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Formalistische Theorien

Im Dokument Franz von Kutschera (Seite 170-200)

2 Ästhetische Erfahrungen und Urteile 2.1 Ästhetische Erfahrung

3.1 Formalistische Theorien

Im ersten Kapiteln haben wir uns mit der sinnlichen Erkenntnis und ihrem Ausdruck befaßt, die Baumgarten in das Zentrum seiner Ästhetik gestellt hat. Im letzten Kapitel ging es um die Theorie ästhetischer Phänomene. In diesem Kapitel wenden wir uns nun dem dritten und bedeutendsten der drei Themenkreise der Ästhetik zu, von denen in der Einleitung die Rede war: der Kunst. Als erste Frage stellt sich dabei die, was Kunst ist. Mit ihr befassen wir uns in den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels. Ihre Beantwortung bildet die Grundlage für die Diskussion von Rangkriterien für Kunst, der Aufgaben der Kunstkritik und der Bedeutung der Kunst in den späteren Abschnitten.

Die Erörterung der Frage, was Kunst ist, erfordert einige Vorbe-merkungen. Das Wort „Kunst" bezeichnet erstens eine Fähigkeit, ein Können, insbesondere eine nicht leicht erlernbare, besondere Begabung erfordernde Kompetenz oder die Meisterschaft in einer Technik.1 In diesem Sinn sprechen wir auch von einer „Kochkunst"

oder „Verhandlungskunst". Zweitens steht das Wort für den Inbegriff aller Kunstwerke, oder — wie im Ausdruck „die Kunst des Ba-rock" — für eine spezielle Menge von Kunstwerken. Drittens be-zeichnet es, ähnlich wie das Wort „Wissenschaft", das Ganze von Aktivitäten, Werken, Personen und Institutionen, die den „Kunstbe-trieb" ausmachen. Im Kontext der Frage „Was ist Kunst?" verstehen wir es hier im zweiten Sinn. Unsere Frage lautet also genauer: „Was ist ein Kunstwerk?"

Das Wort „Kunstwerk" hat ebenso wie „Kunst" im Sinne von

„Kompetenz" einen wertenden Sinn. Nicht jedes Gedicht, Lied oder Gemälde ist ein Kunstwerk, sondern nur eines, das sich durch gewisse

J.N.Nestroy meinte freilich: „Kunst ist, wenn man's nicht kann, denn wenn man's kann, ist's keine Kunst".

Qualitäten auszeichnet. Schlechte oder triviale Gedichte bezeichnen wir nicht als „Kunstwerke". Im Bereich jener Gedichte, die wir als Kunstwerke ansehen, unterscheiden wir aber bessere von weniger guten Gedichten, so daß man „Kunstwerk" nicht nur im Sinn von „gutes Kunstwerk" versteht. Es gibt also so etwas wie eine Qualitätsschwelle, die Kunst von Nichtkunst trennt, aber zwischen den einzelnen Kunstwerken bestehen noch erhebliche Rangunter-schiede. Die Frage, was ein Kunstwerk ist, ist also von jener zu trennen, was ein gutes Kunstwerk ist — auf sie gehen wir erst im Abschnitt 3.4 ein —, auch die Beantwortung der ersten Frage wird sich jedoch schon auf Wertaspekte beziehen.

Wie schon in der Einleitung angedeutet wurde, hält man die Frage, was Kunst sej, oft aus folgenden Gründen für verfehlt:

1. Vielfalt der Kunstformerr. Eine adäquate Explikation des Wertes

„Kunstwerk" müßte im wesentlichen all das umfassen, was man normalerweise so bezeichnet. Die Vielfalt der Kunstwerke läßt sich aber nicht auf einen gemeinsamen Begriff bringen, der nicht weitge-hend inhaltsleer wäre. Nicht nur die obersten Kunstgattungen — Dichtung, bildende Kunst und Musik — sind durchaus heterogen, sondern auch die Arten und Unterarten, in die sie zerfallen. Zwischen einem lyrischen Gedicht, einer Ballade, einem Roman, einer Tragödie und einer Posse bestehen fundamentale Unterschiede, ebenso zwi-schen einem Lied, einem Oratorium, einer Sonate und einer Oper, und mehr noch zwischen einem Ölgemälde, einer Kathedrale und einer Skulptur. Noch bunter wird die Vielfalt, wenn wir auch Tanz, Pantomime, Film, Fotographie, Gartenarchitektur, Ornamentik und Kunsthandwerk hinzunehmen. Es werden sich kaum nichttriviale Eigenschaften finden, welche die Werke all dieser Kunstarten mitein-ander gemeinsam haben.

2. Offenheit der Kunst: Es gibt keine scharfen Grenzen zwischen Werken der Kunst und anderen Artefakten. Auch Schmuck und Gebrauchsgegenstände wie Mobiliar und Kleidung werden nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet. Wo verläuft die Grenze zwi-schen bloßer Wanddekoration und künstlerischer Wandmalerei? Wel-che Bauwerke sind noch, und welWel-che nicht mehr als „Kunstwerke"

zu bezeichnen? Wann ist ein Grabmal ein Werk der Kunst? Die Konzeptionen von Kunst haben sich ferner im Lauf der Zeit geän-dert. Heute befaßt sich z.B. die Literaturwissenschaft auch mit Krimi-nalromanen und Trivialliteratur, die Kunstwissenschaft mit

techni-sehen Bauten wie Bahnhöfen und Fersehtürmen. In Antike und Mittelalter galt allein Dichtung als Kunst im anspruchsvolleren Sinn, während Plastik, Architektur und Malerei nur als Handwerk angese-hen wurden.2 Endlich unterliegt die Kunst einem ständigen Wandel.

Eine Definition der Malerei vor 100 Jahren hätte sich nach dem Auftreten der abstrakten und der Action-Malerei vermutlich als zu eng erwiesen. Neue Medien treten aufs Feld wie Fotografie oder elektronische Musik. Der Wandel der Kunst und ihre fließenden Grenzen machen also eine definitive Bestimmung dessen, was Kunst ist, unmöglich.3

3. Vorwurf des Essen tialismus: Die Argumente (1) und (2) werden heute in der analytischen Philosophie meist in Gestalt des „anti-essentialistischen Arguments" vorgebracht: Die Frage nach dem Wesen der Kunst setze falschlich voraus, daß es ein solches Wesen, eine gemeinsame Natur aller Kunstwerke gebe. So sagt z.B. W.F.Ken-nick, die traditionelle Ästhetik nehme an, „that, despite their differen-ces, all works of art must possess some common nature, some distinctive set of characteristics which serves to separate Art from everything else, a set of necessary and sufficient conditions for their being works of art at all".4 Es wird ihr der essentialistische Fehlschluß:

unum nomen, unum no mina tum vorgeworfen, d.h. der Schluß von der Einheit der Bezeichnung auf die Einheitlichkeit der bezeichneten Instanzen.5 Gegen die Annahme, jedes Prädikat habe in allen Anwen-dungen denselben Sinn und bezeichne eine Eigenschaft, hat sich zuerst Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen §§ 66f.

ge-2 Erst in der Renaissance haben sich die bildenden Künste aus der Bindung an handwerkliche Zünfte gelöst und im allgemeinen Bewußtsein eine ähnliche Stellung erhalten wie die Dichtung. Im Libro de IP arte (um 1390) von Cennino Cennini wird der Malerei ein ebenso hoher Rang zugesprochen wie der Dichtung — mit dem Argument, daß beide in dem Sinne kreativ seien, daß sie fiktive Dinge und Ereignisse darstellen.

3 Auch B.Croce hat in dem Aufsatz „Was ist Kunst?" (in (1929)) betont, daß es wegen des „fortschreitenden Lebens des Geistes" keine definitive, für alle Zukunft verbindliche Antwort auf diese Frage geben könne, sondern nur eine Antwort, die auf das gegenwärtige und vergangene Kunstschaffen paßt. Er gibt dann freilich doch eine allgemeine Antwort, nach der Kunst gelungener Ausdruck in dem in 2.1 geschilderten Sinn ist.

4 Kennick (1958), S.319.

5 A.a.O., S.319ff. Vgl. a. Gallie (1948), S.13,16.

wandt.6 Er spricht von der Offenheit empirischer Prädikate, die keine scharfen Grenzen ihrer Anwendbarkeit oder ihres Definitionsbereichs haben, und von der Familienähnlichkeit ihrer Instanzen. Den letzten Gedanken illustriert er an den Prädikaten „Spiel" und „Zahl" und sagt: „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele" nennen.

Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Was ist allen diesen gemeinsam? — Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht „Spiele"" — sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. — Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen..." Und nachdem er solche Verwandtschaften und Gemeinsamkeiten innerhalb einzel-ner Gruppen von Spielen aufgewiesen und gezeigt hat, daß keine dieser partiellen Gemeinsamkeiten für alle Spiele gilt, kommt er zu dem Schluß: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen". „Und ebenso bilden z.B. die Zahlenarten eine Familie.

Warum nennen wir etwas „Zahl"? Nun, etwa, weil es eine — di-rekte — Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat: und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen. Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen". Analoges gilt nach dem Argument für das Wort „Kunstwerk": Es gibt partielle, mehr oder minder große Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerken, aufgrund derer wir mit dem einen Objekt auch das andere so nennen, aber keine durchgehend gleichen Eigenschaften also kein gemeinsames Wesen. Nur für geschlossene Begriffe lassen sich ferner notwendige und hinreichende Bedingungen und damit Definitionen angeben.7 Angesichts der Offenheit kann jede Definition nur präskriptiv sein:

eine Empfehlung, das Wort „Kunst" nur auf gewisse Phänomene anzuwenden.

Diese Argumente haben zweifellos Gewicht, aber für einen Nach-weis der Unmöglichkeit einer befriedigenden Explikation des Wortes

6 Vgl. dazu auch Kutschera (1975), 2.4.7.

7 Vgl. Kennick (1958), S.7.

„Kunstwerk" reichen sie nicht aus. Zum ersten Argument ist zu sagen: Es gibt mindestens ebenso viele Gattungen, Arten, Unterarten und Familien von untereinander höchst verschiedenartigen Lebewe-sen: Elefanten, Schmetterlinge, Pilze, Viren und Apfelbäume. Das besagt aber nicht, daß der Begriff des Lebewesens, eines lebendigen Organismus, der mit seiner Umwelt in Stoffwechselaustausch steht und fortpflanzungsfahig ist, inhaltlich leer wäre. Es wäre also zu zeigen, daß das bei Kunstwerken anders ist, aber das geschieht nicht und eine derart starke Behauptung läßt sich auch kaum beweisen.

Klar ist, daß ein Begriff mit großem Umfang, also kleinem Inhalt gesucht ist. Aber Begriffe mit kleinem Inhalt sind nicht immer wertlos, denn die Inhaltsarmut wird eben durch die Größe des Umfangs, die breite Anwendbarkeit aufgewogen.

Zum 2.Argument: Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß neue Arten von Wesen entdeckt werden, die gewisse Ähnlichkeiten mit jenen aufweisen, die wir als „Lebewesen" bezeichnen. Dann stellt sich natürlich die Frage (die sich schon früher bzgl. der Viren stellte), ob man auch sie als „Lebewesen" bezeichnen will oder nicht. Das ist dann eine Frage der Zweckmäßigkeit. Biologische Begriffe sollen ja dazu dienen, möglichst viele allgemeine Gesetzmäßigkeiten mög-lichst einfach zu formulieren. Neue Phänomene verlangen also neue sprachliche Festsetzungen. Niemand nimmt an, daß jene, die wir gegenwärtig verwenden, für die Ewigkeit gemacht sind. Daß ferner die Grenzen des Wortes „Kunst" in der normalen Sprache vage sind, ist gerade einer der Gründe, nach einer Explikation des Wortes für die Zwecke der Ästhetik zu suchen, die diese Grenzen genauer zieht.

Daß sie diese Grenzen mit absoluter Präzision fixiert, ist nicht erforderlich. Auch die biologische Explikation: „Ein Fisch ist ein Wirbeltier, das schuppenbedeckt und mit Flossen als Gliedmaßen versehen ist, durch Kiemen atmet, wechselwarmes Blut hat, sich durch Eier fortpflanzt und dessen Herz aus einem Vorhof und einer Herzkammer besteht" ist durchaus brauchbar und nützlich, obwohl die Ausdrücke im Definiens offen sind, so daß auch das Definiendum ein offener Begriff ist. Denn was heißt z.B. „schuppenbedeckt"?

Muß das Tier völlig mit Schuppen bedeckt sein oder genügt eine Bedeckung von mindestens 93 % seiner Oberfläche? Was sind Schup-pen? Hornartige Plättchen. Aber wie groß müssen sie sein? Sind auch abgeplattete Zylinder noch „Plättchen"? All solche Unklarheiten beeinträchtigen unsere Fähigkeit nicht, in den normalerweise

vor-kommenden Fällen Fische von Nichtfischen mit hinreichender Ge-nauigkeit zu unterscheiden.

Das dritte Argument zeigt nicht einmal, daß es keine Eigenschaf-ten gibt, die allen Gegenständen, die wir als „Spiele" bezeichnen, zukommen: Alle Spiele sind z.B. Aktivitäten, für die es Regeln gibt.

Aber selbst wenn das nachgewiesen worden wäre, ergäbe sich nur die Feststellung: Nicht für alle (einstelligen) Prädikate gibt es eine Eigenschaft, die allen ihren Instanzen gemeinsam ist. Zu zeigen wäre aber: Das gilt auch für das Prädikat „Kunstwerk". Die Relevanz des Hinweises von Wittgenstein besteht nur darin, daß wir uns bei der Anwendung eines Prädikats F auf einen Gegenstand häufig nach Ähnlichkeiten mit anderen Objekten richten, die man allgemein als F's bezeichnet, und daß es oft schwierig ist, eine Eigenschaft zu spezifizieren, die genau jenen Dingen zukommt, die man F's nennt.

Es hat auch wenig Sinn, allgemein über Möglichkeit oder Un-möglichkeit einer brauchbaren Explikation des Wortes „Kunstwerk"

zu spekulieren, man muß einen Versuch machen. Eine Explikation oder jedenfalls eine Erläuterung dieses Wortes ist wegen seiner Vagheit in der Umgangssprache unbedingt erforderlich, da ja die Allgemeine Ästhetik generelle Aussagen über Kunst machen will.

Ein gemeinsames „Wesen" aller Kunstwerke der Vergangenheit, Ge-genwart und Zukunft braucht man dazu nicht anzunehmen. Es geht nicht um das Wesen der Kunst, sondern um eine Verständigung über den Gebrauch des Wortes „Kunst" bzw. „Kunstwerk".

Dabei hat man nun eine gewisse Freiheit. Es ist keineswegs nötig, daß der festzulegende Wortgebrauch all das abdeckt, was mal irgendwer als „Kunstwerk" bezeichnet hat. Man wird sich zunächst einmal an den eindeutigen, allgemein anerkannten Fällen orientieren, d.h. an bedeutenden Kunstwerken. Jede Abgrenzung ist auch eine Ausgrenzung. Entscheidet man sich, gewisse Objekte nicht als

„Kunstwerke" zu bezeichnen, so ist die Bestimmung des Wortge-brauchs deshalb aber noch nicht in einem irgendwie anstößigen Sinne

„präskriptiv". Wenn ein Mathematiker einen neuen Begriff definiert, so ist er natürlich der Meinung, daß dieser Begriff fruchtbar ist, und insofern „empfiehlt" er ihn auch seinen Fachkollegen, ohne ihnen damit aber etwas vorzuschreiben. Im gleichen Sinn sind Vorschläge für den Gebrauch des Wortes „Kunstwerk" in der Ästhetik zu verstehen. Es würde auch nichts dagegen sprechen, mehrere Kunstbe-griffe nebeneinander zu verwenden (z.B. einen engeren und einen

weiteren), solange man sie nur terminologisch unterscheidet. Endlich sei noch einmal betont, daß es natürlich nur darum gehen kann, einen Begriff anzugeben, der auf existierende Kunstwerke paßt, nicht aber einen, der auch alle möglichen künftigen Werke erfaßt, von denen wir gar nicht wissen können, wie sie beschaffen sein werden.

Es gibt nun zwei Gruppen von Bestimmungen, was Kunstwerke sind — oder wie man auch sagt: von Kunsttheorien —, Formalistische Theorien und Ausdruckstheorien. In diesem Abschnitt befassen wir uns mit den ersteren. Es ist nun nicht leicht zu sagen, worin eine formalistische Kunstauffassung besteht. Der Formalismus ist zumeist ein Feindbild, man findet kaum Autoren, die sich selbst als „Formali-sten" bezeichnen, und bei denen, die von anderen so genannt werden, finden sich keine klaren Thesen und Argumente. Im angelsächsischen Bereich gelten Clive Bell und Roger Fry als Väter und Hauptvertreter des Formalismus. Beide waren weder Philosophen noch Kunsthistori-ker, sondern KunstkritiKunsthistori-ker, deren großes Anliegen es war, die nach-impressionistische Malerei dem breiteren Publikum näher zu bringen.

Von ihr haben sie im wesentlichen ihre formalistische Konzeption gewonnen, die sie dann ohne weitere Überlegungen auf das gesamte Gebiet der Kunst übertrugen. Wir wollen hier nur auf die Gedanken von Bell etwas näher eingehen.8

Sein Buch Art (1914), das Gründungsdokument des angelsächsi-schen Formalismus, ist von beklemmender Primitivität, sowohl im Sachlichen wie im Begrifflichen. Er bezieht sich wie gesagt vor allem auf bildende Kunst. Daß er von Musik nichts verstehe, räumt er ein, und Literatur ist für ihn keine reine Kunst, da es keine ungegenständ-liche Dichtung gibt, deren Wirkung allein auf ihrer Form beruht.9 Bell geht davon aus, daß Kunstwerke im Betrachter ein ganz spezi-fisches Gefühl erregen, das er als „ästhetisches Gefühl" bezeichnet.

Das, was dieses Gefühl hervorruft, ist die „signifikante Form" {signifi-cant form)y die ihm das auszeichnende Merkmal aller Kunstwerke ist.

8 Zu R.Fry's Gedanken vgl. (1920), insbesondere die Aufsätze „ A n essay in aesthetics" (1909) und „Retrospect" (1920). Auf den musiktheoretischen Formalismus von E.Hanslick gehen wir im 6.Kapitel ein, in der Literaturwis-senschaft spielt ein Formalismus im Sinne der nachfolgenden Bestimmung keine nennenswerte Rolle.

9 Bell (1914), S.153.

Er schreibt: „Every one speaks of ,art', making a mental classification by which he distinguishes the class 'works of art* from all other classes. What is the justification of this classification? ... There must be some one quality without which a work of art cannot exist;

possessing which, in the least degree, no work is altogether worthless.

What is this quality? What quality is shared by all objects that provoke our aesthetic emotions? What quality is common to Santa Sophia and the Windows at Chartres, Mexican sculpture, a Persian bowl, Chinese carpets, Giotto's frescoes at Padua, and the masterpie-ces of Poussin, Piero della Franmasterpie-cesca, and Cezanne? Only one answer seems possible — significant form. In each, lines and colours combi-ned in a particular way, certain forms and relations of forms, stir our aesthetic emotions. These relations and combinations of lines and colours, these aesthetically moving forms, I call 'Significant Form4; and 'Significant Form* is the one quality common to all works of visual art".10

Ästhetische Gefühle werden nun bei Bell allein dadurch be-stimmt, daß sie Gefühle sind, die man bei der Betrachtung signifikan-ter Formen hat. Umgekehrt wird aber die signifikante Form so definiert, daß sie beim Betrachter ästhetische Gefühle auslöst. Will man das nicht schlicht als Zirkeldefinition ansehen, so muß man den Gedanken etwa so rekonstruieren: Im Abschnitt 1.3 seines Buches spricht Bell von einer ästhetischen Einstellung, in der wir von den Zwecken und Funktionen der Dinge im praktischen Leben absehen, von ihren „Formeln", d.h. ihrer begrifflich bestimmten Natur, und allein auf ihre sinnliche Erscheinungsweise achten, auf ihre „Form", d.h. ihre Gestalt, Farben, Linien etc. Ästhetische Empfindungen sind dann solche, die sich bei einer ästhetischen Betrachtungsweise einstellen. Die Formen der Dinge — ob alle oder nur einige bleibt offen — bewegen und ergreifen uns nach Bell tief und in seltsamer Weise. Sie werden für uns in ästhetischer Betrachtung signifikant und nach der „metaphysischen Hypothese" liegt das daran, daß wir in ihnen die „letzte Wirklichkeit" erfassen, das „Ding an sich". Die formale Bedeutung irgendeines materiellen Dinges ist seine Bedeu-tung, wenn es als Zweck an sich betrachtet wird. Dann bewegt es uns tiefer als wenn wir es nur als Mittel zu praktischen Zwecken,

1 0 A.a.O., S.7f.

für menschliche Interessen ansehen: „Instead of recognising its acci-dental and conditional importance, we become aware of its essential reality, of the God in everything, of the universal in the particular, of the all-pervading rhythm".11 In diesem Erleben, das Bell immer wieder mit Wörtern wie „Ekstase" oder „Entrücktheit" umschreibt, muß zur ästhetischen Einstellung die „ästhetische Inspiration" hinzu-kommen, die in diese Tiefe dringt. Der Künstler gestaltet solche Inspirationen, und sein Werk hat insofern signifikante Form als es eine Form ist, in welcher der Betrachter die „letzte Wirklichkeit"

erfahren kann. Das ist der Inhalt der „metaphysischen" Deutung ästhetischen Erlebens, die Bell vorschlägt — beweisen läßt sich so etwas nicht, wie er betont —: Eine Form wird dadurch signifikant, daß sich in ihr die ästhetische Vision des Künstlers von der „letzten Wirklichkeit" ausdrückt. Das unterscheide, so meint er, die signifi-kante Form in Kunstwerken von der nicht-signifisignifi-kanten, wenn auch oft schönen Form natürlicher Gegenstände, Kunst stehe also höher als Natur, da sie das Wesen der Wirklichkeit offenbare. Das sei aber eine rein gefühlsmäßige, keine intellektuelle oder sprachlich beschreibbare Erhellung. Völlig offen bleibt bei Bell freilich, welche Formen das leisten und wie sie das tun. Im übrigen ist allein das eigene Gefühl Maßstab für das Vorliegen einer signifikanten Form und ihres Rangs. „All systems of aesthetics", sagt Bell, „must be based on personal experience — that is to say, they must be subjective".12 Er stellt dann aber doch seine eigene Ästhetik als die allein richtige

erfahren kann. Das ist der Inhalt der „metaphysischen" Deutung ästhetischen Erlebens, die Bell vorschlägt — beweisen läßt sich so etwas nicht, wie er betont —: Eine Form wird dadurch signifikant, daß sich in ihr die ästhetische Vision des Künstlers von der „letzten Wirklichkeit" ausdrückt. Das unterscheide, so meint er, die signifi-kante Form in Kunstwerken von der nicht-signifisignifi-kanten, wenn auch oft schönen Form natürlicher Gegenstände, Kunst stehe also höher als Natur, da sie das Wesen der Wirklichkeit offenbare. Das sei aber eine rein gefühlsmäßige, keine intellektuelle oder sprachlich beschreibbare Erhellung. Völlig offen bleibt bei Bell freilich, welche Formen das leisten und wie sie das tun. Im übrigen ist allein das eigene Gefühl Maßstab für das Vorliegen einer signifikanten Form und ihres Rangs. „All systems of aesthetics", sagt Bell, „must be based on personal experience — that is to say, they must be subjective".12 Er stellt dann aber doch seine eigene Ästhetik als die allein richtige

Im Dokument Franz von Kutschera (Seite 170-200)