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Achtung der Autonomie als Strafverfahrensziel

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 109-115)

Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess

C. A CHTUNG DER A UTONOMIE DER BESCHULDIGTEN P ERSON

I. Achtung der Autonomie als Strafverfahrensziel

In allgemeiner Weise lässt sich die Autonomie als Fähigkeit umschreiben, selbstbestimmt eine Entscheidung bilden und gemäss dieser Entscheidung handeln zu können.228 Das Verständnis der Verfahrensfairness beruht nach Ansicht des EGMR im Wesentlichen auf der Vorstellung einer selbstbe-stimmten Ausübung der Verfahrensteilhabe.229Indem die beschuldigte Person

227 DEMKO, Menschenrecht auf Verteidigung, 257. Die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, auf die die EMRK in ihrer Präambel verweist, bestimmt, dass «die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerech-tigkeit und Frieden in der Welt bildet».

228 Insofern setzt eine selbstbestimmte Entscheidung eine Auswahl an möglichen Optionen bzw. Verhaltensweisen voraus, vgl. RAZ, 204: «A person is autonomous only if he has a variety of acceptable options available to him to choose from […]».

229 Zur Autonomie als Grundlage der EMRK, vgl. EGMR vom 29.04.2002,Pretty v. Vereinigtes Königreich,Nr. 2346/02, § 61: «[T]he Court considers that the notion of personal auto-Zweiter Teil: Sinn und Zweck des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess

selbst bestimmt, inwieweit sie von ihren prozessualen Mitwirkungs- und Äusserungsrechten Gebrauch machen möchte, wird sie als autonomes Rechtssubjekt ernst genommen.230

Eng verbunden mit der Autonomie ist der Grundsatz der Menschenwürde.231 Was genau unter diesem Begriff verstanden wird, ist indessen nicht nur im Bereich der Rechtswissenschaften umstritten.232 Das Bundesgericht um-schreibt die Menschenwürde als «[d]as letztlich nicht fassbare Eigentliche des Menschen und der Menschen», was sich einer abschliessenden positiven Festlegung entziehe.233Die Offenheit des Rechtsbegriffs beruht auf der ethi-schen Überzeugung, man dürfe sich vom Menschsein kein fixes Bild ma-chen.234Je klarer die Konturen der Menschenwürde ausfallen, desto eher be-steht die Gefahr der Ausgrenzung bestimmter Personen oder eines bestimmten Personenkreises. Das Menschsein entzieht sich gerade wegen der humanen Fähigkeit zur Selbstbestimmung einer abschliessenden Definition.

Die offene Umschreibung der Menschenwürde ist jedoch zugleich proble-matisch. So sehen sich die aus der Menschenwürde abgeleiteten Handlungs-maximen der Kritik ausgesetzt, entweder zu vage formuliert zu sein235oder– falls sie konkret ausformuliert sind – unvermittelt aus dem an sich unbe-strittenen Grundsatz der Menschenwürde abgeleitet worden zu sein.236 Aus dem unbestimmten Grundsatz der Menschenwürde kann jedoch immerhin gefolgert werden, dass die beschuldigte Person als Subjekt im sie betreffenden

nomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees» (im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK); EGMR vom 27.04.2010, Vörður Ólafsson v. Island, Nr. 20161/06, § 46 (im Zusammenhang mit Art. 11 EMRK). Die passive Autonomie be-tonend EGMR vom 17.12.1996, Saunders v. Vereinigtes Königreich,Nr. 19187/91, §§ 68 f.

230 Vgl. CHEN, 53. Die Möglichkeit des Verzichts auf die Mitwirkung im eigenen Verfahren bestätigt insofern die Autonomie der beschuldigten Person, so auch ZIMMERLIN, 27.

231 MAHLMANN, Good Sense of Dignity, 604.

232 Vgl. zum Beispiel zur Menschenwürde in der Bioethik, ANDORNO/DÜWELL, 472–478.

233 BGE 127 I 6, E. 5b; BGE 143 IV 77, E. 4.1. Der Inhalt der Menschenwürde hängt von kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Parametern ab, siehe MAHLMANN, AJP 2013, 1308; MCCRUDDEN, 698.

234 MÜLLER/SCHEFER, 3: «Das Prinzip der Menschenwürde bedeutet gerade nicht die Garantie eines bestimmten objektiven Menschenbildes; eine solche bedrängt den Menschen eher, als dass sie ihn in seiner inneren Würde bestätigt und freisetzt».

235 Die Ableitungen sind «so vage, dass sie als kritischer Massstab für konkrete Entwick-lungen des positiven Rechts kaum taugen», siehe HASSEMER, FS Maihofer, 199.

236 WOHLERS, Partizipatorisches Ermittlungsverfahren, 20; COHEN, 125.

C. Achtung der Autonomie der beschuldigten Person

Verfahren zu behandeln ist.237Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verlangt die Würde, dass der Einzelne nicht als Objekt im Verfahren behandelt wird, sondern seine rechtserheblichen Standpunkte im Verfahren geltend machen kann.238 Die Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden und zu han-deln, ist somit gewissermassen als eine Voraussetzung für das zu begreifen, was mit der «Unfasslichkeitsformel» des Bundesgerichts gewahrt werden soll.239

Die Selbstbestimmung im Strafprozess bezieht sich auf die Möglichkeit zur Teilhabe am Verfahren. DUBBER unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen «passiver Autonomie» und «aktiver Autonomie». Letzteres bedeutet die Freiheit, sich am Strafprozess zu beteiligen, während Ersteres die Freiheit bezeichnet, nicht am Strafprozess mitzuwirken und dazu auch nicht ge-zwungen zu werden.240 Auf beide Arten der Autonomie soll im Folgenden eingegangen werden, um in einem nächsten Schritt zu überprüfen, ob das Prinzip der Waffengleichheit der Wahrung einer passiven oder aktiven Au-tonomie dienlich ist.

1. Passive Autonomie

Die passive Autonomie einer beschuldigten Person wird gewahrt, indem diese vor übermässigem staatlichem Zwang hinsichtlich ihrer Entscheidung, am Verfahren nicht mitzuwirken, geschützt wird. Entsprechend dieser negativ umschriebenen Autonomie müssen die Strafbehörden der beschuldigten Person einen Entscheidungsfreiraum einräumen, in dem sie frei von unzu-lässiger staatlicher Einwirkung entscheiden kann, ob sie am Verfahren

teil-237 Weitergehenden Ableitungen fehlt es an vermittelnden Ableitungszusammenhängen, siehe WOHLERS, Partizipatorisches Ermittlungsverfahren, 20. Im Ergebnis gleich BGE 143 IV 77, E. 4.1.

238 BGer, Urteil vom 11.09.1963, E. 3a, auszugsweise zitiert in: ZBl 1964, 216 f: «Die Würde des Menschen […] verlangt, dass der Einzelne nicht bloss Objekt der behördlichen Ent-scheidung sei, sondern vor der EntEnt-scheidung, die seine Rechte betrifft, zu Worte komme, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis zu nehmen». Vgl. dazu auch BGE 113 Ia 214, E. 2d. Diese Rspr. geht zurück auf die Dürig’sche Objektformel, vgl. MAHLMANN, Human Dignity, 379 (Fn. 54).

239 MAHLMANN, AJP 2013, 1314. In diesem Sinne auch KANT, 294: «Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur».

240 DUBBER, 92–96.

Zweiter Teil: Sinn und Zweck des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess

haben möchte.241 Im Vordergrund steht hierbei das Verbot des Selbstbelas-tungszwangs, das die freie Willensbetätigung vor unzulässigem staatlichem Zwang schützt.242 Auch die Rechtsprechung des EGMR betont die Willens-freiheit der beschuldigten Person im Zusammenhang mit dem Verbot des Selbstbelastungszwangs.243

Der Strafprozess kann jedoch nicht vollkommen auf die Selbstbestimmung der beschuldigten Person ausgerichtet sein. Es liegt zum Beispiel nicht in der Hand der beschuldigten Person zu entscheiden, ob gegen sie ein Strafver-fahren geführt oder bei bestehendem Tatverdacht gesetzlich vorgesehene Zwangsmassnahmen ergriffen werden. Letztere sind vielmehr ausdrücklich erlaubt,244obwohl zum Beispiel eine drohende Untersuchungshaft den freien Entschluss zur Einlassung in das Verfahren beeinflussen kann.245Ferner kann sich eine beschuldigte Person der Teilhabe am Strafprozess nicht vollständig entziehen. Zumindest bezüglich der Anwesenheit an der Hauptverhandlung, bei der über die erhobenen Vorwürfe verhandelt wird, ist sie in der Regel zum Erscheinen verpflichtet.246Nur aus wichtigen Gründen kann das Gericht der beschuldigten Person das persönliche Erscheinen in der Hauptverhandlung

241 Diese Art der Selbstbestimmung unter Ausschluss staatlicher Einwirkung wird als «ne-gative Freiheit» bezeichnet, siehe BERLIN, 169–178. Dies darf jedoch nicht mit einer schrankenlosen Selbstherrlichkeitgleichgesetztwerden,siehe MAHLMANN, Gerechtigkeit, 275. Vgl. auch BGer, Urteil vom 09.05.2008, 6C_1/2008, E. 4.

242 Vgl. OTT, 82: «Esgehtalso darum,dassdieWillensentschliessungbezüglich des Ver-haltens im Strafverfahren nicht […] beeinflusst werden darf, so dass eine selbstbestimmte Entscheidung über Selbstbelastung zustande kommen kann».

243 EGMR vom 21.07.2015, Zachar and Čierny v. Slowakei,Nr. 29376/12 und 29384/12, § 59:

«The right not to incriminate oneself, in particular, presupposes that the prosecution in a criminal case seek to prove their case against the accused without resorting to evidence obtained through methods of coercion or oppression in defiance of the will of the accused». Vgl. dazu auch SCHLAURI, Diss., 95 f.

244 Sofern die Voraussetzungen von Art. 197 StPO erfüllt sind. Weshalb sich der Staat jegli-chen Zwangs enthalten soll, lässt sich nicht schlüssig begründen, siehe dazu JACKSON, Re-conceptualizing, 842–849.

245 Dies ist insbesondere kritisch, wenn die Untersuchungshaft in Fällen angeordnet wird, in denen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von einer bedingten Strafe auszugehen ist, kri-tisch dazu BIGLER/BONIN/GFELLER, 149–154.

246 Zur amtlich sicherzustellenden Anwesenheits- und Einvernahmepflicht im Rahmen eines Berufungsverfahrens, siehe BGer, Urteil vom 12.12.2017, 6B_422/2017, E. 4.3.2 mit Verweis auf Art. 341 Abs. 3 StPO.

C. Achtung der Autonomie der beschuldigten Person

erlassen.247 Insofern besteht in jedem Strafverfahren ein gewisser faktischer Zwang zur Teilhabe, sei es auch nur durch die blosse Anwesenheit im Ver-fahren.

Entscheidend ist somit, was als unzulässige staatliche Einflussnahme gilt. Die StPO verbietet insofern den illegalen Einsatz von Zwangsmitteln,248 Gewalt-anwendung,249Drohungen,250Versprechungen251sowie Täuschungen.252

2. Aktive Autonomie

Die Autonomie wird nicht nur dadurch gewahrt, dass sich der Staat unzu-lässiger Zwangsmassnahmen enthält und einer Person einen gewissen Frei-raum lässt, gemäss ihrer freien Willensentscheidung zu handeln. Den Staat trifft darüber hinaus eine positive Leistungspflicht, damit die Rechtsunter-worfenen in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.253Die ge-samte Rechtsordnung baut darauf auf, dass das Individuum die gesellschaft-lichen Normen selbständig interpretieren und sein Verhalten danach ausrichten kann.254 Kommt es zu einem vermeintlichen Normbruch, ist idealiter davon auszugehen, dass der Einzelne sein Verhalten erklären und

247 Gem. Art. 336 Abs. 3 StPO. Unter wichtige Gründe fallen etwa Krankheit oder das hohe Alter und die Gebrechlichkeit einer beschuldigten Person, vgl. CHRISTEN, Anwesenheits-recht, 184 f.

248 Darunter fallen etwa Zwangsmittel, die noch nicht die Schwelle der Gewalt erreicht haben, wie bspw. der Entzug von Essen und Trinken oder das Verbot die Toilette auf-zusuchen, siehe StPO-Kommentar-WOHLERS, Art. 140 N 3 f.

249 Hauptanwendungsfall ist das Verbot der Folter gem. Art. 3 Abs. 2 lit. d StPO, Art. 10 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 4 BV, Art. 3 EMRK sowie Art. 7i.V.m. Art. 4 Abs. 2 IPBPR.

250 Erfasst ist das Inaussichtstellen eines gesetzlich nicht vorgesehenen künftigen Übels, beispielsweise von Haft, obschon die Voraussetzungen für Untersuchungshaft offensichtlich nicht gegeben sind, siehe BSK-StPO I-GLESS, Art. 140 N 41e contrario.

251 Darunter fällt das Inaussichtstellen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils. Kritisch erweist sich die als sicher hingestellte strafmildernde Wirkung eines Geständnisses, siehe OBERHOLZER, Grundzüge, N 740.

252 Darunter ist jedes Verhalten der Strafbehörden zu verstehen, welches darauf abzielt, bei der beschuldigten Person eine von der Wirklichkeit abweichende Vorstellung zu erzeu-gen, vgl. dazu BGE 144 IV 23, E. 4.2.

253 JACKSON/SUMMERS, Fair Trial Standards, 102.

254 FULLER, 162: «To embark on the enterprise of subjecting human conduct to the gover-nance of rules involves of necessity a commitment to the view that man is, or can become, a responsible agent, capable of understanding and following rules, and answe-rable for his defaults».

Zweiter Teil: Sinn und Zweck des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess

sich mit dem Vorwurf auseinandersetzenkann.255Ausgehend von diesem Ideal erwachsen gewisse Anforderungen an das Recht selbst. Wenn man die menschliche Befähigung zur Selbstbestimmung ernst nimmt, müssen sich die gesellschaftlichen Normen gemäss FULLERan einer inneren Moral orientieren.

Aus diesem Grund dürfen Normen nicht retrospektiv zur Anwendung gelan-gen.256 Vielmehr müssen gesellschaftliche Normen im Voraus in einer ver-ständlichen Sprache veröffentlicht werden,257 sich widerspruchsfrei in die bisherige Rechtsordnung einfügen258 und kein Verhalten verlangen, das die Rechtsunterworfenen unmöglich erreichen können.259 Vor diesem Hinter-grund gilt es eine stabile Rechtsordnung zu etablieren, an die sich die rechtsanwendenden Behörden halten können und müssen.260

Die Annahme, dass eine Person potenziell dazu fähig ist, ihre Rechtsauffas-sung und ihr Verhalten zu erklären, hat aber auch einen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung eines Verfahrens.261 Erstrebenswert ist demnach ein Verfahren, in dem es den betroffenen Personen möglich ist, ihre Sicht der Dinge darzulegen.262Übertragen auf das Strafverfahren bedeutet dies, dass der beschuldigten Person positivrechtlich die Gelegenheit geboten werden muss, sich mit dem Tatvorwurf und dessen tatsächlicher Grundlage auseinander-zusetzen.263 Die prozessuale Teilhabe und deren wirksame Umsetzung im Strafprozess stehen somit im Zeichen einer zu wahrenden Autonomie der beschuldigten Person.

255 Vgl. auch WALDRON, Dignity, 202.

256 FULLER, 51–62.

257 FULLER, 63–65.

258 FULLER, 63–70.

259 FULLER, 63–79. Gemäss dem Grundsatzultra posse nemo obligatur.

260 Vgl. dazu auch WALDRON, Importance of Procedure, 5–12.

261 MAHLMANN, Verfahren, 440: «Wenn wir die Würde der Menschen als autonome Rechts-genossen ernst nehmen wollen, müssen die prozessualen Rechte entsprechend gestaltet werden […]».

262 WALDRON, Importance of Procedure, 15.

263 Im Rahmen eines fairen Verfahrens soll die beschuldigte Person Verantwortung über-nehmen und zum Tatvorwurf Stellung beziehen, vgl. DUFF/FARMER/MARSHALL/TADROS, Trial on Trial 3, 101, 203 ff. Es handelt sich dabei um das Ideal eines Strafprozesses, vgl.

DUFF/FARMER/MARSHALL/TADROS, Trial on Trial 3, 65: «[…] our enterprise is one of a normative theory, not of empirical analysis […]».

C. Achtung der Autonomie der beschuldigten Person

II. Achtung der Autonomie als Zweck des

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