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Fokus sozialer Kontext

4.2 Datenanalyse

4.2.1 Fokus sozialer Kontext

Folgt man Hayes’ Modell, wirkt die soziale Umgebung erstens durch die Adressatin-nen und Adressaten auf den Schreibprozess ein (vgl. Hayes 2014 [1996]: 62). Anders ausgedrückt haben Schreibende spezifische Kommunikationsziele, die die Wahl der Textsorten bestimmen, die wiederum unterschiedlichen formalen und sprachlichen Konventionen folgen. Vom sozialen Kontext hängt auch die Art und Weise der Rück-meldungen oder Reaktionen auf die jeweilige Textsorte ab (vgl. Rose 1985: 233). In institutionalisierten Kontexten wie der Schule oder der Hochschule gibt es zum Bei-spiel Rückmeldungen auf Texte in Form von Noten; bei einer E-Mail bestünde die Rückmeldung möglicherweise in einer Antwort-E-Mail.

Zweitens beeinflussen die sogenannten Mitwirkenden, d. h. alle Personen, die in irgendeiner Weise am Entstehen des Textes beteiligt sind, den Schreibprozess (vgl. Hayes 2014 [1996]: 62). Das wären im universitären Kontext zum Beispiel die Dozentin, die die Schreibaufgabe formuliert oder eine von der Studentin selbst ge-wählte Fragestellung in der Sprechstunde absegnet, der Kommilitone, mit dem die Studentin das Referat gehalten hat, auf dem die Seminararbeit basiert, oder die Mit-bewohnerin, die Feedback auf die Rohfassung des Textes gibt.

Drittens hat auch die unmittelbare soziale Situation der Schreibenden Auswir-kungen auf das Schreiben (vgl. ebd.). Die finanzielle Situation bestimmt zum Bei-spiel, wie viel Zeit für Nebenjobs aufgewendet werden muss und wie viel Zeit noch bleibt, um sich mit dem Schreibprojekt zu befassen. Auch die individuelle Lernge-schichte und biografische Vorerfahrungen mit dem Schreiben, die ebenfalls durch den jeweiligen sozialen Kontext geprägt sind, haben Auswirkungen auf den Schreib-prozess (vgl. Ruhmann & Kruse 2014: 21).

Im Folgenden soll anhand der Daten analysiert werden, auf welche Art und Weise der soziale Kontext in der Wahrnehmung der Studierenden Auswirkungen auf ihr Schreiben hat.39

Analyse 1: Sozialer Status als alleinerziehende und arbeitende Studentin

Dokument: TS W10KRU

Gerade weil ich wegen meines Status als alleinerziehende und arbeitende Studentin ständig in Phasen der Überforderung lande, habe ich oft das Gefühl, weniger mitbekom-men, geübt und gelernt zu haben, um im Vergleich zu den anderen Studenten mithal-ten zu können.

39 Grammatische und stilistische Ungenauigkeiten in den Aussagen der Studierenden wurden, im Gegensatz zu orthogra-fischen und Interpunktionsfehlern, nicht verbessert. Orthografie und Interpunktion wurden korrigiert, da viele Fehler durch die Texterkennungssoftware (die Texte der Studierenden lagen auf Papier vor und wurden eingescannt) erzeugt wurden.

Diese Studentin thematisiert Nachteile, die sie aus ihrer Perspektive hat, da sie alleinerziehende Mutter ist, arbeitet und studiert. Tatsächlich kann ihre soziale Situa-tion dazu führen, dass sie weniger regelmäßig an Seminaren teilnehmen kann und ihr weniger Zeit und Konzentration für die Vor- und Nachbereitung von Studien-inhalten und für die Bearbeitung schriftlicher Aufgaben zur Verfügung stehen. Dies führt bei ihr zu Gefühlen der Überforderung und der Unterlegenheit anderen Stu-dierenden gegenüber.

Analyse 2: Mangelnde Motivation und andere Prioritäten

Dokument: TS M31SAL

Ich war schlicht nicht in der Lage, genügend Motivation aufzubringen, um Hausarbei-ten zu verfassen, und war auch bei „kleineren“ Leistungen (Abstracts, Essays) auf Frist-verlängerungen angewiesen, da ich entweder zu hohe Ansprüche an mich selbst stellte oder meine Aufmerksamkeit lieber hochschulrechtlichen, politischen oder privaten Be-langen widmete.

In diesem Beispiel findet sich Hayes’ (1996) Beobachtung wieder, dass der soziale Kontext ‚Studium‘ in Konflikt treten kann mit Schreibprojekten. Dieser Student dia-gnostiziert selbst, dass er seine Aufmerksamkeit lieber anderen Belangen widmet als der Erbringung von Studienleistungen in schriftlicher Form. Während er für den hochschulpolitischen Bereich, der auf freiwilligem Engagement beruht, viel Motiva-tion aufbringt, mangelt es ihm an MotivaMotiva-tion in Bezug auf seine akademischen Schreibprojekte. Dieser Student berichtet außerdem, „zu hohe Ansprüche“ an sich selbst zu stellen – laut Rose eine der zentralen Ursachen für Schreibblockaden (vgl.

Rose 2014 [1984]:7). Vielleicht tragen die hohen Ansprüche auch mit dazu bei, dass sich die Motivation auf andere Bereiche des Studiums verlagert.

Analyse 3: Studienstruktur als Möglichkeit, dem Schreiben auszuweichen

Dokument: TS W10KRU

Am Beginn meines Studiums bot sich stets die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Ar-beit durch eine andere Art von Leistungserbringung zu umgehen. Nach einigen Semes-tern entstanden dann richtige Hemmungen, mit dem wissenschaftlichen Schreiben zu beginnen, da ich meinte, ich müsse an jenem Punkt im Studium bereits über vielseitige Schreibkompetenzen verfügen. Begleitet von diesem Gefühl wurde das Schreiben im Studium zu einer großen Hürde.

Die Struktur des Germanistikstudiums ermöglicht es dieser Studentin, das wissen-schaftliche Schreiben zu vermeiden. Sie entwickelt umso stärkere Schreibhemmun-gen, je länger sie das wissenschaftliche Schreiben aufschiebt, da sie den Eindruck hat, nicht über die Schreibkompetenzen zu verfügen, über die sie eigentlich verfü-gen sollte. Allerdings spezifiziert sie diese Kompetenzen nicht (außer, dass sie ‚viel-seitig‘ sein sollten), was darauf hindeutet, dass sie diffuse Vorstellungen vom wis-senschaftlichen Schreiben hat, die sie deswegen nicht konkretisieren kann, da sie der Beschäftigung damit konsequent ausweicht.

Datenanalyse 79

Analyse 4: Mangelnde Übungsmöglichkeiten

Dokument: NT W07GAS

Ich habe das Seminar besucht, um im Germanistikstudium an das Schreiben zu kom-men. Ich habe rückblickend und mich im letzten Semester meines Bachelors befindend sehr wenig geschrieben in den letzten drei Jahren. In der Zeit während des Abiturs war ich in guter Übung, was das Schreiben von Texten betraf. Zwar waren das in der Regel mehr oder weniger wissenschaftliche bzw. fachspezifische Texte zu bestimmten Themen und Aufgabenstellungen, doch lief der Schreibfluss nahezu selbstständig. Während des Studiums ist die Leichtigkeit des Schreibens, entgegen meiner Erwartungen, verloren gegangen, da wenige Schreibarbeiten anstanden, in den großen, vollen Massenvorlesun-gen, in denen das reine Wissen über Klausuren geprüft wurde, in denen die Freiheit des Schreibens und die Schreibfertigkeiten als solche eine sehr untergeordnete Rolle ge-spielt haben.

Diese Studentin reflektiert rückblickend ihre Schreiberfahrungen im Germanistik-studium. Das Phänomen, dass ihr die während der Schulzeit vorhandene „Leichtig-keit des Schreibens“ verloren gegangen ist, führt sie auf mangelnde Schreibroutine an der Universität zurück. Sie befindet sich im sechsten Semester ihres Bachelorstu-diums und hat ihrer eigenen Einschätzung nach im Vergleich zur Abiturzeit sehr wenig geschrieben. Erstens gab es wenig Schreibaufgaben, zweitens bestand die in-stitutionell bevorzugte Prüfungsform in Klausuren und drittens spielten in ihrem Studium „die Freiheit des Schreibens und die Schreibfertigkeiten“ eine nur unterge-ordnete Rolle. Anders als andere Studierende macht diese Studentin nicht sich selbst, sondern die institutionellen Rahmenbedingungen für ihre Schwierigkeiten mit dem akademischen Schreiben verantwortlich. Sie thematisiert, dass ihre ehe-mals vorhandene Schreibroutine verloren geht, nicht erweitert und vertieft werden kann, weil es kein Konzept für einen strukturierten Ausbau von Schreibfertigkeiten und damit auch keine Übungsmöglichkeiten gibt.

Analyse 5: Art der Aufgabenstellung

Dokument: NT W01JEL

In der Schule gab es immer wieder Texte, die in vielen Fächern regelmäßig geschrieben werden mussten, wie zum Beispiel Analysen; in der Uni gibt es diese Regelmäßigkeiten in den meisten Fällen allerdings nicht mehr. Natürlich kommt es dann auch wieder da-rauf an, welche Seminare besucht werden. Aus diesem Grund schreibe ich zwar hin und wieder Texte, aber in keinen regelmäßigen Abständen. In meiner Freizeit fehlt mir oft die Zeit zum Schreiben. Die Hausaufgaben, die erledigt werden, fertige ich meistens in Form von Notizen an (wenn überhaupt etwas geschrieben werden soll). In den meisten Fällen wird erwartet, lediglich Texte zu lesen und zu verstehen.

Auch diese Studentin thematisiert, dass sie in der Schule regelmäßig geschrieben hat, in der Hochschule dagegen nicht. Die Schreibaufgaben, die die Studentin in der Schule in verschiedenen Fächern erhalten hat (sie nennt Analysen), waren aus ihrer Sicht außerdem komplexer als die an der Universität (sie nennt Notizen). Das Anfer-tigen von Notizen in Reaktion auf Lektüre ist der Studentin zufolge die häufigste

universitäre Schreibhausaufgabe. Der Fokus universitärer Hausaufgaben liegt ihrem Verständnis nach auf dem Lesen und dem Leseverständnis, nicht dem Schreiben.

Analyse 6: Keine Einführung in die Grundlagen wissenschaftlichen Schreibens

Dokument: SH W19PEH

Die erste „richtige“ Hausarbeit steht mir noch bevor. Ich habe bislang nur eine Referats-ausarbeitung erarbeitet. Ich hatte zu dem Zeitpunkt sehr wenig Schreiberfahrung – ab-gesehen von den Klausuren, die man in der Oberstufe in Deutsch geschrieben hat, was dazu führte, dass ich sehr unsicher war. Das erste Problem bestand darin, die geeignete Literatur zu finden. Mein Dozent verwies lediglich auf eine 800-seitige Arbeit. Es fiel mir schwer, anhand dieser ausführlichen Arbeit relevante Aspekte herauszufiltern. Außer-dem fiel es mir sehr schwer, den Text in meinen eigenen Worten zu formulieren. Immer wieder wurde mir bewusst, dass ich dazu geneigt war, auf die Formulierungen des Au-tors zurückzugreifen. Ein weiterer Punkt, mit dem ich zu „kämpfen“ hatte, war die im-mer wieder auftretende Frage „Ist das jetzt eine wissenschaftliche Ausarbeitung?“, „Was zeichnet das wissenschaftliche Schreiben aus?“

Diese Studentin berichtet von ihrer ersten (und bislang einzigen) längeren Schreib-aufgabe an der Universität, einer Referatsausarbeitung. Die Studentin hat ihrer eige-nen Einschätzung nach wenig Schreiberfahrung, was zu einem Gefühl der Verunsi-cherung führt. Sie benennt mehrere Hürden bei der Erstellung ihres ersten universitären Textes: Sie hatte Probleme bei der Literaturrecherche, bei der Auswer-tung und Zusammenfassung der Literatur und bei der Ausformulierung ihres Textes, insbesondere damit, fremdes Wissen in eigene Worte zu fassen. Außerdem waren ihr die Charakteristika eines wissenschaftlichen Textes unbekannt. Hervorzu-heben ist, dass alle genannten Punkte auf einem Informations- und Wissensdefizit beruhen. Der Studentin fehlt das grundlegende Werkzeug des wissenschaftlichen Arbeitens (etwa, wie man 800 Seiten danach durchsieht, ob etwas Relevantes zur ei-genen Fragestellung darin zu finden ist). Ihr Bericht macht deutlich, dass sie im Rahmen ihres Studiums keine Informationen erhalten hat, die sie dazu befähigen würden, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen.

Analyse 7: Selbstständiges Erarbeiten der Grundlagen wissenschaftlichen Schreibens

Dokument: SH W10JAC

Meine erste Hausarbeit war die Fallstudie in EW [Erziehungswissenschaften; Anm.

d. Verf.]. Ich habe sie im Bereich Medien über Harry Potter geschrieben. Seitdem ist mir klar, wie gut man sich das Thema überlegen sollte, denn es war wirklich eine Qual. Erst als ich ein Buch zum wissenschaftlichen Schreiben las, verstand ich, warum. Ich hatte weder Theorie noch stimmige Hypothese. Dementsprechend schwierig war es, einen roten Faden, eine Struktur zu entwickeln. Ich habe mich ein halbes Jahr lang gequält und war trotzdem unzufrieden mit dem Ergebnis. Der Dozent hat mir nicht erklärt, was mein Problem war und in Sprechstunden nur grob über das Thema mit mir gespro-chen. Ich hatte auch Probleme mit der Literaturrecherche (ich hatte ja keine Theorie als Basis).

Datenanalyse 81

In diesem Beispiel treten Reibungsverluste beim Verfassen der ersten Hausarbeit auf. Die Studentin berichtet von Schwierigkeiten bei der Literaturrecherche, Proble-men mit der Strukturentwicklung, einem langwierigen, qualvollen Schreibprozess und Unzufriedenheit mit dem Ergebnis. Auch sie hat die Interaktion mit dem Dozenten als nicht hilfreich erlebt. Informationen über alternative Vorgehensweisen erhält sie nicht im Rahmen ihres Studiums, sondern durch die selbstmotivierte Lek-türe eines Ratgebers für wissenschaftliches Schreiben. Sie stellt fest, dass sie eine

„Theorie als Basis“ und „eine stimmige Hypothese“ benötigt hätte, um ihr Schreib-handeln besser gestalten zu können.