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G EGENSTAND UND G ANG DER U NTERSUCHUNG

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 64-67)

Art. 6 EMRK wird in einer Vielzahl von Fällen vor dem Menschenrechtsge-richtshof in Strassburg gerügt und ist diejenige EMRK-Bestimmung, mit der sich der EGMR am häufigsten auseinandersetzt.1 Dies zeugt von der funda-mentalen Bedeutung der Verfahrensfairness zum einen für die betroffene Einzelperson, zum anderen aber auch hinsichtlich der Legitimation des staatlichen Strafmonopols schlechthin. Im Bestreben, die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK in den Mitgliedsstaaten einheitlich durchzusetzen, hat der EGMR laufend neue Ausprägungen bzw. Konkretisierungen des Rechts auf ein faires Verfahren hervorgebracht. Die vorherrschende Sichtweise, wonach Art. 6 EMRK ein Konglomerat spezifischer Verteidigungsrechte ist, erfasst meines Erachtens jedoch nicht die gesamte Tragweite der Fairness im Straf-prozess. Denn die von Art. 6 EMRK vermittelten Verteidigungsrechte kommen in einem System von Institutionen zum Tragen. Demzufolge ist es für die Verfahrensfairness entscheidend, wie das Verfahren zu jenem Zeitpunkt in institutioneller Hinsicht konzipiert ist, in dem die kontradiktorische Ausein-andersetzung mit den Beweisen erfolgt.

Nach der Idealvorstellung des EGMR basiert ein Strafurteil auf Beweismitteln, die im Rahmen der Hauptverhandlung abgenommen werden und unter der Leitung eines unparteiischen Gerichts kontradiktorisch auf die Probe gestellt werden können. Die im Jahr 2011 vereinheitlichte StPO räumt den Kantonen aber ein grosses Ermessen ein, wie sie ihr Strafverfahren konzipieren. Es bleibt also weiterhin den Kantonen überlassen, ob die Erhebung und Auseinan-dersetzung mit den Beweismitteln schwerpunktmässig im Vorverfahren oder in der Hauptverhandlung stattfindet. Wenngleich die Ausgestaltung des Strafverfahrens von Kanton zu Kanton stark divergieren kann, sprechen ins-besondere verfahrensökonomische Gründe für eine möglichst umfassende

1 In mehr als einem Viertel der im Jahr 2017 gefällten Urteile (28.05 %) setzte sich der EGMR mit einer geltend gemachten Verletzung von Art. 6 EMRK auseinander, siehe ECHR in facts & figures, 7.

2 Botschaft StPO 2005, 1263.

3 Gemäss dem Jahresbericht der Staatsanwaltschaft ZH wurden bloss 4.5 % aller im Jahr 2017 abgeschlossenen bzw. sistierten Verfahren durch eine Anklage erledigt. In 47.5 % der Fälle erging ein Strafbefehl und 48 % der eröffneten Verfahren wurden mittels Verfah-renseinstellung oder Sistierung erledigt, siehe Jahresbericht 2017, 24.

Einleitung

Auseinandersetzung mit den Beweismitteln im Untersuchungsverfahren. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass gemäss gegenwärtiger Konzeption der StPO die Staatsanwaltschaft dazu angehalten ist, dem Gericht die we-sentlichen Grundlagen für die Beurteilung von Schuld und Strafe entschei-dungsreif zu übermitteln.2 Wenn es zu einer Vorverlagerung solch entschei-dender Verfahrensschritte kommt, die nach dem Verständnis des EGMR eigentlich in die Hauptverhandlung gehören, drängt sich die Frage auf, was dies für die Verfahrensfairness bedeutet.

Ein wesentlicher Bestandteil der Verfahrensfairness ist das Prinzip der Waf-fengleichheit. Dieses Prinzip strebt nach einem verfahrensrechtlichen Aus-gleich zwischen den institutionell übermächtigen Strafverfolgungsbehörden und dem Individuum, das einer Straftat verdächtigt wird. Die Frage, was genau das Waffengleichheitsprinzip nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK für das Strafverfahren bedeutet, steht am Ausgangspunkt der vorliegenden Dissertation.

Die Arbeit ist von der These getragen, dass dem Prinzip der Waffengleichheit nur dann Genüge getan wird, wenn die Staatsanwaltschaft im entscheidenden Verfahrenszeitpunkt als Gegenpartei der beschuldigten Person anerkannt und es Letzterer in verfahrensrechtlicher Hinsicht ermöglicht wird, ihre Sichtweise darzulegen. Inwieweit die schweizerische StPO im Bereich des Vorverfahrens den Erfordernissen einer so verstandenen «Waffengleichheit» gerecht wird, bildet den Schwerpunkt dieser Untersuchung. Es sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen, dass sich die systematische Vorverlegung entscheidender Verfahrensschritte ins Vorverfahren, verbunden mit der verfahrensleitenden Stellung der Staatsanwaltschaft, unter dem Aspekt der «Waffengleichheit» als problematisch erweist. Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit ist es, aufzuzeigen, wie die systematischen Probleme im schweizerischen Vorverfahren de lege ferenda behoben werden können.

Angesichts der eher geringen Anzahl an Fällen, die überhaupt noch im Rah-men einer Hauptverhandlung abgehandelt werden,3 könnte man fragen, weshalb sich diese Arbeit auf das «ordentliche Verfahren» konzentriert und nicht vielmehr die «besonderen Verfahrensarten» in den Fokus rückt.

Aller-dings ist es insbesondere die Möglichkeit zur Durchführung eines ordentli-chen Verfahrens, die zur Rechtfertigung eines Strafbefehlsverfahrens oder ei-nes abgekürzten Verfahrens herangezogen wird. Verweigert sich die be-schuldigte Person einer besonderen Verfahrensform, führt dies zur Abklärung des Tatverdachts im ordentlichen Verfahren unter Gewährung sämtlicher Verteidigungsrechte.4 Die Möglichkeit zur Durchführung eines Strafverfahrens unter Wahrung der «Waffengleichheit» bildet gewissermassen eine Voraus-setzung zur Legitimierung der besonderen Verfahrensarten der Schweiz.

Dass die institutionelle Ausgestaltung des Strafverfahrens für die effektive Gewährleistung der Verteidigungsrechte eine bedeutende Rolle spielt, ist in-sofern keine neue Erkenntnis, als die Reformforderungen des Strafprozesses im 19. und 20. Jahrhundert auf dieser Erkenntnis beruhten. Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich daher dem historischen Hintergrund des Waffen-gleichheitsprinzips im Strafverfahren. Im anschliessenden zweiten Teil wird der Frage nachgegangen, welches Ziel mit der Einhaltung des Prinzips der Waffengleichheit überhaupt erreicht werden soll. Die historische und teleo-logische Betrachtung bildet die Grundlage für die inhaltliche Erörterung des Waffengleichheitsprinzips gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK im dritten Teil der Ar-beit. Der vierte Teil nimmt die schweizerische Ausgestaltung des ordentlichen Strafverfahrens ins Visier und untersucht, ob sich der zeitliche Anwen-dungsbereich des Prinzips der Waffengleichheit auf das schweizerische Vor-verfahren erstreckt. Im fünften Teil wird diskutiert, inwiefern in der Schweiz den Erfordernissen dieses Prinzips im Verfahrensstadium vor Anklageerhe-bung nachgekommen wird und in welchem Bereich ein Verbesserungspo-tenzial auszumachen ist. Abschliessend ist im sechsten Teil auf abstrakter Ebene darauf zurückzukommen, wie mit den systematischen Problemen des Vorverfahrens in dogmatischer Hinsicht umgegangen werden könnte. Hierbei geht es nicht so sehr darum, konkrete Massnahmen auszuarbeiten, sondern vielmehr darum, die jeweiligen Verbesserungsvorschläge vor dem Hintergrund einer Gesamtkonzeption des schweizerischen Strafverfahrens zu diskutieren.

Insofern sollen die Ausführungen in dieser Arbeit dazu dienen, eine Debatte darüber zu entfachen, wie es angesichts der verfahrensleitenden Stellung der Staatsanwaltschaft möglich ist, die Verteidigungsrechte im entscheidenden Vorverfahren zu gewährleisten.

4 Vgl. Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO und Art. 358 Abs. 1i.V.m. Art. 362 Abs. 2 lit. a StPO.

A. Gegenstand und Gang der Untersuchung

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 64-67)