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Frauen im Vormärz: Lebensstile und Sozialisation

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2. Kontaktnetze von Frauen in den deutschen Staaten (1830 ‒ 1850)

2.1. Frauen im Vormärz: Lebensstile und Sozialisation

Das Schreckbild der französischen Revolution von 1789, die Erinnerungen an die napoleonische Zeit und das unbestrittene Ideal des napoleonischen Universalmonarchen prägten den Wiener Kongress und das daraus entstandene politische System der europäischen Staaten, deren Regierungsform weiterhin die Monarchie blieb.368 Das vom Wiener Kongress

367 Staatsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg (SUBHH), CS 18: Wurm H, Brief von Hermine Wurm an Elise Campe, Frankfurt 24.07.1848.

368 Vgl. Brendel, Thomas, Zukunft Europa? Das Europabild und die Idee der internationalen Solidarität bei den deutschen Liberalen und Demokraten im Vormärz (1815-1848), Bochum 2005, S. 78. Zur europäischen Bedeutung des Deutschen Bundes, dessen Wesen sich den zeitgenössischen Beobachtern zufolge an einer passiven Friedenspolitik orientieren sollte, vgl. S. 78-91. Zur europäischen Friedenordnung nach dem Wiener

88 verabschiedete europäische Mächtesystem half, interstaatliche Beziehungen ohne kriegerische Umwälzungen zu reglementieren. Die politischen Beschlüsse des Wiener Kongresses beeinflussten auch die politischen Entwicklungen der einzelnen deutschen Staaten.

Gleichzeitig kamen soziale und politische Spannungen zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen in den deutschen Staaten zur Geltung.

Mit der Unterzeichnung der Bundesakte am 8. Juni 1815 wurde der Deutsche Bund gegründet, der als eine Konföderation souveräner Einzelstaaten, u.a. auch Preußen und Österreich, auf der europäischen politischen Bühne auftrat. Als künftiger Versammlungsort des Bundes wurde Frankfurt am Main bestimmt, wo England, Frankreich und Russland ihre diplomatischen Vertreter niederließen. Die Verfassungsfrage stand vornehmlich auf der Tagesordnung der politischen Vertreter im Deutschen Bund.369 Während die süddeutschen Staaten zwischen 1818 und 1820 unter dem Einfluss der napoleonischen Reformen den Verfassungsweg einschlugen, um sich politisch zu konsolidieren und sich gegenüber dem Bund Autonomie zu sichern, setzte sich die Verabschiedung einer Verfassung in Preußen nicht durch.370

Das Scheitern des Verfassungsversuches in Preußen prägte die gesamte Epoche „Vormärz“, indem es den Restaurationsidealen Ausdruck verlieh. Nach Protesten der radikalen oppositionellen Bewegung der Burschenschaften von 1818/19371 und mit den verabschiedeten Karlsbader Beschlüssen, durch die die Monarchen oppositionelle Strömungen zu unterbinden vermochten, wurde das Herrschaftssystem zu einem Repressionssystem, in dem laut Thomas Nipperdey Herrschende Zensur und politische Kontrolle ausübten, sodass kein „freies Wechselspiel“ der unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kräfte stattfinden konnte.372 Während der größte Teil des Adels durch solche repressiven Maßnahmen seine Rechte und politische Macht sichern wollte, zielte das Bürgertum darauf ab, politische

Kongress vgl. Kraus, Klaus, Politisches Gleichgewicht und Europagedanke bei Metternich, Frankfurt a. M.

1993; Conze, Eckart, „Wer von Europa spricht, hat Unrecht“, Aufstieg und Verfall des vertragsrechtlichen Multilateralismus im europäischen Staatensystem des 19. Jahrhunderts, in: «Historisches Jahrbuch», Bd. 121 (2001), S. 214-241.

369 Vorerst blieb es unklar, inwiefern die restaurierten Monarchen die in der napoleonischen Zeit eingeführten Reformen weiterführen oder eher zurücknehmen wollten. Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte. 1800-1866. Bürger Welt und starker Staat, München 1983 [1994], S. 272.

370 A.a.O., S. 272-280.

371 Nach Gerhard Schäfer entkräftete der wachsende ökonomische Einfluss des liberalen Bürgertums und dessen Forderung nach politischer Einheit die Rolle der Burschenschaften in der oppositionellen Bewegung. Vgl.

Schäfer, Gerard, Die frühe Burschenschaftsbewegung, in: Heither, Dietrich/ Gehler, Michael/ Kurth, Alexandra/

Schäfer, Gerhard (Hgg.), Blut und Paukboden. Eine Geschichte der Burschenschaften, Frankfurt a. M. 1997, S. 14-53. Hier S. 47. Zu Protestformen der Burschenschaften vgl. Hardtwig, Wolfgang, Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815-1833, in: Reinalter, Helmut (Hrsg.), Demokratie und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815-1848/49, Frankfurt a. M. 1986, S. 37-76.

372 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 272-285. Hier S. 285.

89 Formen der modernen Repräsentation und Mitbestimmung zu gewinnen. Mit zunehmenden Repressionsmaßnahmen wurden vornehmlich die politischen Erwartungen innerhalb des Bürgertums enttäuscht.373 Ausgeschlossen von der ersehnten Machtausübung innerhalb der politischen Institutionen, kämpften Groß- und Kleinbürgertum sowie Teile des Adels im Vormärz um die Deutung der politischen und sozialen Verhältnisse.

In der Publizistik drückte die heranwachsende Generation ihre Unzufriedenheit bezüglich sozialer Spannungen und der dafür gefundenen politischen Antworten aus. In ihren Schriften thematisierten die Schriftsteller der literarischen Bewegung „Junges Deutschland“ die Lebensbedingungen in den deutschen Staaten parteiisch.374 Nach den bürgerlichen Vertretern der oppositionellen Bewegung trug der Adel mit seinen politischen Entscheidungen Verantwortung für die größtenteils schwierigen Lebensbedingungen der Bevölkerung.

Zunehmende Urbanisierung und soziale Zersplitterung waren die zeitgenössischen Probleme schlechthin. Pauperismus war, so Nipperdey, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wegen seiner massenhaften Dimensionzu einem „kollektiven Schicksal“ geworden, das von prekären Arbeitsverhältnissen, gesundheitsschädlichen Wohnbedingungen und sozialer Entwurzelung der Unterschichten geprägt war.375 Wie Dieter Langewiesche bemerkt hat, verschonte das aus dem Wiener Kongress hervorgegangene europäische Mächtesystem „die Generation nach 1815 von gesamteuropäischen Kriegen (…), während die Erfahrung der ‚Entzündbarkeit der Sozietät’ ihr Handeln und Denken weiterhin bestimmte“.376 Erst die Julirevolution von 1830 stellte europaweit das aus dem Wiener Kongress entstandene politische System in Frage.

Während umstürzlerische Proteste in einigen italienischen Staaten ausbrachen,377 entfachten politische Debatten Bewegungen im Deutschen Bund: in nord- und mitteldeutschen Staaten kam es zu Verfassungsbewegungen, und gleichzeitig bildete sich eine Opposition, die in der Publizistik, in den Burschenschaften und im geselligen Rahmen über die Grenzen der einzelnen deutschen Staaten hinauswirkte.378

373 Blackbourn, David, The Long Nineteenth Century: A History of Germany, 1780–1918, New York 1998 [2003], S. 78.

374 Vaßen, Florian (Hrsg.), Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Vormärz, Stuttgart 1975 [2005];

Breuilly, John, Civil Society and the Public Sphere in Hamburg, Lyon and Manchester 1815-1850, in:

Koopmann, Helmut/ Lauster, Martina (Hgg.), Vormärzliteratur in europäischer Perspektive, Bd. 1:

Öffentlichkeit und nationale Identität, Bielefeld 1996, S. 15-40. Zu zeitgenössischen Vorstellungen von Jugend vgl. Elkar, Rainer, Young Germans and Young Germany: Some Remarks on the History of German Youth in the Late Eighteenth and in the first Half of the Nineteenth Century, in: Roseman, Mark (Hrsg.), Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770-1968, Cambridge 1995, S. 69-91.

375 Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 219-248. Dazu vgl. auch Blackbourn, David, The Long Nineteenth Century, S. 79-90.

376 Langewiesche, Dieter, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849, München 1993, S. 3.

377 Vgl. Kap. 3.1.

378 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 366-377. Zu Auswirkungen der französischen Julirevolution auf die politischen Verhältnisse im Deutschen Bund vgl. Leonhard, Jörn, Liberalismus, S. 361-384. Nach Leonhard

90 Die im Winter 1830/31 in Polen entstandene Revolutionswelle erregte die Aufmerksamkeit dieser Generation. Die Anhänger der politischen Opposition in den deutschen Staaten begrüßten die den polnischen Aufstand begeistert und ergriffen die Gelegenheit, Kritik an der Politik des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. zu üben. Der Aufstand in Polen wurde zur Projektionsfläche der politischen Bestrebungen der bürgerlichen oppositionellen Bewegung.379 Durch Solidaritätsbekundungen, Feste und Vereinsgründungen zur Unterstützung der polnischen Freiheitskämpfer befürworteten die bürgerlichen Liberalen die Nationalidee und forderten Verfassungsreformen auch für die eigenen Staaten. Wie hatten Frauen die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Veränderungen des Vormärzes wahrgenommen?

Die Handlungen und Ansichten der Frauen wurden im Vormärz maßgeblich von der Geschlechterordnung mitstrukturiert, die die Ausgestaltung der Innerhäuslichen und die Pflege des Familiären den Frauen zuschrieb. Wie im Folgenden gezeigt wird, nahmen Frauen diese Aufgaben wahr, formten sie aber auch mit, indem sie freundschaftliche und familiäre Netze mitgestalteten und steuerten. Frauen schufen sich dadurch einen Raum, wo sie – so meine These – kulturelle und politische Orientierungen kommunizieren und verhandeln konnten. Dadurch lassen sich auch Veränderungen der politischen Ansichten von Frauen nachvollziehen, denn die politischen Orientierungen der hier berücksichtigten Frauen änderten sich im Laufe der Zeit. In den Netzen wurden also identitätsstiftende Prozesse der Frauen in Gang gesetzt. Mit familiären und persönlichen Verbindungen gingen Frauen nicht nur ihrem Bedürfnis nach Soziabilität nach. Freundschaftliche und familiäre Verbindungen, Geselligkeit und schließlich kirchliche Institutionen formten auch die Bedingungen für die politische Sozialisation von den um 1810 geborenen Frauen aus großkaufmännischen Haushalten oder Beamtenfamilien.

Die um 1810 in den deutschen Staaten geborenen Frauen stellten die erste Generation nach Jahrhunderten dar, die kaum Erfahrungen mit kriegerischen Ereignissen hatten.

Befreiungskriege und Stadtbelagerungen waren Ereignisse, die diese Frauen eher im kindlichen Alter erlebt hatten.380 Aufgrund der Quellenlage sind die persönlichen

stellte die Julirevolution einen Wendenpunkt für die Oppositionsbewegung dar, indem sich zwei gegensätzliche Orientierungen zunehmend herauskristallisierten: die gemäßigten Liberalen und die Radikalliberalen.

379 Zur Polenbegeisterung 1830/31 vgl. Kolb, Eberhard, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen: Zu Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz, in: «Saeculum», Bd. 26 (1975), S. 111-127; Schmidt-Funke, Julia A., Revolution als europäisches Ereignis: Revolutionsrezeption und Europakonzeptionen im Gefolge der Julirevolution von 1830, in: «Jahrbuch für Europäische Geschichte», Bd. 10 (2009), S. 149-194.

380 Die napoleonische Zeit hatte die Lebensbedingungen einiger Familien relativ verändert und die etwas älteren Frauen dieser Generation hatten ihre Kindheit unter französischer Herrschaft verbracht, wie zahlreiche

91 Erinnerungen an diese Erfahrungen bei den hier berücksichtigten einzelnen Frauen nur schwer rekonstruierbar.381 Eine Thematisierung der napoleonischen Zeit scheint seitens dieser Frauen erst um 1848/49 in Briefen und in der Publizistik stattgefunden zu haben. Alltäglich sah sich diese Frauengeneration mit ihrem sozialen Umfeld sowie mit Problemen der lokalen Gesellschaft konfrontiert, die aus der sich ankündigenden Industrialisierung und den daraus folgenden veränderten Lebensverhältnissen von ländlicher und städtischer Bevölkerung resultierten. Diese Frauengeneration war stark mit der Ausgestaltung des Innerhäuslichens beschäftigt und trug zur Verbreitung von bürgerlichen Werten sowie zur Stabilisierung familiärer und gesellschaftlicher Verbindungen bei.382

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts schrieben die Zeitgenossen den Frauen „die Regie der Verbürgerlichung“ zu, wie Gunilla Budde betont hat.383 Wie Studien belegen, verankerten Staatsphilosophen und Intellektuelle die Rolle der Frau vom ausgehenden 18. Jahrhundert hinweg verstärkt im familiären Rahmen.384 Publizisten arbeiteten eine Geschlechterdichotomie im 18. und 19. Jahrhundert aus, die zwei getrennte Wirkungsräume für bürgerliche Männer und Frauen vorsah.385 Während Männer nach bürgerlicher Auffassung

biographische Untersuchungen belegen. Dennoch vergegenwärtigten Frauen die Kriegserfahrungen der napoleonischen Zeit während der Gefechte um 1848/49. Beispielhaft dafür ist die Hambuger Familie Jenisch.

Vgl. Jänisch, Rudolph/ Jänisch, Oskar, Stammbaum der Familie Jänisch, Hamburg 1922, S. 21-22; Gerlach, Henry (Hrsg.), Friedrich Hebbel. Briefwechsel: 1829–1863. Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden, Bd. 1, München 1999, S. 347; Zucker, Stanley, Kathinka Zitz-Halein; Mecocci, Micaela, Kathinka Zitz (1801–1877).

Erinnerungen aus dem Leben der Mainzer Schriftstellerin und Patriotin, Mainz 1998, mit einem Teilnachdruck ihrer Dokumente.

381 Es ist allerdings auszuschließen, dass sich die in dieser Arbeit berücksichtigten Frauen an den Initiativen der

„patriotischen“ Frauenvereine beteiligten. Damals unterstützten einige Frauen durch Spenden und Vereinigungen die militärische Auseinandersetzung gegen die französischen Heere. Dazu vgl. Reder, Dirk Alexander, Frauenbewegung und Nation: patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813-1830), Köln 1998. Am Beispiel der Familie Merkel-Roth legte Rebekka Habermas die zeitgenössische Abgrenzung bürgerlicher Frauen von solchen Initiativen dar. Diese Frauen fühlten sich, so Habermas, von der Vereinsarbeit und -aufrufen kaum angesprochen, da sie andere Beschäftigungen, nämlich die Erziehung der Kinder, für „nützlich“ hielten. Vgl. Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums, S. 214-217.

382 Paletschek, Sylvia, Sozialgeschichte der Frauen in Hamburg im revolutionären Zeitalter (1840er und 1850er Jahre), in: Vogel, Barbara (Hrsg.), Frauen in der Ständegesellschaft: Leben und Arbeiten in der Stadt im späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hamburg 1991, S. 285-306; Joris, Elisabeth, Kinship and Gender, S. 231-257.

383 Zur gesellschaftlichen Rolle der Frauen im Bürgertum aus einer mentalitätsgeschichtlichen Perspektiven vgl.

Budde, Gunilla-Friederike, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, in: Lundgreen, Peter (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums: Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereiches, Göttingen 2000, S. 249- 271. Zu alltäglichen sozialen Praktiken vgl. Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums.

Zur Bürgerlichkeit als kulturelles System, dessen Praktiken erlernt und mitgestaltet werden können, vgl.

Hettling, Manfred, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Lundgreen, Peter (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, S. 319-339.

384 Bock, Gisela, Die europäische Querelle des Femmes.

385 Zu Geschlechterdichotomie vgl. Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“; Hausen, Karin, Öffentlichkeit und Privatheit; Frevert, Ute, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis.

Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17-48; Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter: die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750 – 1850, Frankfurt a. M.

1992. Gegen diese starre Geschlechterdichotomie, die die zeitgenössische Publizistik formte, hat Gisela Bock argumentiert. Vgl. Bock, Gisela, Die europäische Querelle des Femmes.

92 zu einzigen Ernährern und Geldverdienern der Familie wurden, lud man in der Publizistik die Rolle der Frauen emotional auf. Nach dem bürgerlichen Selbstverständnis sollten Frauen den Männern „Kompensation gegenüber der Welt des Lebenskampes“ sein.386 Auf die bürgerliche Familie wurden in der Restaurationszeit und im Vormärz „höhere moralisch-emotionale Erwartungen“ projektiert,387 indem sie als eine „primär moralische, natürliche Einheit“

verstanden wurde.388 Dazu trugen auch postnapoleonische Allegorien bei, die im Nationaldiskurs die Geschlechterbeziehungen neu aufwerteten. Während das Nationsbild als durch Gefühle und Tugenden verbundene familiäre Gemeinschaft dargestellt wurde, nahmen neue Weiblichkeitsentwürfe zu. Durch Analogien mit den Germania-Zuschreibungen wurden Frauen „auf die sakrale Dimension des Nationalen (…), auf die biologische Reproduktion als Funktion ethnischer Kontinuität (…), auf die Liebe als ausgleichende soziale Funktion (…), auf die Pflege von Tradition und Erinnerung (…)“ verwiesen, wie Bettina Brandt argumentiert hat.389 Aus diesem Grund schrieben die Zeitgenossen den Frauen die Funktion der intergenerationellen Weitertradierung von Werten und Lebensstilen zu.390 Zunehmend wertete man die Mutterrolle in der Kindererziehung emotional und wissenschaftlich auf.391 Solche Bilder ermächtigten frauenspezifische Handlungsräume. Die Grenzen der zwei gespalteten Wirkungsräume waren in der alltäglichen Interaktion beider Geschlechter fließend und beeinflussten sich vornehmlich im familiären Rahmen gegenseitig, wie Rebekka Habermas gezeigt hat.392 Frauen gestalteten dadurch das familiäre Leben. Dazu gehörten auch die Pflege der Kontakte und der Geselligkeit. Die Vernetzung der Frauen spiegelte oft die finanzielle und soziale Lage der Familien wieder,393 deren eigene geschäftliche Interessen auch im geselligen Rahmen gepflegt wurden.

386 Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 120. Dazu vgl. auch Budde, Gunilla-Friederike, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft.

387 Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 122. Dazu auch Habermas, Rebekka, Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat, in: van Dülmen, Richard (Hrsg.), Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln-Weimar-Wien 2001, S. 287-309.

388 Vgl. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 65-70.

389 Vgl. Brandt, Bettina, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010, S.188-206. Hier S. 204. Beispielhaft ist die Rolle der Eheschließungen, die für männliche Karrieren förderlich wirken konnte.

390 Vgl. Budde, Gunilla-Friederike, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, S. 258.

391 Ibidem.

392 Vgl. Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums. Dazu vgl. Kuhn, Bärbel, Familienstand ledig.

Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850-1914), Köln 2000.

393 Diesbezüglich hat Elisabeth Joris bemerkt, „ the union established by marriage was a mean of enforcing claims in the political and social sphere. In this context women acted as the representatives of their family of origin, as well as the family into which the married.” Vgl. Joris, Elisabeth, Kinship and Gender, S. 233.

93 a) Die Liebesheirat und politische Positionierung der Frauen

Eine eindeutige Verortung der politischen Meinungen von Frauen ist schwer rekonstruierbar.394 Die politischen Orientierungen der Frauen schwankten über die Zeit des Vormärz hinweg zwischen konstitutionell und linksliberal. Ein Grund dafür mag in der zeitgenössischen Verschiebung des Begriffes „liberal“ liegen. Die bürgerliche Opposition war vor 1848 in verschiedene Richtungen gespalten. Am Vorabend der Revolution setzten sich Deutungsmuster wie „Konservatismus“ und „Radikalismus“ in der politischen Publizistik durch, die dem Historiker Jörn Leonhard zufolge zu „ideologisch aufgeladenen Kampfbegriffen“ wurden und zur Polarisierung des zeitgenössischen politischen Diskurses beitrugen.395 Verheiratete Frauen schienen allerdings oft die politische Meinung ihrer Ehemänner zu teilen. Nicht zuletzt hatten gemeinsame politische und soziale Ansichten zur Eheschließung dieser Frauen im Vormärz beigetragen.

Im Folgenden werde ich zeigen, wie Frauen Privates und Politisches verkoppelten, indem sie bestimmte Eheverbindungen bevorzugten. Denn Frauen konnten durch ihre Männer politisch agieren. Ehemänner öffneten den Frauen Türen: Frauen sicherten sich durch die Ehe eine gesellschaftlich anerkannte Stellung, die Zugang zu neuen Orten und Informationen begünstigte. Für diese Generation waren also Liebe, Eheschließung und politische Orientierungen eng verbunden. In diesem Sinne übten Frauen das Politische durch Einbindung ins Private aus.

Für die um 1810 geborene Generation stellte Liebe eine „progressive, utopische Kraft“ dar, die eine freie und gerechte Gesellschaft antizipieren konnte.396 Diese Liebeswahrnehmungen waren im großen Maße von Vorstellungen aus der Romantik geprägt, nach der die Eheschließung auf eigenem Entschluss und gegenseitiger Sympathie basieren sollte.397 Das Ideal der Liebesheirat bahnte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert sowohl in den adligen als

394 Auf die Schwierigkeit, eindeutig die politischen Meinungen der Frauen zu verorten, hat auch schon Alexa Geisthövel hingewiesen. Geisthövel, Alexa, Teilnehmende Beobachtung, S. 322-325.

395 Vgl. Leonhard, Jörn, Liberalismus, S. 457-459.

396 Vgl. Potthast, Barbara, Liebe als Revolutionssurrogat. Zum Briefwechsel zwischen Therese von Bacheracht und Karl Gutzkow 1848/49, in: Stauf, Renate/ Simonis, Annette/ Paulus, Jörg (Hgg.), Der Liebesbrief:

Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2008, S. 107-127. Zur Liebesheirat und Selbstbehauptung vgl. Habermas, Rebekka, Bürgerliche Kleinfamilie.

397 Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, S. 118. „Liebe“ wurde von bildungsbürgerlichen Männern und Frauen sehr hoch bewertet. Anhand von Liebesbriefwechseln bildungsbürgerlicher Paare hat Kornelia Bähre für die weibliche Selbstinszenierung als ‚Liebesbedürftige‘ für die Beeinflussung des Bräutigams argumentiert.

Vgl. Bähre, Kornelia, Frauen als Liebende. Eine Untersuchung über den Zusammenhang zwischen dem Emotionskomplex „Liebe“ und der Identitätsbildung von Bildungsbürgerinnen in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts, Osnabrück 2001, E-Dissertation, [URL:http://repositorium.uni-osnabrueck.de/handle/

urn:nbn:de:gbv:700-2002031510], (letzter Zugriff am 5. Juni 2010), S. 191-225.

94 auch in den bürgerlichen Schichten den Weg.398 Die Persönlichkeit der Akteure und Akteurinnen trat also infolge der romantischen Ideale in den Vordergrund.399 Dabei übten auch Schriftsteller des Jungen Deutschlands mit ihren Schriften Kritik an den bisherigen Zuständen des Ehelebens aus, indem sie sich gegen Konvenienzehe aussprachen.400 Die Empfindungen und Einstellungen des liebenden Subjekts wurden aufgewertet, da es letztendlich der Ziel der Liebe sei, laut des Damen-Conversation-Lexikons 1834, eine

„Gemeinschaft für die Ewigkeit, eine Vereinigung für alle Verhältnisse, alle Schicksale“ zu stiften: und zwar die Ehe und die Familie.401 Das Lexikon betonte das Zusammenwirken beider Geschlechter im familiären Rahmen. Individuelle Empfindungen und Lebensentwürfe sowie das Mitwirken der Ehepartner wurden für Frauen zum Ideal für ein gut funktionierendes Familienleben, das sie als Eckstein des Staatslebens mitgestalteten.402 Gemeinsame Lebenseinstellungen und politische Ansichten stellten in dieser Frauengeneration eine wichtige Voraussetzung für die Eheschließung dar.403 In der Publizistik, in ihren Erinnerungen, sowie in ihren alltäglichen Briefwechseln betonten die um 1810 geborenen Frauen die Verflechtung von Freiheitsgedanken, patriotischer Gesinnung und Liebesheirat. Damit wurde vornehmlich privates und politisches verwoben. Für diese Frauen diente das Schreiben national- und sozialpädagogischen Zwecken, indem sie das Publikum auf die Rolle der Frau in der zeitgenössischen Gesellschaft aufmerksam machten.404 Diese

398 Zur Verbreitung und Akzeptanz der Liebeheirat in den adligen Schichten in den deutschen Staaten vgl.

Diemel, Christa, Adlige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert, S. 47-53.

399 Zu Liebe und Ehe als Entfaltungsmöglichkeiten der persönlichen Orientierungen und Lebenseinstellungen vgl. Trepp, Anne-Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit, S.83-103.

400 Carola Lipp hat diesbezüglich gezeigt, dass die Ehekritik der Schriftsteller zu neuen „Lebensentwürfen“

sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen dieser Generation geführt hatte. Vgl. Lipp, Carola, Bräute, Mütter, Gefährtinnen, S. 71-92.

401 Liebe, in: Herloßsohn, Karl (Hrsg.), Damen Conversations Lexikon, Leipzig 1834, S. 274-6. Hier S. 275.

402 Wie Rebekka Habermas gezeigt hat, formten Frauen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktisch in ihrem alltäglichen Ehe- und Familienleben das Ideal der „bürgerlichen Familie“ mit. Vgl. Habermas, Rebekka, Bürgerliche Kleinfamilie, S. 287-309

403 Die Politisierung von Liebesgefühlen war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes

403 Die Politisierung von Liebesgefühlen war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes

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