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Datenanalyse und Diskussion

7.2 Beispiel Adressatenbewusstsein

7.2.2 Datenanalyse und Diskussion

Analyse 1: Der Autor als alleiniger Adressat

Vor allem bei der Schilderung ihres literarischen Schreibens berichten einige Studie-rende, dass sie sich in erster Linie selbst als Adressat sehen:

Dokument: KS M01BIN

Der grundsätzliche Gedanke, einen Text zu verfassen, ist für mich, darzustellen, wie ich die Welt wahrnehme. Wenn ich also einen interessanten Aspekt aufgefunden habe, muss dieser seinen Weg auf das Papier finden. Da dieses im ersten Moment rein auf subjektiven Eindrücken basiert, entstehen Erzählungen, die auch nur vom Autor ver-standen werden. Dies habe ich vor Beginn des Seminars als Stil angesehen, dabei aber leider vernachlässigt, dass es mir auch wichtig sein könnte, meine Texte von anderen verstanden zu wissen, wie ich im Seminar letztlich auch bemerkt habe.

67 In Think-aloud-Protokollen kommentieren Schreibende alles, was sie während des Schreibens denken, fühlen und ent-scheiden. Es wird nicht davon ausgegangen, dass das Verbalisieren reale Denkprozesse genau abbildet, aber vermutet, dass das gleichzeitige mündliche Kommentieren einer Handlung zumindest Rückschlüsse auf die parallel ablaufenden kognitiven Entscheidungsprozesse zulässt.

Die Motivation, einen Text zu verfassen, besteht für diesen Schreiber darin, „darzu-stellen, wie ich die Welt wahrnehme“. Es geht ihm in erster Linie also um reine Selbstentäußerung, um eine Versprachlichung seiner Wahrnehmungen. Der Autor verfasst schreiberzentrierte Texte (vgl. Flower 1979: 19 ff.), bei denen nicht die Kom-munikation mit späteren Leserinnen und Lesern, sondern der Selbstausdruck im Vordergrund steht. Er literarisiert subjektive Eindrücke, was allerdings zur Folge hat, dass die Texte seiner Erfahrung nach „auch nur vom Autor verstanden werden“, also von ihm selbst.

Hayes führte Versuche durch, die zeigen, dass Schreibende, die noch kein Adres-satenbewusstsein entwickelt haben, in erster Linie sich selbst als primäres Modell für Adressatinnen und Adressaten nutzen, also „einen Text nur dann als unklar für die Adressat*innen beurteilen, wenn er ihnen selbst unklar ist“ (Hayes 2014 [1996]: 81).

Das Peer-Feedback seiner Testleser*innen verursacht beim oben zitierten Autor allerdings einen Perspektivwechsel.

Dokument: KS M01BIN

Die Anmerkungen der Seminarteilnehmer zu meinem Text waren ausgesprochen inte-ressant und hilfreich. Es gelang mir dadurch, den Text dem Leser anzupassen, um auch ohne die Intertextualität den Sinngehalt zu transponieren. Dieses konnte ich durch die veränderte Erzählstruktur, die frühe Einführung der Nebenfiguren, Differenzierung der Komplementärfiguren und eine ausgedehnte Nebenhandlung erzeugen.

Das Feedback der anderen Seminarteilnehmer*innen führt dazu, dass der Autor

„den Text dem Leser“ anpasst. Er führt hierfür Veränderungen auf globaler Ebene durch, d. h. er verändert die Erzählstruktur, führt bestimmte Figuren früher ein, ar-beitet andere detaillierter aus und entwickelt die Nebenhandlung weiter. Um noch einmal auf den Inhalt des ersten Zitats zurückzukommen: Während der Autor vor dem Seminar die Tatsache, dass seine Texte für Dritte wenig verständlich waren, „als Stil angesehen“ hat, stellt er durch den Austausch mit anderen fest, dass es ihm

„auch wichtig sein könnte, meine Texte von anderen verstanden zu wissen“. Bei ihm vollzieht sich also ein bewusster Wechsel vom schreiberzentrierten Schreiben hin zum adressatenorientierten Schreiben – und eine vage Vorstellung von literarischem

‚Stil‘ wird abgelöst von dem Wunsch nach ‚Verständlichkeit‘.

Analyse 2: Bekannte, unwissende Adressaten

Auch im folgenden Beispiel erkennt die Autorin, dass die Adressaten mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Wissen die von ihr verfasste Kolumne nicht entschlüsseln können:

Dokument: TS W11RHI

Meiner Meinung nach ist es für den Text besser, wenn die Kolumnistin ein Thema wählt, zu welchem diese einen emotionalen Abstand hat und aufgrund dessen sie darü-ber so darü-berichten kann, dass der unwissende Leser problemlos in der Lage ist, dem Ge-dankengang des Textes zu folgen. Dieses ist bei meinem Text nicht der Fall gewesen,

Beispiel Adressatenbewusstsein 163

was zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten bei meinen Kommilitoninnen aus mei-ner Seminargruppe geführt hat. Besonders die schnellen Sprünge, die zu geringen Aus-führungen und der knappe Einstieg scheinen das Textverständnis erheblich zu beein-trächtigen. Ebenfalls dürften die vielen Negationen das Textverständnis erschwert haben.

Die Autorin bezeichnet ihre testlesenden Kommilitoninnen und Kommilitonen als

„unwissende Leser“, wobei sich das Unwissen auf den fehlenden Einblick in die bio-grafischen Erfahrungen und die emotionalen Bezüge der Autorin bezieht, auf deren Grundlage die Kolumne entstanden ist. Die Autorin erkennt, dass sie beim Schrei-ben keinen „emotionalen Abstand“ zum gewählten Thema hatte, was dazu führte, dass sie ihre Gedankengänge nicht für andere nachvollziehbar darstellen konnte.

Auch hier ist also ein stark schreiberzentrierter Text entstanden. Durch die erhaltene Rückmeldung erkennt die Autorin jedoch, welche Charakteristika ihres Textes das Leseverständnis erschweren. Sie nennt ‚schnelle Sprünge‘, ‚zu geringe Ausführun-gen‘, ‚den knappen Einstieg‘ und ‚viele Negationen‘. Mit Ausnahme der Negationen beziehen sich alle von der Studentin genannten Aspekte auf „higher order concerns“

(Reigstad & McAndrew 2001: 42 ff.), d. h. auf Inhalt und Struktur, und beeinflussen die Kohärenz und damit die Verständlichkeit des Textes.

Analyse 3: Bekannte Adressaten als Experten

Der folgende Autor nutzt seine Testleser*innen gezielt als Korrektiv für Aspekte der Textkohärenz und stilistische Fragen:

Dokument: TS M30MEH

Insgesamt teilten sich die Leser meines Textes in zwei Gruppen, zum einen waren es Freunde oder Bekannte, die keinen Bezug zu einem sprachwissenschaftlichen Fach hatten, zum anderen Personen mit ebendiesem Bezug. Bei Ersteren legte ich den Schwerpunkt auf inhaltliche Fragen, die innere Geschlossenheit des Textes, mögliche Logiklücken und das Textverständnis. […] Bei den Lesern mit sprach- beziehungsweise geisteswissenschaftlichem Studienfach erhielt ich neben inhaltlichen Verbesserungsvor-schlägen auch Hinweise zum Aufbau des Textes sowie Vorschläge zur Verbesserung ein-zelner Passagen und Worte, die an bestimmten Stellen besser passen würden.

Erklärtes Ziel des Autors ist es, auf Grundlage der Rückmeldungen ihm bekannter Testleser*innen den Text zu überarbeiten. Im Vergleich zu der Autorin in Analyse 2 ist ihm bereits vor dem Feedback bewusst, dass seine Rohfassung vermutlich auf verschiedenen Ebenen überarbeitungswürdig ist. Das Feedback steuert er gezielt, in-dem er zwei unterschiedlichen Personengruppen unterschiedliche Feedbackanlie-gen mitteilt: Personen, die keinen sprachwissenschaftlichen Bezug haben, geben ihm Feedback auf inhaltliche Fragen, logische Fehler und darauf, ob sie den Text im Allgemeinen verstehen. Personen mit sprachwissenschaftlichem Hintergrund spricht er als Expertinnen und Experten an. Von ihnen erhält er außerdem Feedback auf textstruktureller, sprachlicher und stilistischer Ebene.

Analyse 4: Persönlich unbekannte, aber vertraute Adressatengruppe

Die Autorin im folgenden Beispiel bezeichnet sich als ‚langjährige Freizeitreiterin‘.

Als solche ist sie Mitglied der Diskursgemeinschaft der Freizeitreiter*innen, an die sie sich mit dem Text wendet. Sie richtet ihren Text also nicht an Adressatinnen und Adressaten, die ihr persönlich bekannt sind, sondern an eine Gruppe von Personen mit spezifischen Merkmalen, die ihr allerdings bestens vertraut sind.

Dokument: TS W25RSY

Die Leser […] sind hauptsächlich Reiter, beziehungsweise Pferdeerfahrene, es sollen aber auch Sektorfremde auf die Thematik aufmerksam und neugierig gemacht werden.

Das Thema des Textes ist die derzeitige Situation im Pferdesektor, er ist aber auch als Praxisratgeber gedacht. Die Leser*innen sollen Perspektiven aufgezeigt bekom-men, welche Möglichkeiten der artgerechten Pferdehaltung und Reitweisen es gibt.

Die Autorin hat also ein klares Kommunikationsziel und visiert eine ihr be-kannte Adressatengruppe an. Obwohl sie die Adressatinnen und Adressaten nicht persönlich kennt, ist ihr die Diskursgemeinschaft der ‚Reiter und Pferdeerfahrenen‘

vertraut; sie hat daher eine klare Vorstellung davon, wie sie diese adressieren muss.

Analyse 5: Unbekannte, unvertraute Adressatengruppe

Auch der folgende Autor hat eine konkrete Zielgruppe im Sinn, deren Bedürfnisse ihm allerdings nicht vertraut sind.

Dokument: NT M22RSU

Das Problem bei der Geschichte um Pascal war, dass ich irgendwie immer versucht habe, leserorientiert zu schreiben und vielleicht so etwas wie eine Moral der Geschichte zu entwickeln, und das hat mich wiederum gehemmt, weil ältere Kinder nun einmal nicht mehr ganz so leicht zu beeindrucken sind wie Sechsjährige. […] Ich bin nun ein-mal kein zwölfjähriger Junge mehr, geschweige denn, dass ich mich in einen ernsthaft hineinversetzen wollte. Klar, alle Autoren, die Kinder- und Jugendbücher schreiben, sind in der Regel älter als ihre Leserschaft, aber manchen scheint es einfach besser zu liegen als mir.

Der Autor möchte eine Geschichte verfassen, die sich an zwölfjährige Jungen richtet.

Aus seinen Aussagen lässt sich schließen, dass sein Schreibziel darin besteht, den Zwölfjährigen eine „Moral der Geschichte“ zu vermitteln und sie zu „beeindrucken“.

Allerdings gelingt es ihm seiner eigenen Einschätzung nach nicht, sich in die Adres-saten hineinzuversetzen, also eine mentale Repräsentation von Zwölfjährigen zu bil-den. Der Schreiber stellt fest, dass er die Adressaten nicht gezielt ansprechen kann, weil er nicht genügend Wissen über sie hat. Als Folge gibt er die Arbeit an seinem Textprojekt auf.

Beispiel Adressatenbewusstsein 165

Analyse 6: Unbekannter, fiktiver Adressat

Ein weiterer Student richtet seinen Text an einen einzelnen, rein fiktiven Adressaten:

Dokument: TS M21TAN

Die Einleitung bezog sich auf meine derzeitige Situation und die Gründe, aus denen ich überhaupt damit begann, die Biografie zu schreiben. Scheinbar hatte ich hier bereits den zukünftigen Leser im Jahr 2095 im Kopf, dem mein Buch in einem verstaubten Keller in die Hände gefallen ist und der sich nun wundert, was es damit auf sich hat. […]

Ich stellte fest, dass ich dazu neigte, auch kleinere Details aufzunehmen und mich so ziemlich zu verfransen. Dabei verlor ich den potenziellen Leser aus den Augen, ich hielt mich an Details auf, die zwar mir wichtig waren, für Außenstehende, und das wäre auch ein zukünftiger Verwandter, aber wohl eher langatmig wären.

Der Autor stellt sich vor, dass seine Autobiografie im Jahr 2095 einem Nachkommen in die Hände fällt, er bildet also eine mentale Repräsentation von einem fiktiven zu-künftigen Adressaten. Er nutzt die Vorstellung von diesem zuzu-künftigen Adressaten, um zu entscheiden, welche Details und Informationen für Leser*innen wirklich in-teressant sind und welche nicht.

An den diskutierten Daten zeigt sich, dass die Schreibenden ihre Texte nicht nur, wie Hayes (2014 [1996]: 81) feststellt, erfolgreich an ‚persönlich bekannte‘ und weniger erfolgreich an ‚nicht persönlich bekannte‘ Adressatinnen und Adressaten richten, sondern dass hier stärker differenziert werden muss: Schreibende zeigen nicht nur dann ein Adressatenbewusstsein beim Schreiben, wenn sie die Adressatin-nen und Adressaten persönlich kenAdressatin-nen, sondern auch, wenn ihAdressatin-nen die Adressaten-gruppe besonders vertraut ist, etwa weil die Schreibenden Teil der entsprechenden Diskursgemeinschaft sind oder weil sie sich die Adressatinnen und Adressaten be-sonders lebhaft vorstellen können. Bebe-sonders ausgeprägte mentale Bilder von Adres-satinnen und Adressaten scheinen eine bewusste Ausrichtung des Textes auf die Ad-ressatenschaft zu fördern – unabhängig davon, ob diese persönlich bekannt sind oder nicht, real sind oder fiktiv. Notwendig für erfolgreiche mentale Repräsentatio-nen sind möglicherweise entweder genug Wissen über die Adressatengruppe oder genug Vorstellungskraft.68

Als förderlich für die Entwicklung eines Adressatenbewusstseins erweisen sich Methoden des Peer-Feedbacks. Durch das Peer-Feedback im Seminar wird eine Situation geschaffen, in der nicht nur nach Hayes die ‚persönlich bekannten‘ und

‚persönlich unbekannten‘ Adressatinnen und Adressaten existieren, sondern eine

‚bekannte‘ Adressatengruppe den eigentlichen Adressatinnen und Adressaten vorge-schaltet wird.69 Selbst wenn also die Feedback gebenden Peers nicht der eigentlich

68 Um dies zu überprüfen, bedarf es einer anderen Forschungsfrage und anderer Daten als in der hier vorliegenden Stu-die.

69 Hinzuweisen ist hier nochmals auf den unterschiedlichen Charakter der Daten: Hayes untersuchte einzelne, in sich abgeschlossene Schreibsitzungen. Die Schreibenden in der vorliegenden Studie hatten dagegen Zeit, über das ganze Semester hinweg eine große oder mehrere kleine Schreibaufgaben zu bearbeiten, die ausführliche und angeleitete Feedback- und Überarbeitungsprozesse durchliefen.

intendierten Adressatengruppe (z. B. zwölfjährige Jungen) entsprechen, können sie dennoch als Testleser*innen auf diverse Aspekte des Textes sinnvoll Rückmeldung geben, wie in den ausgeführten Beispielen deutlich wurde.

Diese Feedback-Schleife mit ‚Testadressaten‘ hat mehrere denkbare Konsequen-zen. Durch das Peer-Feedback wird eine Lernsituation geschaffen, in der persönliche Interaktion und Reflexion in Kommunikation gezielt gefördert wird. Die Rückmel-dungen der Testleser*innen tragen dazu bei, eine „Geschichte persönlicher Interak-tion“ (Hayes 2014 [1996]: 81), die sich explizit auf die Wirkungsweisen des eigenen Textes bezieht, auszubilden und damit Erfahrungswissen über die Wirkung der eige-nen Texte zu sammeln.70 Hayes’ zu Beginn des Kapitels ausgeführter These zufolge wäre die logische Konsequenz, dass die Schreibenden nun bereits während des Schreibens auf dieses Erfahrungswissen zugreifen können.

Abgesehen davon müsste es einfacher sein, die mentale Repräsentation einer realen Person aufzurufen, von der man bereits Text-Feedback erhalten hat, als die mentale Repräsentation einer persönlich unbekannten und möglicherweise sogar unvertrauten Adressatengruppe zu bilden. Zudem stellt sich die Frage, ob es tatsäch-lich notwendig ist, solche mentalen Repräsentationen bereits während des Schreibens einer Rohfassung aufzurufen – was laut Hayes’ Daten selten vorkommt – oder ob es für die Schreibenden nicht einfacher und für das Textprodukt genauso ertragreich ist, diese während des Lesens des bereits verfassten Textes aufzurufen. Ein Text würde dann in seiner ersten Version nicht unbedingt aus Adressatenperspektive ver-fasst, aber später von dem oder der Autor*in aus Adressatenperspektive gelesen und überarbeitet werden können.

Im Folgenden soll daher anhand der Daten überprüft werden, inwiefern und wann es im Verlauf des Schreibprozesses den Schreibenden ihrer eigenen Einschät-zung nach gelingt, verschiedene Perspektiven auf den eigenen Text einzunehmen.

7.2.2.2 Den eigenen Text aus verschiedenen Perspektiven betrachten

Viele Aussagen bestätigen tatsächlich, dass es den Studierenden schwerfällt, die Le-serperspektive auf den eigenen Text einzunehmen:

Analyse 7: Den eigenen Text nicht aus Leserperspektive wahrnehmen können

Dokument: KS W29LIS

Die für mich wichtigste Erkenntnis war jedoch, dass ich die eigenen Texte nie aus der Perspektive des Lesers wahrnehmen kann. Um zu sehen, ob die Geschichte witzig oder spannend ist oder die Pointe am Ende funktioniert, muss immer jemand anderes den Text lesen und Feedback geben. Die Feedback-Runden innerhalb des Seminars waren daher sehr hilfreich und produktiv für mich.

70 Zum Langzeitgedächtnis vgl. Kapitel 3.2.2.

Beispiel Adressatenbewusstsein 167

Dokument: TS M21TAN

Dies verdeutlicht mir, wie wichtig es ist, sein eigenes Schreiben zu reflektieren und auch von anderen Lesern beurteilen zu lassen. Viele Dinge sind für das Auge des Schreibers quasi unsichtbar. Informationen, die mir selbst unerlässlich vorkamen, waren bei ge-nauerer Betrachtung entbehrlich.

Dokument: NT W05VAM

Nur weil ich keine Verbesserungsmöglichkeiten mehr sehe, heißt das nicht, dass meine Texte perfekt wären. Es bedeutet lediglich, dass ich selbst nicht in der Lage bin, die noch verbliebenen Fehler zu erkennen.

Alle drei Studierenden formulieren, dass es ihnen schwerfällt, den eigenen Text aus der Leserperspektive kritisch wahrzunehmen; Schwächen im Text sind für sie „un-sichtbar“. Zwei der Studierenden ziehen allerdings die Schlussfolgerung, dass die in eine Feedback-Runde ausgelagerte Leserperspektive für sie produktiv ist und dazu führt, dass sie ihre Texte in der Überarbeitung verbessern können. Sie haben also gelernt, vorgeschaltete Testadressatinnen und -adressaten produktiv in ihr Schreib-handeln zu integrieren.

Analyse 8: Die überprüfende Perspektive

Vereinzelt berichten Studierende allerdings, dass sie sehr wohl eine überprüfende Perspektive auf den eigenen Text einnehmen können:

Dokument: TS W25RSY

Bezogen auf den Lernprozess brachte mir dieser Aspekt die Erkenntnis, dass es sich lohnt, den Text auch während des Schreibens immer wieder reflexiv „von oben“ zu be-trachten und zu schauen, „funktioniert mein Text als das, was er sein soll?“

Diese Schreibende berichtet „von oben“ auf den Text zu blicken, d. h. sie nimmt bewusst eine reflexiv-distanzierte Perspektive auf ihren eigenen Text ein. Dies ent-spricht einer Phase in der Schreibentwicklung, die Bereiter und Scardamalia als knowledge transforming bezeichnen. Die Schreibenden

„überprüfen, ob der Text, den sie geschrieben haben, das aussagt, was er aussagen soll, und ob sie den Text selbst überzeugend finden. In diesem Prozess ziehen sie wahr-scheinlich nicht nur Änderungen im Text in Betracht, sondern auch Änderungen des-sen, was sie insgesamt sagen wollen. Auf diese Weise kann das Schreiben eine Rolle in der Entwicklung ihres Wissens spielen.“ (Bereiter & Scardamalia 2014 [1987]: 91)

Die Schreibenden befinden sich hier in der Rolle derjenigen, die eine bestimmte in-haltliche Botschaft auf eine bestimmte Art und Weise, die durch die Wahl der Text-sorte geprägt wird, an die Adressatinnen und Adressaten vermitteln wollen. Wie Be-reiter und Scardamalia feststellen, kann der überprüfende Blick auf den Text neue Erkenntnisse zur Folge haben, was wiederum dazu führen kann, dass der Inhalt überarbeitet und angepasst wird.

Analyse 9: Den Text aus Adressatenperspektive betrachten

Eine noch darüber hinausgehende Variante schildert folgende Autorin:

Dokument: NT W20HAM

Die Rückmeldungen aus der Gruppe waren immer sehr konstruktiv und ich hatte den Eindruck, dass mit unseren Texten gegenseitig wertschätzend umgegangen wurde und dadurch auch kontroverse Ansichten diskutiert werden konnten. Durch die Diskussio-nen habe ich außerdem gelernt, meine Texte noch reflektierender, d. h. aus Sicht des Re-zipienten zu betrachten und auf die Lesererwartungen einzugehen.

Diese Autorin schildert eine Art der mentalen Repräsentation, die Hayes (2014 [1996]) zufolge selten anzutreffen ist: Sie kann den Text aus der Sicht der Rezipienten betrachten und ihn so bewusst den Lesererwartungen entsprechend gestalten. Ent-scheidend ist auch hier die Aussage, dies durch die Diskussionen mit ihren Peers im Seminar gelernt zu haben – und nicht etwa durch das Schreiben an sich.

Das von der Autorin beschriebene Vorgehen entspricht dem knowledge crafting:

„Hierbei gilt es zu beachten, dass der*die Autor*in in dieser Phase nicht nur die Per-spektive der Lesenden auf die Botschaft des Textes, sondern auch deren Interpretationen des Textes selbst formt. In dieser Phase gestalten Schreibende, was gesagt und wie es ge-sagt wird, während sie die potenzielle Leserschaft im Blick behalten. Die Schreibenden versuchen, mögliche Textinterpretationen vorauszuahnen, und berücksichtigen diese bei der Überarbeitung.“ (Kellogg 2014 [2008]: 133)

Hier wird nicht nur, wie beim knowledge transforming, die Botschaft überprüft, die die Adressaten erreichen soll. Beim knowledge crafting haben die Schreibenden gleichzei-tig im Blick, ob der Text die eigenen Ideen adäquat transportiert und wie der Text von den Adressatinnen und Adressaten vermutlich interpretiert werden wird. Laut Kellogg findet dann eine dreifache mentale Repräsentation statt: Erstens sind sich die Schreibenden der Ideen oder Botschaften bewusst, die sie vermitteln wollen.

Zweitens erkennen sie, ob der bereits verfasste Text diese Botschaften adäquat trans-portiert. Und drittens können sie den Text aus Adressatenperspektive überprüfen – d. h. sie können gleichzeitig die Rolle des ‚Senders‘ und die des ‚Empfängers‘ einer Botschaft einnehmen. Das knowledge crafting findet sich laut Kellogg erst bei sehr erfahrenen Schreibenden und entspricht bereits einer Expertise im Schreiben be-stimmter Textsorten:

„Es dauert vermutlich mehrere Jahre, bis Schreibende über eine ausreichende rhetori-sche Kompetenz und Übung in ihrem Feld verfügen, damit sie einer spezifirhetori-schen Adres-satengruppe ein bestimmtes Wissen vermitteln können.“ (Kellogg 2014 [2008]: 136 f.)

Kellogg geht davon aus, dass bis zu zehn Jahre Übung in einem Feld benötigt wer-den, bis sich das knowledge transforming hin zum knowledge crafting entwickelt:

Kellogg geht davon aus, dass bis zu zehn Jahre Übung in einem Feld benötigt wer-den, bis sich das knowledge transforming hin zum knowledge crafting entwickelt: