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Fundierung fachdidaktischer Forschungsfragen in einer fächerübergreifenden Perspektive

Fächerübergreifendes Lernen in der Mathematik- und Deutschdidaktik

1 Fundierung fachdidaktischer Forschungsfragen in einer fächerübergreifenden Perspektive

Unter fachdidaktischer Kompetenz verstehen wir die Disposition, fachdidaktische Problemstellungen fundiert und situationsadäquat zu lösen. Fachdidaktisches Wissen bildet diesem Verständnis zufolge – wie in den Modellen professioneller Lehrerkompetenzen von TEDS-LT (Teacher Education and Development Stu-dy – Learning to Teach) und verwandten Studien (Blömeke 2011) sowie von COACTIV (Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathe-matikunterricht und die Entwicklung mathematischer Kompetenz; Baumert/

Kunter 2011b) – einen Teilbereich professionellen Lehrerwissens. Es ist davon auszugehen, dass professionelles Wissen, also kognitive Kompetenzfacetten, und emotionale, motivationale sowie einstellungsbezogene Kompetenzfacetten auch bei der Lösung fachdidaktischer Problemstellungen interagieren (z. B. Baumert/

Kunter 2011b; Blömeke 2011; Weinert 2001).

Die Annahme, dass sich fachdidaktische Kompetenzen von Lehramtsstudieren-den durch fächerübergreifende Lernumgebungen fördern lassen, macht die Klärung zweier grundlegender Fragen in der ersten Phase des Forschungsprozesses erfor-derlich. Zum einen müssen Ziel- bzw. Problemstellungen in der Lehre identifiziert werden, die in beiden beteiligten Fachdidaktiken relevant sind. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten bilden die Grundvoraussetzung, um überhaupt eine fächerüber-greifende Forschungsfrage zu formulieren. Zum anderen gilt es Unterschiede zwi-schen den Fächern zu beschreiben, die aus Sicht der Forzwi-schenden oder aus Sicht der Studierenden bestehen. Denn diese Unterschiede sind es, die in den fächerübergrei-fenden Lernumgebungen als Reflexionsimpulse genutzt werden sollen.

Eine Problemstellung, die eine wichtige Rolle im Diskurs der Mathematik- wie der Deutschdidaktik spielt, ist die Frage nach dem fachdidaktischen Potenzial von Auf-gabenstellungen. Lern- und Leistungsaufgaben im Hinblick auf ihr Anforderungs-profil einzuschätzen, ist eine zentrale fachdidaktische Aufgabe im Unterrichtsalltag (vgl. z. B. Büchter/Leuders 2014; Köster, im Druck; Maier et al. 2014; Winkler 2010). In unserem Projekt fungiert die adäquate fachdidaktische Einschätzung von Aufgabenstellungen als Zieldimension fachdidaktischer Lehre als zentrales Element, das die Fächer Deutsch und Mathematik verbindet. Die situationsgerechte Bewältigung dieser Anforderung setzt fachdidaktische Kompetenz voraus. Dabei sind nicht nur kognitive Kompetenzfacetten gefordert, sondern es kommen auch einstellungsbezogene Facetten professioneller Kompetenz ins Spiel.

Für die Modellierung kognitiver Kompetenzfacetten bei der Aufgabeneinschät-zung ist im Projekt eine fächerübergreifende Lösung erforderlich. Dabei kann an ausführliche Vorarbeiten insbesondere aus der Mathematikdidaktik angeknüpft

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werden. Dies ist aus Sicht der Deutschdidaktik ein Beispiel dafür, wie zielführend der Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin sein kann. Die Mathematik-didaktik unterscheidet in der Studie TEDS-M (Teacher Education and Develop-ment Study in Mathematics; Blömeke et al. 2010) folgende Wissensbereiche, die mit Blick auf das Aufgabenstellen zentral sind: Wissen über aufgabenrelevantes Schülervorwissen, Wissen über schwierigkeitsbestimmende Aufgabenmerkmale, Wissen über verbreitete fachspezifische Schülervorstellungen und Wissen über an-gemessenes Feedback (Döhrmann et al. 2010; Laschke/Döhrmann 2014; Laschke/

Kaiser 2014). TEDS-M und weiterführend auch TEDS-LT (an TEDS-LT ist auch die Deutschdidaktik beteiligt) differenzieren in Anknüpfung an vorangegangene Studien fachdidaktisches Wissen nicht nur nach inhaltlichen Aspekten, sondern auch nach kognitiven Prozessen beim Einsatz des Wissens. Bewährt hat sich diesbezüglich die Unterscheidung der Operationen Kennen/Erinnern/Abrufen, Anwenden, Bewerten/Begründen (Vos/Dämmer 2013; Bremerich-Vos et al. 2011; Buchholtz/Kaiser 2013; Buchholtz et al. 2011; Döhrmann et al.

2010). In unserem Forschungsvorhaben legen wir für die fachdidaktische (Teil-) Kompetenz im Bereich der Auswahl, Präsentation und Auswertung von Aufga-benstellungen entsprechend folgendes Modell kognitiver fachdidaktischer Kom-petenzfacetten zugrunde (Abb. 1):

Abb. 1: Fachdidaktische Kompetenzfacetten im Bereich der Aufgabeneinschätzung: Wissens-dimensionen und kognitive Operationen

Wir gehen davon aus, dass (angehende) Lehrpersonen beim Einsatz von Aufgaben-stellungen Wissen in allen vier Wissensbereichen benötigen und dass sie prinzipiell in der Lage sein müssen, je nach Anforderungssituation mit diesem Wissen alle drei

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Typen kognitiver Operationen durchzuführen.1 Der nächste Schritt im Forschungs-projekt besteht darin, ein Testinstrument zu entwickeln, mit dem sich das aufga-benbezogene Wissen von Studierenden ebenso erfassen lässt wie die kognitiven Operationen, mit deren Hilfe es genutzt wird. Für Studierende der Fächer Deutsch und Mathematik sind zwar fachspezifische Tests erforderlich. Diese müssen im vor-liegenden Projekt aber eine fächerübergreifende Auswertung ermöglichen, damit sich die Ergebnisse sinnvoll vergleichen lassen. Für die Tests haben wir entspre-chend ein zwar fachspezifisches, aber parallel angelegtes offenes Aufgabenformat entwickelt. Zum Aufgabenstamm gehören jeweils exemplarische Schüleraufgaben und darauf bezogene Schülerantworten, die durch die Studierenden zu analysieren sind. Für die Bearbeitung der Aufgaben sind die Wissensdimensionen und die kog-nitiven Operationen des hier skizzierten Modells erforderlich. Erste Pilotierungser-gebnisse bestätigen unsere Annahme, dass das Modell eine gute Grundlage für die fächerübergreifende Auswertung von Studierendenlösungen bietet.

Auch was die einstellungsbezogenen Kompetenzfacetten betrifft, die beim Auf-gabeneinsatz im Fachunterricht wirksam werden, geht es zunächst darum, Par-allelen und Unterschiede zwischen beiden Fächern festzustellen. Beobachtungen in der Lehre legen nahe, dass sowohl viele Mathematik- als auch viele Deutsch-studierende simplifizierende Vorstellungen vom jeweils eigenen Fach haben. Für das Fach Mathematik liegen etliche Untersuchungen zu fachspezifischen episte-mologischen Überzeugungen von Lernenden wie (angehenden und praktizieren-den) Lehrpersonen vor (Köller et al. 2000; Schmotz et al. 2010; Schoenfeld 1992;

Voss et al. 2011; Schmeisser et al. 2013). Als problematisch für den Kompetenzer-werb im Mathematikunterricht erweist sich dabei die Vorstellung von Mathema-tik als statischer, schematisch-algorithmisch ausgerichteter Disziplin (Köller et al.

2000) und von Mathematikunterricht als rein transmissivem Prozess, der sich auf das Vermitteln von Algorithmen beschränkt. Teilen Lehrkräfte diese Vorstellung, hat dies nachteilige Auswirkungen auf den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler (Voss et al. 2011). Bei Studierenden zu Beginn des Lehramtsstudiums der Mathematik sind transmissive Vorstellungen von Mathematikunterricht stärker ausgeprägt als bei erfahrenen Mathematik-Lehrkräften (Schmeisser et al. 2013).

1 Dass zwischen den kognitiven Operationen Abhängigkeiten bestehen, ist nichts Neues:

Wer sich an benötigtes Wissen nicht erinnert, kann es nicht in Zusammenhänge stellen geschweige denn reflektieren. Wer keine Zusammenhänge herstellen kann, wird sich mit dem Reflektieren schwertun. Allerdings wäre es ein Trugschluss anzunehmen, dass Erinnern und Benennen immer einfach wäre (man denke nur an komplexe fachliche Inhalte) und Reflektieren stets am schwierigsten.

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Für das Fach Deutsch fehlen systematische empirische Untersuchungen zu fachspezifischen Überzeugungen. Was Überzeugungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht betrifft, liegen allerdings einhellige Hinweise vor. Um der domänenspezifischen Komplexität und Ambiguität bei der Arbeit mit literari-schen Texten im Unterricht zu begegnen, erachten Deutschlehrkräfte anscheinend vorwiegend drei Bewältigungsvarianten für angemessen. Die ersten beiden Vari-anten können als ein Ausdruck transmissiver Vorstellungen gelten, die letzte als ein Ausdruck des Gegenteils: schematisches Abarbeiten von Algorithmen der Lite-raturanalyse (z. B. Kämper-van den Boogaart 2003; Zabka 2012), die Vorgabe von Deutungen (z. B. Vogt 2004; Willenberg 2002) oder weitestgehende Öffnung des Unterrichts für individuell beliebige Zugangsweisen und Interpretationen (Härle 2004; Vogt 2004). Alle drei Varianten sind als Formen der „oversimplification“

(Spiro et al. 1992) zu betrachten und aus einer fachlichen und fachdidaktischen Perspektive in ihrer Einseitigkeit wenig geeignet für die Förderung des Kompe-tenzerwerbs der Lernenden im Bereich der Literaturanalyse.

Bislang fehlen Untersuchungen zur Frage, wie (angehende) Mathematik- und Deutschlehrkräfte die „Philosophie“ ihres jeweiligen Schulfaches (Bromme 1992) im Vergleich zum anderen Fach sehen. Dass die Charakteristika beider Fächer von Schülerinnen und Schülern als massiv gegensätzlich erlebt werden, zeigt eine Stu-die von Haag/Götz (2012). Aus einer eigenen PilotstuStu-die liegen erste Befunde vor, wie Lehramtsstudierende der Fächer Deutsch (N = 82) und Mathematik (N = 79) die Besonderheiten des jeweils eigenen Faches im Vergleich zum jeweils anderen sehen (Winkler 2015a; siehe auch unten, Abschnitt 3).

Den Deutschstudierenden wurde folgende Frage gestellt: „Deutsch und Ma-thematik werden als sehr unterschiedliche Schulfächer erlebt. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an Deutsch gegenüber Mathematik?“ Auf der anderen Seite wurden die Mathematikstudierenden befragt, was aus ihrer Sicht das Besondere an Mathematik gegenüber Deutsch ist. Das offene Antwortformat ermöglicht den Befragten, eigene Schwerpunkte zu setzen und das ihnen subjektiv Wichtige zu betonen. Durch den Auftrag, die Fächer zu vergleichen, wird das eigene Fach klar profiliert. Darüber hinaus erhält man so Aussagen zu beiden Schulfächern aus der Perspektive zweier Studierendengruppen, die diesen Fächern unterschiedlich nahestehen. Dass die durch die Frage geforderte Kontrastierung der beiden Fächer auch eine gewisse Verengung der Perspektive auf ganz bestimmte Fachmerkma-le mit sich bringt, muss bei der Interpretation der Befunde refFachmerkma-lektiert werden (wenn mit den Studierendenaussagen in der Lehre gearbeitet werden soll, wie in Abschnitt 3 vorgeschlagen, spielt dieser Aspekt aber eine untergeordnete Rolle).

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Sowohl die Mathematik- als auch die Deutschstudierenden zeigen in Bezug auf das Problemlösen im eigenen und im jeweils anderen Fach simplifizierende Vor-stellungen, die größtenteils genau gegenläufig sind: Im Mathematikunterricht ist alles objektiv und eindeutig, im Literaturunterricht ist alles subjektiv und offen, so die dominierende Auffassung der Studierenden. Diese zugeschriebenen Facheigen-schaften werden von den Studierenden der beiden Fächer jeweils gegenläufig als positiv bzw. negativ beurteilt (das hohe Maß an Subjektivität im Literaturunterricht bspw. als positives Freiheitsmerkmal aus Sicht der Deutschstudierenden und als Ausdruck von Beliebigkeit und Willkür aus Sicht der Mathematikstudierenden).

Für eine große Zahl der Lehramtsstudierenden im Fach Deutsch besteht den Pilotbefunden zufolge die begründete Annahme, dass sie in Bezug auf ihr Fach auf einem „multiplist level“ (Kuhn 2009) verharren, also davon ausgehen, dass literari-sches Verstehen im Unterricht beliebig auf individuelle Ansichten gestützt werden kann. Bei den Mathematikstudierenden erscheint dagegen ein „absolutist level“

problematisch (Kuhn 2009), auf dem die Mathematik als eine Ansammlung von statischem Wissen über Aussagen und Verfahren gesehen wird (statisch-transmis-sive Perspektive, s. o.). Beide Auffassungen sind als ungünstige lehrerseitige Voraus-setzung einzuschätzen, wenn es um das Stellen kognitiv anregender Aufgaben bzw.

um den sachangemessenen und lernförderlichen Umgang mit Schülerantworten im Unterricht geht.

Vor diesem Hintergrund kann mit Blick auf einstellungsbezogene Kompe-tenzfacetten als Zieldimension des Lehramtsstudiums im Bereich Fachdidaktik in beiden Fächern gelten, dass fachliche Aufgabenstellungen und ihre Bearbei-tungen auf einem „evaluativist level“ (Kuhn 2009) betrachtet werden. Das heißt, dass bei der Einschätzung von Aufgabenanforderungen weder schematische noch beliebige Erwartungen anzulegen sind, sondern dass Problembearbeitungen nach sachbezogenen Kriterien geprüft und Bewertungen unter Einbeziehung multipler Perspektiven argumentativ gestützt werden sollen. In dieselbe Richtung zielt auch eine Schlussfolgerung, die aus den COACTIV-Befunden zum fachdidaktischen Wissen von Mathematiklehrkräften gezogen wird. Diesen Befunden zufolge ist bei (angehenden) Lehrkräften die fachdidaktische Teilkompetenz zu fördern, multiple Lösungswege für fachliche Aufgaben zu erkennen und zu beurteilen (Baumert/Kunter 2011a).

Sowohl kognitive als auch einstellungsbezogene Kompetenzfacetten, die bei der fachdidaktischen Einschätzung von Aufgabenanforderungen eine Rolle spielen, sollen in der geplanten Intervention durch multiperspektivische Lehr-Lern-Settings gefördert werden, indem in die fachdidaktische Lehre des einen Faches fachdidak-tische Perspektiven aus dem jeweils anderen Fach integriert werden.

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