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2.3 Instrumente der Datenanalyse und der Theoriebildung

2.3.3 Fragen stellen

Fragen haben die Funktion, den analytischen Prozess zu katalysieren und zu steu-ern, aber auch, die Perspektive auf die Daten und die bisherigen Erkenntnisse be-wusst zu verändern. Von Anfang an, d. h. bereits beim offenen Kodieren, stellen die Forschenden Fragen an ihr Material, um die Daten zu öffnen oder ‚aufzubrechen‘.

Sensibilisierende Fragen sollen den Blick für mögliche Implikationen in den Da-ten schärfen. Sie lauDa-ten zum Beispiel:

• Was geschieht hier eigentlich?16

• Wer sind die Akteure?

• Wie definieren die Akteure die Situation?

• Welche Bedeutung hat die Situation für die Akteure?

• Unterscheiden sich die verschiedenen Akteure in ihrer Einschätzung der Situa-tion?

16 Gemeint sind zum Beispiel Probleme, Befürchtungen, Vorannahmen.

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• Wann, wie und mit welchen Konsequenzen handeln die Akteure?

• Inwiefern unterscheiden oder gleichen sich diese Handlungen in Bezug auf ver-schiedene Akteure und verver-schiedene Situationen? (Vgl. Strauss & Corbin 1998:

77)

Während sich die sensibilisierenden Fragen auf konkrete Handlungen beziehen, len-ken theoretische Fragen den Fokus auf Prozesse, Variationen und mögliche Verbin-dungen zwischen Konzepten. Theoretische Fragen unterstützen also den Prozess der Gruppierung von Konzepten, d. h. bei der Kategoriebildung, oder tragen dazu bei, Dimensionen und Eigenschaften zu entdecken.

• Was ist die Verbindung zwischen Konzept X und Konzept Y? Kann man sie z. B.

in Bezug auf ihre Eigenschaften und Dimensionen miteinander in Verbindung bringen?

• Inwiefern verändern sich Ereignisse und Handlungen im Laufe der Zeit?

• Gibt es übergreifende, strukturelle Themen oder Probleme? (Vgl. ebd.)

Die Planungsfragen können einerseits das theoretische Sampling steuern, anderer-seits strukturieren sie die sich entwickelnde Theorie. Beispiele sind:

• Welche Konzepte sind bereits gut ausgearbeitet, welche noch nicht?

• Wo, wann und wie erhebe ich weitere Daten für die sich entwickelnde Theorie?

• Ist meine Theorie in sich logisch? Wo gibt es noch Lücken?

• Ist eine theoretische Sättigung erreicht?17 (Vgl. ebd.)

Leitende Fragen sind die spezifischen Forschungsfragen, mit denen Daten erhoben und ausgewertet werden, also z. B. die Leitfragen in einem Interview oder bei einer teilnehmenden Beobachtung, aber auch die Teilfragen, die sich im Laufe des For-schungsprozesses ergeben (vgl. ebd.: 78).

Beispiel für leitende Frage

Ein Beispiel findet sich in dem bereits zitierten Code-Memo vom 21.11.2014:

„Was ist der Unterschied zwischen Zufriedenheit und Motivation? […]

→ Weitere Beispiele in Daten suchen und Definitionen für Zufriedenheit und Moti-vation in Handbüchern Psychologie nachsehen!“

Aus der Frage ergibt sich also die nächste Handlung im Forschungsprozess.

Für Analysephasen, in denen es darum geht, die Kategorien kontextuell aufeinander zu beziehen (axiales Kodieren) oder durch eine gezielte Analyse noch ungenügend ausgearbeitete Kategorien weiterzuentwickeln (selektives Kodieren), empfehlen Strauss und Corbin außerdem die ‚Klassiker‘ der W-Fragen: Wer? Wann? Warum?

Wo? Was? Wie? Wie viel? Mit welchen Ergebnissen? (vgl. ebd.: 89 f.).

17 Die theoretische Sättigung ist erreicht, wenn die Eigenschaften und Dimensionen sowie Variationen von Konzepten un-ter variablen Bedingungen detailliert ausgearbeitet wurden (vgl. Kapitel 2.2.3, Corbin & Strauss 2015: 139).

Auch hier sollten die verschiedenen Fragekategorien als Anregung verstanden werden und nicht als streng abzuarbeitendes Arbeitsprogramm. Die verschiedenen Frageperspektiven bzw. Frageschwerpunkte lassen sich, an das eigene Forschungs-projekt angepasst, durchaus fortsetzen: So könnte man von selbstreflexiven Fragen sprechen, mit denen man kritisch hinterfragt, inwiefern das eigene Vorwissen oder auch die eigenen Vorurteile und Erwartungshaltungen die Analyse der Daten beein-flussen. Methodische Fragen könnten zur Reflexion und Klärung des weiteren Vorge-hens und der nächsten Forschungsschritte führen etc. Auch hier gilt es also, sich vor allem bewusst zu machen, dass man mit Fragen verschiedene Perspektiven einneh-men, verschiedene Ebenen der Analyse adressieren und die Fragen als Instrument einsetzen kann, um den Analyseprozess (inhaltlich, strukturell, reflexiv etc.) weiter voranzutreiben. Oder, wie Strauss und Corbin es ausdrücken: „[…] we are using questions not to generate data but rather to generate ideas or ways of looking at the data“ (ebd.: 90).

Die Aussagen in den Daten sind beeinflusst von den Meinungen und Vor-annahmen der Befragten – und auch der oder die Forscher*in wird bei der Analyse und Interpretation der Daten von der eigenen Meinung und von Vorannahmen be-einflusst. Hier kann die Methode Schwenken der roten Fahne (im Englischen als

‚waving the red flag‘ bezeichnet) eingesetzt werden (vgl. Strauss & Corbin 1996: 70, Corbin & Strauss 2015: 98). Die Methode reagiert auf Signalwörter, die darauf hin-deuten, dass bestimmte Aussagen in den Daten näher betrachtet werden sollten.

Dies sind zum Beispiel Pauschalisierungen wie ‚Das war schon immer so‘.

Im Falle des oben genannten Beispiels ‚Das war schon immer so‘ ist ‚immer‘

das Signalwort, das zu einer Reflexion führen sollte. Zur Erinnerung: Ziel der Ana-lyse ist, Dimensionen und Eigenschaften von Kategorien zu entwickeln. ‚Immer‘,

‚nie‘, ‚jeder‘, ‚auf keinen Fall‘ etc. sind aber nur einzelne Ausprägungen auf der dimensionalen Skala. Daher müsste an dieser Stelle nach weiteren dimensionalen Variationen gefragt werden sowie nach den kontextuellen Bedingungen, durch die sie verursacht werden.

Beispiel für das Schwenken der roten Fahne

Dokument: KS M20TER

„Zu schreiben hatte ich vorher schon begonnen, aber nie freiwillig.“ (KS M20TER)

Die Aussage von KS M20TER, ‚nie freiwillig geschrieben zu haben‘, bezieht sich auf Schreibaufgaben in vorherigen Seminaren. Hier wäre zu fragen, ob es andere dimensionale Ausprägungen von Freiwilligkeit beim Schreiben gibt. Gibt es Aus-sagen dazu, ob Personen immer, oft oder manchmal freiwillig schreiben? Was ist überhaupt freiwilliges Schreiben? Schreiben inner- oder außerhalb der Hoch-schule? Welche Textsorten werden freiwillig, welche unfreiwillig geschrieben?

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Beim Auftreten bestimmter Signalwörter sollte also bewusst innegehalten werden, um die Aussage infrage zu stellen bzw. genauer zu untersuchen:

„The analytic moral is to not take situations or sayings for granted. It is important to ques-tion everything, especially those situaques-tions in which we find ourselves or our respond-ents […] accepting the common viewpoint or perspective.“ (Strauss & Corbin 1998: 98)