� Noch schwieriger ist sie möglicherweise bei der Fragesatz- Wortstellung in

(1/ 4e) Wem hat die Lehrerin gestern eine SMS geschrieben? Maria hat gestern die Lehrerin eine SMS geschrieben.

Grundsätzlich muss man also mehrere Fälle der Herkunft von

Grundsätzlich muss man also mehrere Fälle der Herkunft von

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