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Als Ausgangspunkt für die Konzeption eines Strafverfahrens dient das Ideal des EGMR, wonach alle Beweise im Normalfall in der Hauptverhandlung er-hoben und kontradiktorisch erörtert werden sollen.643

Es gibt gute Gründe, weshalb an der unmittelbaren Erhebung der wesentli-chen Beweise und deren kontradiktorischer Erörterung in der Hauptver-handlung, trotz aller Kritik an ihrer Doppelspurigkeit,644 festzuhalten ist.

Vorweg ist auf die klassische Zweiteilung des Strafverfahrens in ein vorbe-reitendes Vorverfahren einerseits und eine entscheidende Hauptverhandlung andererseits hinzuweisen:645 Aus den im Vorverfahren gewonnenen Beweis-mitteln ergibt sich gewissermassen der Rahmen, anhand dessen der ange-klagte Sachverhalt vor Gericht zu beurteilen ist.646 Der vorbereitende Cha-rakter des Vorverfahrens steht der kontradiktorischen Erörterung der Beweislage im Untersuchungsverfahren insofern entgegen, als allfällige Be-lastungszeugen noch gar nicht mit sämtlichen Beweisen konfrontiert werden können, da diese teilweise erst noch zu erheben sind. Bei einer Verschiebung entscheidender Verfahrensschritte ins Vorverfahren muss zudem prozessual sichergestellt sein, dass eine von der Strafverfolgung unabhängige Richter-person über die Einhaltung der Verfahrensfairness wacht. Die Unparteilichkeit des Gerichts ist nach objektiven Gesichtspunkten beeinträchtigt, sobald eine richterliche Instanz, die für die kontradiktorische Erörterung der Beweislage im Untersuchungsverfahren als zuständig zeichnet, sich bereits vorgängig, anlässlich der Anordnung einer Zwangsmassnahme, ein vorläufiges Urteil über die Beweislage gebildet hat.647Der zusätzliche Aufwand für die institu-tionelle Sicherung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren spricht ebenfalls gegen die vollständige Abkehr vom Grundsatz der Unmittelbarkeit der Be-weiserhebung vor Gericht. Zuletzt muss auch die legitimierende Bedeutung

643 Siehe dazu vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.VII.

644 WOHLERS, Unmittelbarkeit II, 436 m.w.H.

645 In der Schweiz ist diese Zweiteilung in Art. 308 StPO verankert.

646 EGMR vom 15.12.2015, Schatschaschwili v. Deutschland (GK), Nr. 9154/10, § 104; EGMR vom 27.11.2008, Salduz v. Türkei (GK), Nr. 36391/02, § 54.

647 Vgl. etwa EGMR vom 26.10.1984, De Cubber v. Belgien,Nr. 9186/80, §§ 29 f. Siehe zur Vorbefassung von Richterpersonen durch die Handlungen im Vorverfahren auf der Grundlage der EGMR-Rspr., WOHLERS, Vorbefassung, 1318–1323.

Vierter Teil: Geltung der «Waffengleichheit» im schweizerischen Vorverfahren

einer kontradiktorischen Hauptverhandlung betont werden. Dabei ist es nicht so sehr die unmittelbare Kenntnisnahme des Zeugenbeweises durch das ur-teilende Gericht, die eine strafrechtliche Entscheidung rechtfertigt. Die Legi-timität ergibt sich vielmehr aus der Möglichkeit der beschuldigten Person, sich im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung mit allen Beweismitteln auseinanderzusetzen. Das blosse Verlesen der im polizeilichen Ermittlungs-verfahren protokollierten Aussagen in der Hauptverhandlung vermag die kontradiktorische Beweiserhebung vor Gericht auf jeden Fall nicht zu ersetzen und verletzt das Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 Ziff. 1 EMRK.648 Allerdings fällt die Grenze zwischen unwesentlichen und wesentlichen Be-weismitteln, die theoretisch im Rahmen einer Hauptverhandlung kontradik-torisch zu erheben wären, in der Rechtswirklichkeit nicht trennscharf aus. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Mitglieds-staaten der EMRK grundsätzlich autonom über die Zulässigkeit und Ver-wertbarkeit von Beweismitteln entscheiden und der EGMR nur dann eingreift, wenn deren Erhebung in unfairer Weise erfolgte.649 Zu Recht insistiert der EGMR jedoch darauf, dass in einem Beweiserhebungssystem von beschränkter Unmittelbarkeit sichergestellt sein müsse, dass die Verteidigungsrechte von Art. 6 EMRK bereits im Vorverfahren wirksam zur Geltung gelangen kön-nen.650 Insbesondere hinsichtlich des Konfrontationsrechts dürfte aufgrund der geforderten unparteiischen Verfahrensleitung ein wirksames Infragestel-len eines Belastungszeugen und seiner Aussagen im Untersuchungsverfahren nicht möglich sein, ohne die Ausübung der Verteidigungsrechte nach Art. 6 EMRK mit zusätzlichen prozessualen und institutionellen Mitteln abzusi-chern. Der vollständigen Vorverschiebung des entscheidwesentlichen Be-weisverfahrens sind aufgrund des vorbereitenden Charakters des Vorverfah-rens und der legitimierenden Funktion einer Hauptverhandlung indes gewisse konzeptionelle Grenzen gesetzt.

648 EGMR vom 06.12.1988, Barberà, Messegué und Jabardo v. Spanien,Nr. 10590/83, §§ 81–89.

649 Statt vieler EGMR vom 18.12.2018, Murtazaliyeva v. Russland (GK), Nr. 36658/05, § 130 m.w.H. Kritisch Richter PINTO DEALBUQUERQUEin seiner abweichenden Meinung zu dem oben aufgeführten Entscheid.

650 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.VII.

B. Konzeption des Strafverfahrens nach dem Ideal des EGMR

C. K

ONZEPTION DES

S

TRAFVERFAHRENS IN DER

S

CHWEIZ

Inwieweit das urteilende Gericht seine Überzeugung auf der Grundlage ei-gener Anschauung in der Hauptverhandlung bilden und sich nicht auf die im Vorverfahren erhobenen Beweise stützen soll, ist eine grundlegende Frage bei der Ausarbeitung einer Strafverfahrenskonzeption.651

Gemäss der geltenden StPO sollen die Strafverfolgungsbehörden im Unter-suchungsverfahren dem Gericht die für die Beurteilung von Schuld und Strafe wesentlichen Grundlagen liefern.652Erläuternd hält die Botschaft hierzu fest, dass die Staatsanwaltschaft die Akten dem Gericht entscheidungsreif zu übermitteln habe.653 Nur unter bestimmten Umständen ist ein Gericht ver-pflichtet, in der Hauptverhandlung unmittelbar Beweise zu erheben.654 Ins-besondere, wenn ein Gericht eine als Beweisantrag vorgebrachte Tatsache bereits als bekannt oder rechtsgenügend erwiesen erachtet, kann es einen Antrag auf Erhebung des entsprechenden Beweises in der Hauptverhandlung ablehnen.655Nur im Falle einer «Aussage gegen Aussage»-Konstellation ist ein Gericht unter Umständen verpflichtet, eigenständig Beweise abzunehmen.656 Vor diesem Hintergrund bestimmt das Bundesgericht, dass es primär die Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist, die erforderlichen Beweise zu erheben und den relevanten Sachverhalt zu ermitteln.657

Sowohl nach der gesetzlichen Konzeption als auch nach der höchstrichterli-chen Rechtsprechung ist es also weitgehend möglich, dass die Beweise im Vorverfahren allein durch die Strafverfolgungsbehörden erhoben werden. Es vermag daher nicht zu erstaunen, dass sich in der Praxis eine Tendenz zur abschliessenden Erhebung der Beweise im Vorverfahren feststellen lässt.658Als

651 Vgl. Botschaft StPO 2005, 1283; WOHLERS, Unmittelbarkeit II, 426–429; JEANNERET/KUHN, N 4099.

652 Art. 308 Abs. 3 StPO.

653 Botschaft StPO 2005, 1263; WOHLERS, Unmittelbarkeit I, 319 f.; CAPUS/ALBRECHT, 365;

ALBRECHT, Unmittelbarkeit, 187.

654 Art. 343 StPO; BGer, Urteil vom 12.10.2015, 6B_288/2015, E. 1.3.1.

655 In sog. antizipierter Beweiswürdigung i.S.v. Art. 343 Abs. 3 StPO. Dies im teilweisen Gegensatz zum früheren kantonalen Recht, vgl. etwa für den Kanton Bern, BGer, Urteil vom 23.01.2019, 6B_909/2018, 1.3.1 mit Verweis.

656 BGer, Urteil vom 02.11.2016, 6B_1068/2015, E. 1.3; BGer, Urteil vom 01.06.2015, 6B_1251/2014, E. 1.4.

657 BGer, Urteil vom 12.10.2015, 6B_288/2015, E. 1.5.4.

658 SUMMERS/STUDER, 66 f.; KUNZ/HAAS, 175 f.

Vierter Teil: Geltung der «Waffengleichheit» im schweizerischen Vorverfahren

Ausgleich für die eingeschränkte Möglichkeit zur nochmaligen Erhebung der bereits ordnungsgemäss abgenommenen Beweise kann die beschuldigte Person an den Beweiserhebungen im Untersuchungsverfahren teilnehmen und den einvernommenen Personen Fragen stellen.659Im Bewusstsein darum, dass die Beweise ihre Gestalt im Verlauf ihrer Erhebung annehmen,660soll das Teilnahme- und Fragerecht die kontradiktorische Mitwirkung der Verteidi-gung im Strafverfahren sicherstellen.661Nach der schweizerischen Konzeption des Strafverfahrens hat die kontradiktorische Erörterung der Beweise zum Zeitpunkt ihrer Erhebung im Vorverfahren zu erfolgen.662Die StPO ist darauf ausgelegt, dass die wesentlichen Beweise im Vorverfahren nicht nur erhoben, sondern gleichzeitig auch – unter der Leitung der Staatsanwaltschaft – be-stritten werden können. Geht man, wie vorliegend,663davon aus, dass sich ein Strafverfahren durch die kontradiktorische Auseinandersetzung der jeweiligen rechtlichen und tatsächlichen Sichtweisen kennzeichnet, verlagert sich die Hauptverhandlung, zumindest was die Sachverhaltserstellung betrifft, ins Vorverfahren.664

In einem Rechtssystem, in dem wesentliche Beweise hauptsächlich im Vor-verfahren erhoben und kontradiktorisch bestritten werden, beruht die Über-zeugungsbildung des Gerichts ganz entscheidend auf den von den Strafver-folgungsbehörden erstellten Akten und den darin enthaltenen Würdigungen der Staatsanwaltschaft oder der Polizei.665Die für die Beurteilung von Schuld

659 Vgl. BGer, Urteil vom 12.12.2017, 6B_422/2017, E. 1.3 mit Verweis auf BGE 139 IV 25, E. 5.3.

Gem. Art. 147 Abs. 1 StPO und vorbehaltlich der Einschränkung des rechtlichen Gehörs i.S.v. Art. 101 und 108 StPO, siehe BGer, Urteil vom 13.09.2018, 6B_256/2017, E. 2.2.

660 BOMMER, Parteirechte, 197.

661 OGer ZH, Beschluss vom 20.08.2013, UH130204, E. 3.3, in: ZR 112 (2013), 185, 188.

662 Das kontradiktorische Element verschiebt sich von der Hauptverhandlung ins Vorver-fahren, siehe CHRISTEN, Privatklägerschaft, 466 f.

663 Vgl. vorstehend, Fn. 599.

664 Zur Schwerpunktverlagerung der Beweiserhebung ins Vorverfahren vgl. auch PIQUEREZ/ MACALUSO, N 636; THOMMEN, Kurzer Prozess, 262; KRAUSS, Strafverteidigung, 122 (poli-zeiliche Ermittlungsverfahren); MÜLLER-HASLER, 35 ff.; WOHLERS, Fragerecht, 160; DERS., Unmittelbarkeit II, 430 ff.; BOMMER, Parteirechte, 196 f.; PIGUET/DYENS, 314 f.

665 Auf der Grundlage sozialpsychologischer Studien weist KAUFMANNdarauf hin, dass sich Richterinnen und Richter bei der Sachverhaltserstellung von der vorweggenommenen Einschätzung der Polizei oder Staatsanwaltschaft leiten lassen, siehe KAUFMANN, 70. Vgl.

bereits HAUSER, Unmittelbarkeit, 172: «Kennt der Richter die Aussagen nur aus den Untersuchungsakten, so sieht er den Sachverhalt vorwiegend in der Optik der Strafver-folgungsbehörde».

C. Konzeption des Strafverfahrens in der Schweiz

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 197-200)