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Die Bedeutung der Ausgestaltung des Strafverfahrens für die «Waffengleichheit» im Vorverfahren

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 185-192)

Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess nach der EMRK

E. R ELEVANZ DES W AFFENGLEICHHEITSPRINZIPS IM

VII. Die Bedeutung der Ausgestaltung des Strafverfahrens für die «Waffengleichheit» im Vorverfahren

Als Strafverfahren wird gemeinhin ein Prozess verstanden, in dem sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung ihre jeweilige tatsächliche und rechtliche Sichtweise vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht

596 Es muss eine kontradiktorische Befragung einer sachverständigen Person gewährleistet sein, siehe EGMR vom 22.11.2018, Avagyan v. Armenien,Nr. 1837/10, § 43 m.w.H.

597 EGMR vom 04.04.2013, C.B. v. Österreich,Nr. 30465/06, §§ 43 f.

598 Vgl. EGMR vom 01.06.2017, J.M. u.a. v. Österreich,Nr. 61503/14, 61673/14, 64583/14, § 127.

Ein gutes Beispiel, in welchem sich das Gericht mit den Vorbringungen eines Partei-gutachters auseinandersetzt, findet sich in BGer, Urteil vom 06.02.2017, 6B_742/2016, E. 1.4.

Dritter Teil: Bedeutung des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess nach der EMRK

kontradiktorisch darlegen können.599 Nach der Idealvorstellung des EGMR sollten normalerweise alle Beweise im Rahmen der Hauptverhandlung un-mittelbar erhoben und kontradiktorisch erörtert werden.600 Die unmittelbare Beweiserhebung in der Hauptverhandlung entspricht also der Norm; die ausschliessliche Beweiserhebung im Vorverfahren ist die Ausnahme, die einer besonderen Begründung und Rechtfertigung bedarf.601

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung lässt sich fragen, weshalb primär die Hauptverhandlung als das richtige Forum für die Erhebung der Beweise und deren kontradiktorischer Auseinandersetzung betrachtet wird. Oft wird die Bedeutung der unmittelbaren Wahrnehmung der Aussagepersonen be-tont,602 was das Gericht in die Lage versetzen soll, die Glaubwürdigkeit der im Prozess beteiligten Personen und somit indirekt auch den Beweiswert ihrer Aussagen besser einzuschätzen.603 Viel entscheidender ist meines Erachtens jedoch die Tatsache, dass mit der unmittelbaren Erhebung der Beweise im Rahmen der Hauptverhandlung sichergestellt ist, dass die Verteidigungsrechte von Art. 6 EMRK zum Tragen kommen und eine unparteiische Instanz über deren korrekte Anwendung wacht. Dieser institutionelle Rahmen bildet die Voraussetzung für die kontradiktorische Auseinandersetzung mit der Be-weislage zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung. All dies trägt zur Legitimation einer strafrechtlichen Entscheidung bei.604

Entgegen der Idealvorstellung des EGMR lässt sich auf nationaler Ebene eine Tendenz zur Verlagerung entscheidender Verfahrensschritte ins Vorverfahren

599 SUMMERS/STUDER, 65. Für WALDRON besteht ein Prozess in institutioneller Hinsicht aus einer Partei, einer Gegenpartei und einer unparteiischen Instanz, die über die Streitsache befindet, siehe WALDRON, Importance of Procedure, 15; DERS., Rule of Law, 23.

600 EGMR vom 14.03.2013, Isanov v. Aserbaidschan,Nr. 16133/08, § 160; EGMR vom 23.04.1997, Van Mechelen u.a. v. Niederlande,Nr. 21363/93, 21364/93, 21427/93 und 22056/93, § 51:

«[A]ll the evidence must normally be produced at a public hearing, in the presence of the accused, with a view to adversarial argument». Vgl. dazu auch DEMKO, ZStrR 2004, 423 f.;

CHRISTEN, Anwesenheitsrecht, 28; ALBRECHT, Unmittelbarkeit, 192; vgl. auch BGE 125 I 127, E. 6b.

601 TRECHSEL, AJP 2000, 1369.

602 Vgl. im Zusammenhang mit Belastungszeugen Fn. 564; im schweizerischen Kontext, siehe Fn. 1036.

603 Diese Argumentation darf jedoch nicht überstrapaziert werden, siehe die kritischen und zutreffenden Anmerkungen bei WOHLERS, Unmittelbarkeit II, 438–442.

604 Siehe zur Legitimation einer strafrechtlichen Entscheidung als Verfahrensziel, vorstehend Zweiter Teil, Kapitel D.

E. Relevanz des Waffengleichheitsprinzips im Vorverfahren

605 Übereinstimmende Meinung der Richter SPIELMANN und SAJÓund der Richterinnen K

A-RAKAŞ und KELLER in EGMR vom 15.12.2015, Schatschaschwili v. Deutschland (GK), Nr. 9154/

10, § 13: «There is a recent tendency at the national level to shift procedural measures which belong to the trial stage forward to the investigation stage […]». Diese Entwicklung anhand der Rspr. des EGMR aufzeigend, MEYER/WIĘCKOWSKA, 380–384. Vgl. dazu bereits GAEDE, 201 f.

606 EGMR vom 15.12.2015, Schatschaschwili v. Deutschland (GK), Nr. 9154/10, § 105 sowie die übereinstimmende Meinung der Richter SPIELMANN und SAJÓ und der Richterinnen K

A-RAKAŞ und KELLER in § 13: «[I]f the Court considers this shifting of procedural measures to the investigation stage to be in accordance with the Convention, it must make un-mistakably clear that the relevant procedural safeguards must be rigorously adhered to».

Dies betrifft bspw. das Recht auf einen Anwalt zu Verfahrensbeginn, siehe EGMR vom 27.11.2008, Salduz v. Türkei (GK), Nr. 36391/02, §§ 54 f.

607 EGMR vom 24.11.1993, Imbrioscia v. Schweiz,Nr. 13972/88, § 36; EGMR vom 24.04.2014, Duško Ivanovski v. Mazedonien,Nr. 10718/05, § 41.

608 EGMR vom 10.02.2009, Sergey Zolotukhin v. Russland (GK), Nr. 14939/03, § 80 m.w.H.

609 EGMR vom 21.04.2009, Marttinen v. Finnland,Nr. 19235/03, § 64.

610 EGMR vom 26.03.1982, Adolf v. Österreich,Nr. 8269/78, § 30; KOHLBACHER, 15–19; vgl. auch vorstehend, Fn. 523 und 524. Hierbei kommt es gemäss der Praxis des EGMR seit jeher darauf an, ob eine Person durch eine Verfahrenshandlung substanziell beeinträchtigt ist, vgl. EGMR vom 27.02.1980, Deweer v. Belgien,Nr. 6903/75, §§ 42 und 46; JACKSON/S

UM-MERS, Internationalisation of Criminal Evidence, 96.

Dritter Teil: Bedeutung des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess nach der EMRK

ausmachen, die vom EGMR nicht unbemerkt geblieben ist.605 Der Gerichtshof hat darauf reagiert, indem er verfügte, dass es je nach Ausgestaltung des Strafverfahrens notwendig sein kann, die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK rigoros im Vorverfahren anzuwenden.606 Andernfalls drohe eine nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigung der Verfahrensfairness.607 Diese Er-kenntnis steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des EGMR, wonach die EMRK als ein «living instrument» zu verstehen ist und der Schutzbereich von Art. 6 EMRK sich an die jeweiligen Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen hat.608 Zudem dürfen die Verfahrensgarantien in Art. 6 EMRK nicht rein theoretischer oder illusorischer Natur sein, sondern müssen in Gestalt von Verteidigungsrechten in der Rechtswirklichkeit wirksam ge-währleistet werden.609 Nicht zuletzt durch die autonome Auslegung des Zeitpunktes, ab dem eine Person im Sinne der Konvention als «angeklagt»

gilt,610 zeigt der EGMR auf, dass er sich der vorentscheidenden Bedeutung vorgerichtlicher Verfahrenshandlungen durchaus bewusst ist.

In Bezug auf das Waffengleichheitsprinzip gibt die Rechtsprechung des EGMR keine starren Regeln vor, wie den Erfordernissen der «Waffengleichheit» im

nationalen Recht nachzukommen ist.611 Die schwerpunktmässige Auseinan-dersetzung mit den Beweisen im strafprozessualen Vorverfahren steht nicht per se im Widerspruch zum Waffengleichheitsprinzip. Sobald aber die für die Sachverhaltserstellung wesentlichen Beweiserhebungen und deren kontra-diktorische Erörterung zur Hauptsache im Vorverfahren erfolgen, müssen die Vorgaben des Waffengleichheitsprinzips bereits im Stadium vor der formellen Anklageerhebung beachtet werden. Es muss mithin verfahrensrechtlich si-chergestellt sein, dass die Verteidigungsrechte im Vorverfahren nicht in un-sachlicher Weise eingeschränkt werden.612 Mit anderen Worten muss die Ausgestaltung des Vorverfahrens Schutz vor dem Missbrauchspotenzial der in diesem Stadium verfahrensbeherrschenden Strafverfolgungsbehörden bieten.

Abschliessend lässt sich somit Folgendes konstatieren: Je weniger in einem Strafverfahren dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung tat-sächlich nachgelebt wird, desto wichtiger sind die verfahrensrechtlichen Si-cherungen im Vorverfahren, damit die Verfahrensfairness im Einzelfall nicht durch die Vorgänge im vorgerichtlichen Stadium in unwiederbringlicher Weise beeinträchtigt wird.

F. Z

USAMMENFASSUNG

Die Anforderungen, die das Prinzip der Waffengleichheit an ein Verfahren stellt, sind unterschiedlicher Natur, je nachdem, ob dem Verfahren eine zi-vilrechtliche Streitigkeit oder die Abklärung eines Tatverdachts zugrunde liegt.

Während es bei der Rechtsstreitigkeit über einen Anspruch oder eine Ver-pflichtung zivilrechtlicher Natur um die formelle Gleichheit der Rechtsposi-tionen geht,613soll das Waffengleichheitsprinzip im Strafprozess einen

mate-611 EGMR vom 27.03.2008, Perić v. Kroatien,Nr. 34499/06, § 19 (zivilrechtliche Ausprägung des Waffengleichheitsprinzips); AMBOS, 618; SANDERMANN, 47; grds. WOHLERS, Partizipa-torisches Ermittlungsverfahren, 35.

612 Sei dies in Bezug auf das Recht auf einen anwaltlichen Beistand (Dritter Teil, Kapitel E.I.), das Recht auf Orientierung über den Tatvorwurf (Dritter Teil, Kapitel E.II.), das Akten-einsichtsrecht (Dritter Teil, Kapitel E.III.), das Konfrontationsrecht (Dritter Teil, Kapitel E.IV.), das Zeugenladungsrecht (Dritter Teil, Kapitel E.V.) oder das Recht auf objektive Begutachtung und wirksame Konfrontationsmöglichkeiten mit einer sachverständigen Person (Dritter Teil, Kapitel E.VI.).

613 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel B.I.

F. Zusammenfassung

614 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel B.II.

615 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel C.II.

616 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel C.I.

617 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel D.

618 Vgl. auch SUMMERS, Observing Criminal Trials, 219.

619 Vgl. etwa EGMR vom 09.10.2008, Moiseyev v. Russland,Nr. 62936/00, § 205: «What causes the Court still greater concern is that this arrangement put the defence in a position of dependence on, and subordination to, the discretion of the prosecution and therefore destroyed the appearance of the equality of arms».

620 Als Beispiel gilt etwa die ukrainische Ausgestaltung des Vorverfahrens, die den Straf-verfolgungsbehörden ein Ermessen hinsichtlich der Qualifikation des Deliktsvorwurfes einräumt. Dieser Ermessensspielraum wurde von den Strafverfolgungsbehörden in sys-tematischer Weise dazu genutzt, um den Tatvorwurf bei der Eröffnung des Verfahrens unter einen möglichst milden Tatbestand zu qualifizieren, damit die nach nationalem Recht vorgesehene notwendige Verteidigung umgangen werden konnte, siehe EGMR vom Dritter Teil: Bedeutung des Waffengleichheitsprinzips im Strafprozess nach der EMRK

riellen bzw. verfahrensrechtlichen Ausgleich mit den institutionell über-mächtigen Strafverfolgungsbehörden herstellen.614

In einem Strafverfahren kommen sowohl die zivilrechtliche als auch die strafprozessuale «Waffengleichheit» zur Anwendung: Im Verhältnis zwischen der Privatklägerschaft und der beschuldigten Person gilt das Prinzip der Waffengleichheit zivilrechtlicher Ausprägung.615 Im Verhältnis zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person greift die «Waffengleich-heit» strafprozessualer Ausprägung.616 Um ein Strafverfahren im Sinne des Prinzips der Waffengleichheit auszugestalten, muss genau definiert sein, was unter einem substanziellen Nachteil der beschuldigten Person zu verstehen ist, der zu einer Verletzung des Prinzips führt. Von einem solchen substan-ziellen Nachteil ist auszugehen, wenn die beschuldigte Person in der Wahr-nehmung ihrer Verteidigungsrechte nach Art. 6 EMRK in unsachlicher Weise behindert wird.617

Jegliche Unterregulierung hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung des Vorverfahrens ist problematisch und droht die Verfahrensfairness und die Legitimation eines Strafverfahrens zu unterminieren.618 Wird die Gewähr-leistung der Verteidigungsrechte verfahrensrechtlich völlig ins Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt, ist der angestrebte Ausgleich der strukturell an-gelegten Übermacht der Strafverfolgungsbehörden nicht gewährleistet. 619 Bei einer solchen Regelung besteht ein latentes Risiko, dass die beschuldigte Person in der Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte unsachgemäss ein-geschränkt wird.620

Die Erkenntnis, dass die beschuldigte Person durch die verfahrensrechtliche Ausgestaltung bzw. die Unterregulierung des Vorverfahrens substanziell be-nachteiligt werden kann, ist von grosser Bedeutung. Potenzielle Behinde-rungen der beschuldigten Person in der Wahrnehmung ihrer Verteidigungs-rechte aufgrund der konkreten Ausgestaltung des Vorverfahrens können sich insbesondere in Bezug auf das Recht auf anwaltlichen Beistand,621 das Recht auf Orientierung über den Tatvorwurf,622 das Akteneinsichtsrecht,623 das Recht auf Konfrontation mit Belastungszeugen,624 das Recht auf Erhebung des von der Verteidigung beantragten Zeugenbeweises625 sowie das Recht auf eine objektive Begutachtung und Konfrontation mit einer sachverständigen Person ergeben.626 Im Ergebnis führt eine Einschränkung in der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte dazu, dass die beschuldigte Person gegenüber der Staatsanwaltschaft insofern benachteiligt ist, als sie ihre Sichtweise nicht mittels Beweisen untermauern oder die Beweise der Gegenpartei nicht infrage stellen kann.

Bei entsprechender Verfahrensausgestaltung ist es daher unerlässlich, dass die Verteidigungsrechte bereits im Vorverfahren wirksam und unter Beachtung des Prinzips der Waffengleichheit zur Anwendung gelangen können.627 Ge-genstand des nächsten Teils der vorliegenden Arbeit ist daher, ob und in-wieweit das Prinzip der Waffengleichheit nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK im schweizerischen Vorverfahren Geltung beansprucht.

03.11.2011, Balitskiy v. Ukraine, Nr. 12793/03, §§ 51 f. m.w.H. Allerdings hat der EGMR dieses systematische Problem nicht unter dem Aspekt der «Waffengleichheit» behandelt.

621 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.I.

622 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.II.

623 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.III.

624 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.IV.

625 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.V.

626 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.VI.

627 Siehe vorstehend, Dritter Teil, Kapitel E.VII.

F. Zusammenfassung

Im Dokument Waffengleichheitim Vorverfahren (Seite 185-192)