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systemtheoretischer Perspektive

4.2 Systemtheoretische Linguistik als sukzessiv zu entwickelndes Paradigma

4.2.2 Fragestellungen und Ziele

Was den zweiten Paradigma- Aspekt anbetrifft, so ist in einer systemtheoreti-schen Konzeption ein partieller Perspektivenwechsel erforderlich� Der wesentli-che Grund für diesen Wechsel liegt in der Zielsetzung, bei jeder sprachbezogenen Untersuchung den empirischen Zusammenhang mit den zugrundeliegenden, für die Produktion oder Rezeption verantwortlichen Systemen zu berücksichtigen�

Konkreter gesagt bedeutet das: Wenn in einem grammatiktheoretischen Ansatz für Äußerungen eines bestimmten Typs eine zugehörige syntaktische Struktur postuliert wird, dann sollte sie den Verarbeitungsverfahren und - resultaten von Kommunikationsbeteiligten möglichst gut entsprechen� Diese Bedingung wird oft nicht erfüllt, wie schon exemplarisch gezeigt wurde� Außerdem ist bei ver-arbeitungsorientierten Analysen aus Produzierenden- und Rezipierendensicht

immer zu fragen: Wenn bereits ein Äußerungsstück oder eine Äußerung A1 for-muliert wurde, welche Möglichkeiten einer regelgerechten grammatischen Fort-setzung gibt es dann unter den bestehenden Kontextbedingungen? Welche Regel und/ oder welches Prinzip liegt der gewählten Äußerungsfortsetzung A2 evtl�

zugrunde, auf welche Weise wird A2 mit A1 verknüpft und welche kommunika-tive Funktion ist damit verbunden? Die Relevanz dieser Fragen soll zunächst an einem einfachen Beispiel illustriert werden, das die in Abschnitt 3�2 und 3�4�1 angesprochene Thematik der sog� Frage- Antwort- Ellipsen wieder aufgreift�

Als Kontext des Beispiels wird angenommen, dass in einer Schulklasse eine Mathematikarbeit geschrieben wurde� Am Ende der Stunde fragt der Lehrer:

(4/ 4j) Wer fehlt heute mal wieder?

Auf (4/ 4j) ist eine Antwort erwartbar und sie ließe sich von einem/ r Schüler/ in oder vom Lehrer geben� Syntaktisch gesehen besteht keine Einschränkung für eine Fortsetzung der Kommunikation, weil (4/ 4j) einen abgeschlossenen Satz bilden kann� Deshalb wäre z�B� der eigenständige Satz

(4/ 4k) Das war natürlich Karl.

eine mögliche Antwort auf (4/ 4j), die zudem im Einklang mit der früher in Schulen postulierten Norm „Sprich in ganzen Sätzen!“ steht� Effizienter ist es aber, (4/ 4j) nur mit einer Nominalphrase zu beantworten, und z�B� könnte der Lehrer ironisch gemeint sagen:

(4/ 4l) Mein besonderer Freund Karl.

Sofern auf (4/ 4l) noch ein Satz folgt oder die Kommunikation danach endet, bil-den (4/ 4j) und (4/ 4l) nach dem in Abschnitt 3�2 und 3�4�1 erwähnten Kriterium von Bloomfield (1926) zusammen einen Satz, weil mit ihnen eine maximale grammatisch unabhängige Einheit vorliegt� Insbesondere ist (4/ 4l) eine syntak-tisch korrekte Satzfortsetzung von (4/ 4j), was sich daran erkennen lässt, dass die Antwort (4/ 4l) eine NP sein und ihr Kasus mit dem des Fragepronomens wer in (4/ 4j) übereinstimmen muss� Deshalb hängt (4/ 4l) vom Fragepronomen gram-matisch ab� Möglicherweise hat man diesen für die Modellierung von Frage- Antwort- Sequenzen wichtigen Sachverhalt in Grammatiktheorien wegen der fehlenden inkrementellen Untersuchungsperspektive nicht erkannt�

Auch die Diskussionen z�B� über Garden- Path- Sätze in Abschnitt 1�3 und über Abweichungen von Standardwortstellungen in Abschnitt 3�3�1 haben die Zweck-mäßigkeit verarbeitungsorientierter Äußerungsanalysen gezeigt� Außerdem besteht ein wesentlicher Vorteil solcher Analysen darin, dass man im Zusam-menhang mit ihnen zwangsläufig kausale und funktionale Warum- Fragen stellt

und zu beantworten versucht� Dagegen wurden solche Fragen in der Linguistik evtl� aufgrund der vorrangigen Beschreibungserfordernisse bisher teilweise aus-geblendet und dadurch kann auch das Interesse an einer Erklärung relevanter kommunikativer Phänomene verloren gegangen sein� Es wäre aber zugunsten einer größeren Attraktivität der Linguistik wünschenswert, wenn solche Phäno-mene in Zukunft verstärkt untersucht würden und wenn dann auch Lehrbücher häufiger auf entsprechende Erklärungen eingehen könnten� Stattdessen kon-zentrieren sich die Lerninhalte dort oft auf eine Einführung von Taxonomien, was zwar eine notwendige, aber von Studierenden als eine eher langweilig em -pfundene Aufgabe von Wissenschaft bildet� Eine stärkere Aufmerksamkeit ließe sich z�B� auf erklärungswürdige Sachverhalte in Morphologie und Syntax des Deutschen wie den folgenden lenken� Welche Ursachen haben die verschiede-nen dynamischen Effekte bei Garden- Path- Sätzen? Warum gilt für pronominale Satzglieder statt der Grundabfolge von Dativ- vor Akkusativobjekt im Mittelfeld die umgekehrte Reihenfolge? Warum gibt es so viele mehrdeutige Formen in den Flexionsparadigmata und erschwert das nicht die erforderliche Strukturzu-ordnung? Wie erklärt sich, dass es zwar Nomina im Maskulinum und im Neu-trum mit einer sog� Nullmorphem- Realisierung des Plurals gibt, nicht aber im Femininum? Warum gibt es im Deutschen diskontinuierliche Konstituenten, die in Sätzen wie z�B�

(4/ 4m) Maria hörte gestern Abend wegen des Anrufs einer französischen Freundin mit dem Schreiben ihres Manuskripts auf.

die inkrementelle grammatische Analyse und die Bedeutungszuordnung erschweren? Die Liste solcher Fragen, die in Einführungsbüchern ungestellt und unbeantwortet bleiben, lässt sich leicht verlängern� Zugehörige Antworten wür-den sich aber oft dadurch finwür-den lassen, dass man nach wür-den verarbeitungstheo-retischen Gründen oder Konsequenzen der betreffenden Phänomene sucht� Das wurde für die ersten beiden Fragen schon in Abschnitt 1�3 und 3�3�1 gezeigt� Zur Beantwortung der dritten Frage kann man zeigen, dass eine Desambiguierung mehrdeutiger Flexionsformen für Rezipienten i�Allg� nicht besonders aufwendig ist, weil sie zumeist schon im lokalen Kotext erfolgt (so z�B� bei Nominalphrasen durch die Kombination von bestimmtem Artikel und Nomen)� Weiterhin lässt sich der Unterschied in der Pluralbildung von Nomina möglicherweise damit erklären, dass die Mehrdeutigkeit von Nominalphrasen mit Femina- Nomina ohne Pluralendung relativ groß wäre� Z�B� gibt es bei Maskulina wie Esel nur zwei zweideutige Artikel- Nomen- Kombinationen, nämlich der Esel und die Esel�

Eine fehlende Pluralendung beim Femininum Sichel würde dagegen zu der drei-deutigen Phrase der Sichel und zur vierdrei-deutigen die Sichel führen� Schließlich

hängt die Endstellung des Präfixes auf in (4/ 4m) damit zusammen, dass ein sol-ches Präfix im Deutschen das Ende des Mittelfeldes signalisiert und dass sich bestimmte Satzglieder dann ins Nachfeld verschieben lassen, um die Verarbei-tung von Sätzen zu erleichtern� Im speziellen Fall von (4/ 4m) hat das allerdings den Nachteil, dass Rezipierende in (4/ 4m) sehr lange auf das Mittelfeldende war-ten und ihre Bedeutungswahl für hören evtl� revidieren müssen, bis sie dem Verb aufhören am Satzende die vorgesehene Bedeutung zuordnen können� Dieses Problem würde sich aber durch eine Ausklammerung der Präpositionalphrase wegen des Anrufs einer französischen Freundin vermeiden oder verkleinern las-sen, wie folgende Variante von (4/ 4m) zeigt�

(4/ 4n) Maria hörte gestern Abend mit dem Schreiben ihres Manuskripts auf wegen des Anrufs einer französischen Freundin.

Dagegen ist die Ausklammerung der obligatorischen PP von (4/ 4m) nur ein-geschränkt akzeptabel�

(4/ 4o) Maria hörte gestern Abend wegen des Anrufs einer französischen Freundin auf mit dem Schreiben ihres Manuskripts.

Allerdings lässt sich eine Aufzählung obligatorischer Ergänzungen gemäß dem Prinzip der „Verlagerung schwerer Glieder“ akzeptabel ausklammern (vgl�

Abschnitt 3�3�2� Das belegt

(4/ 4p) Maria hörte gestern Abend auf mit dem Naschen, mit dem Grübeln und mit dem Schreiben ihres Manuskripts.

Insgesamt gesehen könnte eine Beantwortung derartiger Erklärungsfragen zu einer theoretischen und empirischen Horizonterweiterung bei der Linguistik führen und damit das studentische und öffentliche Interesse an ihren Ergeb-nissen vielleicht erhöhen� Jedenfalls ist geltend zu machen, dass ein expliziter systemtheoretischer Rahmen die Suche nach kausalen und funktionalen Erklä-rungen für linguistisch beobachtbare Phänomene erleichtert� Grund hierfür ist das Erfordernis, jedes Verhalten eines Systems auf externe Input- Einflüsse und innere Zustandseigenschaften sowie auf zugrundeliegende Systemregularitäten zurückzuführen und auch die möglichen Auswirkungen auf andere Systeme zu ermitteln� Diese Sichtweise führt außerdem dazu, neue Erklärungsfragen zu stellen, die sich nicht so schnell wie die oben genannten beantworten lassen�

Weshalb verfügen natürliche Sprachen nur über ein sehr begrenztes Inventar an Phonemen? Weshalb verläuft bei kleinen Kindern die Sprachentwicklung teil-weise so unterschiedlich? Warum sind Sätze mit mehrfachen Vergleichen, wie das bekannte Beispiel Karl ist jetzt doppelt so alt wie Fritz war, als Karl so alt war wie Fritz jetzt ist so unverständlich? Zugunsten welcher Funktion wird im

Deutschen in unterschiedlicher Weise von Wortstellungsvarianten in Nominal-phrasen Gebrauch gemacht, so z�B� bei Die große rote Kugel vs� Die rote große Kugel oder bei Das erste wichtige Argument vs� Das wichtige erste Argument (s�

hierzu Abschnitt 6�3)� Natürlich lassen sich solche Fragen auch im systemtheo-retischen Rahmen nicht immer schnell beantworten� Aber immerhin ermöglicht ein solcher Rahmen eine gezieltere Suche nach den gewünschten Erklärungen, weil der Zwang zu einer Identifikation relevanter Einflussfaktoren in den betei-ligten Systemen erhöht ist� Die positiven Konsequenzen dieses Zugzwangs werden in den nachfolgenden Ausführungen durch weitere Modellierungsvor-schläge für bestimmte relevante Phänomene konkretisiert�

4.2.3 Hintergrundtheorien

Als eine Hintergrundtheorie für die Linguistik kann man eine Theorie bezeich-nen, die für die Entwicklung bestimmter linguistischen Theorien und Methoden hilfreich ist und deren Geltung aufgrund ausreichender positiver Erfahrungen in der Herkunftswissenschaft vorausgesetzt werden darf� So gesehen müsste sich die Linguistik aufgrund der Komplexität ihres Gegenstandsbereichs eigent-lich explizit auf eine wissenschaftslogische Konzeption für den Aufbau und die empirische Überprüfung von Theorien beziehen, wie sie mit unterschiedlichen Anteilen in der Logik, in der Philosophie und in anderen empirischen Wissen-schaften formuliert wird� Das wurde schon an verschiedenen Beispielen plausi-bel gemacht�

Wichtige kommunikationsspezifische Hintergrundtheorien für die Linguis-tik aus der Philosophie waren insbesondere semioLinguis-tiktheoretische Ansätze, die Sprechakttheorie sowie die Theorie der Konversationsmaximen� Diese Theorien sind zugleich Beispiele dafür, dass Hintergrundtheorien kritisch hinterfragt und für linguistische Zwecke weiterentwickelt werden müssen� Ein anderes solches Beispiel bildet die Argumentationstheorie von Toulmin (1957) (s� Kapitel 8)�

Anders verhält es sich mit den Theorien, die in der Semantik aus der Logik übernommen wurden� In diesem Fall hätte man im Rahmen einer interdiszi-plinären Kooperation klären sollen, wie sich bestimmte logische Konzepte an die Erfordernisse einer Modellbildung in der Linguistik geeignet anpassen oder modifizieren lassen� Das betrifft insbesondere die semantischen Konzepte der Situation, der Interpretation, der Geltung und der Folgerung�

Eine unmittelbare Grundlage für die hier vorgeschlagene Linguistikkonzep-tion bildet die allgemeine mathematische Theorie der Input- Output- Systeme� Aus dieser Theorie ergibt sich nämlich eine geeignete forschungsleitende Konzeptua-lisierung von Kommunikation� Da es in Systemen außerdem um Eigenschaften

und Beziehungen von Objekten geht, kann zugleich auf den Beschreibungsrah-men der Mengentheorie und ihres Strukturkonzepts zurückgegriffen werden�

Dabei ist es wegen der besonderen Bedeutung von Teil- Ganze- Strukturen in der Linguistik – wie in Abschnitt 2�1�1 erwähnt wurde – zweckmäßig, die übliche Mengentheorie zu erweitern, indem man einerseits nichtextensionale Objekte zulässt und andererseits die Teilmengenbeziehung zu einer mereologischen Teil-beziehung verallgemeinert� Neben der allgemeinen Systemtheorie sind je nach den zu modellierenden Phänomenen ggf� auch spezielle Arten dieser Theorie von Nutzen� So liegt dem in Abschnitt 2�2�3 für Wahrnehmungen und Bedeu-tungszuordnungen einschlägigen Vagheits- und Hysteresiseffekt eine Trägheits-eigenschaft nichtlinearer Systeme zugrunde und deshalb liefert die Theorie dieser Systeme evtl� weitere für die Modellierung von Kommunikation wichtige Resultate� Möglicherweise kommt für eine Behandlung der dynamischen Phä-nomene bei der Bedeutungskonstitution auch eine Anwendung anderer System-theorien wie z�B� der Synergetik infrage� Vor Vermutungen über entsprechende Einsatzmöglichkeiten empfiehlt es sich, verstärkt empirische Untersuchungen durchzuführen, in denen nach charakteristischen Systemeigenschaften wie Mul-tistabilität, Symmetriebruch etc� gesucht wird�

Aus empirischer Perspektive ist davon auszugehen, dass bestimmte Eigen-schaften biologischer, psychischer und sozialer Systeme auch für die Sprachpro-duktion und - rezeption einschlägig sind� Geltend gemacht wurde vorausgehend für einen Rückgriff auf psychologische Theorien schon, dass die Bildung kom-munikativer Strukturen teilweise auf bestimmten emotiven Prozessen sowie auf einer Anwendung von Gestaltprinzipien beruht� Nicht eingegangen wird dagegen auf bestimmte systemtheoretisch wichtige sozialpsychologische und soziologische Theorien, weil die von ihnen angesprochenen strukturellen und dynamischen Phänomene hier kein Thema sind� Letztlich ist aber auch auf dem Feld empirischer Theorien immer genau zu prüfen, bei welchen Fragestellun-gen die Linguistik von welchen Erkenntnissen anderer Disziplinen im Einzelnen profitieren kann�

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