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Vielleicht verführt die empirische Wende tatsächlich zu einer Trennung von Ge-genstandsorientierung und methodischer Vermittlung. Dass die Empirie-Orien-tierung für die Konstitution der Deutschdidaktik als eigenes Fach in Abgrenzung zu ihren Bezugswissenschaften nicht die möglicherweise erhoffte Wirkung hat, hat Iris Winkler an anderer Stelle erörtert (vgl. Winkler 2012). Gleichwohl hat die Empirie-Orientierung zu einer Neuausrichtung des Faches geführt. Dabei könnte dieses neue Paradigma in der Deutschdidaktik vielleicht als Lingua fran-ca verstanden werden, um unterschiedliche ‚Denkstile‘ zu überwinden und in Kooperation und Austausch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zu kommen.

Trotz dieses Paradigmenwechsels und der Betonung des Kompetenzerwerbs darf der ‚inhaltliche Bildungswert‘ des Gegenstands nicht verloren gehen. Thomas Zabka betont daher:

Literarische Texte dürfen keine beliebigen Gegenstände des Kompetenzerwerbs sein, sondern sollen nach Maßgabe ihres inhaltlichen Bildungswerts ausgewählt werden. Sinn-volles Inhaltslernen darf nicht als eine spätere, außerschulische Frucht des Kompetenzer-werbs versprochen werden, sondern muss diesen jederzeit begleiten. (Zabka 2012, S. 108)

Dieses Theorie-Praxis-Problem manifestiert sich für die angehenden Lehrerinnen und Lehrer dann auf einer anderen Ebene in der zweiten Phase der Lehramtsaus-bildung. Der sogenannte ‚Praxisschock’ verführt manche zu der Argumentation, dass Theoriebildung und hervorragende Theoriekenntnis nicht ausreichend sind, um eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer zu sein. Freilich zieht gute Theo-riekenntnis nicht notwendigerweise gute Praxis nach sich, dem ist kaum zu wi-dersprechen. Ohne Zweifel aber ist das Wissen um theoretische Modellierungen grundlegend für die Fähigkeit zur Reflexion wie auch für Innovation.

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Auch wenn in den vorliegenden Beiträgen der Schwerpunkt auf einer interdis-ziplinären Arbeit liegt, zu der eine Kombination aus fachwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive nicht zählt, möchte ich dennoch für eine enge Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik plädieren. Denn mein Eindruck ist durchaus, dass sich die Deutschdidaktik in ihren Erkenntnisinteressen und Untersuchungsmethoden von der Literaturwissenschaft entfernt hat. In welchen Bereichen könnten Literaturdidaktik und Literaturwissenschaften aber voneinander profitieren? Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, dürfte die Kooperation zu drei Themenbereichen sinnvoll sein: (1) Ich denke, dass aus einer engeren Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaften und Literaturdidaktik auch eine Öffnung fachdidaktischer Fragen jenseits des Schulkontexts ermöglicht werden könnte. (2) Während sich Literaturwissenschaftler i.  d.  R. nicht für adressatenbezogene Fragen interessieren, sind die Adressatenbezogenheit und die Frage nach literarischer Komplexität (und worin diese besteht) zentrale Forschungsbereiche der Literaturdidaktik. Auch hier wäre ein Austausch sicherlich – insbesondere für Literaturwissenschaftler – ertragreich. (3) Daran anschließend wäre auch das Problem, die systematische Mehrdeutigkeit zu modellieren, ein gemeinsames Thema. Insbesondere der Austausch zwischen empirischen und hermeneutischen Ansätzen (hier Literaturdidaktik, dort Literaturwissenschaft) dürfte bei einem aufgeschlossenen Austausch für beide Seiten fruchtbar sein. Dass die systematische Mehrdeutigkeit literarischer Texte insbesondere bei der Modellierung der Prüfungsitems in vielen Projekten, von denen die Beiträge berichten, zum Thema und mitunter zum Problem wird, verweist meines Erachtens einerseits auf die Dringlichkeit einer solchen Kooperation, andererseits verweist es auf die zunehmende Distanz zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik. Die letzte Feststellung möchte ich nicht als Kritik verstanden wissen. Insbesondere bei der Auseinandersetzung mit der systematischen Mehrdeutigkeit literarischer Texte bietet die Kooperation zwischen Literaturdidaktik und -wissenschaft Potenziale, mittlerweile eingefahrene oder sich einfahrende Strukturen zu hinterfragen und neue Wege zu beschreiten. Zwar haben nach der PISA-Studie Sachtexte im Deutschunterricht einen größeren Stellenwert erhalten, doch für den Erwerb wichtiger Kompetenzen, wie beispielsweise ästhetische Verstehenskompetenz oder Symbolverstehen, erscheinen mir literarische Texte immer noch die angemessenen Gegenstände zu sein. Dass Literatur für viele Schülerinnen und Schüler keinen

‚Lebensweltbezug‘ mehr habe, möchte ich als Argument nicht gelten lassen.

Alteritäts- und Fremdheitserfahrungen ermöglichen doch meistens überhaupt die intersubjektive Betrachtung – auch dies müsste aber differenzierter ausgeführt werden. Vielleicht ist mittlerweile der Grund bereitet für eine produktive und

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gleichberechtigte Kooperation zwischen Literaturdidaktik und -wissenschaft. Dabei ist die Distanz zwischen Literaturwissenschaft und -didaktik möglicherweise die Gelingensbedingung für eine produktive Kooperation. Denn manchmal benötigt man auch von seinen Geschwistern ein wenig Distanz, um sich wieder einander annähern zu können und vom Wissen der ‚fremd gewordenen Schwester‘ zu profitieren.

Literatur

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Fremde und vertraute Schwestern –