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Fazit für Forschung, Praxis und Politik

Im Dokument Partnergewalt gegen Frauen (Seite 196-200)

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6 Zusammenfassung, Diskussion und Fazit

6.3 Fazit für Forschung, Praxis und Politik

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ƒ Soziale Ressourcen können vor Gewalt in der Paarbeziehung schützen.

ƒ Die Inanspruchnahme von Versorgung oder Unterstützung wird maßgeblich von der Schwere von Partnergewalt, dem Mitverantwortungsgefühl für die Partnergewalt und der Mitbetroffenheit der Kinder bestimmt.

Als Erkenntnisgewinn der vorliegenden Sekundäranalyse zum derzeitigen Forschungsstand kann der im Modell belegte statistische Nachweis gelten für:

ƒ die Jederfraus-Risiko-These,

ƒ die intergenerationale Übertragung bzw. die Viktimisierung in der Kindheit als Risiko für Partner-gewalt im Erwachsenenalter,

ƒ den Haupteinfluss von Partnergewalt auf die Inanspruchnahme,

ƒ den Kausalpfad von der multiplen Gewalterfahrung über die Partnergewalt zur Inanspruchnahme.

In das Inanspruchnahmeverhalten der betroffenen Frauen sowie den Gesamtkomplex der Intimen Partnergewalt ist mit diesem umfassenden Einflussfaktorenmodell ein tiefergehender Einblick gelun-gen, der zur Theoriebildung beitragen kann.

187 dem von der WHO (Krug, Dahlberg, et al. 2002: 12) in Anlehnung an Bronfenbrenner (1981;

1986) vorgestellten ökologischen Modell der Einflussfaktoren auf das Entstehen und somit auch auf die Prävention von Partnergewalt ist sinnvoll (Gesellschafts-, Gemeinde-, Beziehungs- und In-dividualebene), d.h., dass gesellschaftliche Veränderungen sowohl im Diskurs über Partnergewalt gegen Frauen (gesellschaftliche Ebene) als auch in der Angebotsstruktur (Gemeindeebene)89 Be-rücksichtigung finden sollten.

ƒ In künftigen Studien sind Partnergewalttypen, wie sie von Johnson (1995; 1999) vorgeschlagen wurde und sich auch in der Studie von Helfferich und Kavemann (2004) zeigen, zu differenzieren und kontrastieren.

ƒ Für derartig umfassende Analysen sind weitere quantitative Studien erforderlich, die bereits in der Fragebogenentwicklung die zukünftige Modellierung und das Datenniveau für komplexe Analyse-verfahren berücksichtigen sollten, damit z.B. Strukturgleichungsmodelle durchgeführt werden können.

ƒ Gesundheitspsychologisch komplexe Beziehungen bei interpersoneller Gewalt – wie z.B. zwischen Misshandlung, Stress und Gesundheit – sind ein wichtiges zu bearbeitendes Forschungsthema, um das Kausalsystem der einzelnen Faktoren zu erhellen.

Bislang nimmt die Forschung zu interpersoneller Gewalt in den deutschen Gesundheitswissenschaften nur einen marginalen Raum ein und beschränkt sich vornehmlich auf die Beschreibung der Phänome-ne Prävalenz, Inzidenz sowie gesundheitliche und soziale Folgen. Derartig weitergehende Forschungs-projekte können das Verständnis sowohl für das Wirkungsgeschehen bei Gewalt in nahen Beziehun-gen als auch für die spezifische Situation der betroffenen Frauen vergrößern sowie für Entscheidungs-trägerinnen und -träger in Politik und Praxis Empfehlungen für geeignete(re) Präventionsmaßnahmen generieren.

6.3.2 Fazit für die Versorgungs- und Unterstützungspraxis

Aus den Kernaussagen der Analyseergebnisse lassen sich Verbesserungsvorschläge für die institutio-nelle Unterstützung ableiten, die vornehmlich auf der Bedeutung der Faktoren Partnergewaltschwere, Mitverantwortungsgefühl, Angebotskenntnis sowie intergenerationale Übertragung für das Inanspruch-nahmeverhalten basieren.

Beratung- und Unterstützungsbereich

Für den Bereich der psychosozialen Beratung und Unterstützung für von Partnergewalt betroffene Frauen sind folgende Erkenntnisse von Bedeutung:

ƒ Die Schwere von Partnergewalt ist der wesentliche, begünstigende Faktor der Hilfesuche, so dass sich die Frage stellt, wie Frauen in einem früheren Stadium von Gewalt in der Beziehung Unter-stützung im Sinne einer Primärprävention (z.B. durch Paar- oder Familienberatung) erfahren können.

89 Für Ende 2012 ist bspw. die bundesweite Eröffnung des Hilfetelefons geplant. Weitere Informationen sind zu finden beim BMFSFJ: Themen-Lotse „Frauen vor Gewalt schützen: Erstes bundesweites Hilfetelefon“ vom 20.07.2011, einsehbar unter www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/themen-lotse,did=173904.html (Zugriff am 15.08.2011).

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ƒ Viele Frauen – vor allem auch ältere Frauen und Migrantinnen – waren nicht über das Unterstüt-zungsangebot informiert, d.h., es muss weiter umfassend über die Angebotsstruktur aufgeklärt werden (mit einer altersgerechten und kultursensiblen Methode).

ƒ Viele Frauen fühlten sich für die erlittene Gewalt mitverantwortlich und nahmen dann seltener Versorgungs- und Unterstützungsangebote in Anspruch, d.h., den betroffenen Frauen muss das Gefühl der Mitverantwortung genommen werden.

ƒ Sekundäre oder primäre Viktimisierung in der Kindheit beeinträchtigt die Gesundheit langfristig und wirkt als Risiko für Intime Partnergewalt im Erwachsenenleben, d.h., die Dringlichkeit von Maßnahmen der Gewalt-Prävention für Kinder und Jugendliche wird deutlich. Die Stärkung der individuellen Ressourcen der Kinder, die Betonung der Bedeutung sozialer Netze und respektvol-ler Beziehungen zwischen den Geschlechtern (z.B. Anti-Teendating-Violence-Projekten)90 müssen in die Kinderbetreuung und -beratung integriert werden.

Die Frauenbewegung und Frauen(gesundheits)forschung haben in den letzten Jahrzehnten viel dazu beigetragen, um das Problem Intime Partnergewalt von dem Nimbus eines privaten und tabuisierten Themas zu befreien. Angesichts der o.g. Ergebnisse bedarf es jedoch weiterer Anstrengungen für eine Entstigmatisierung sowie eine Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses. Es braucht weitere Auf-klärung darüber, dass

3. Partnergewalt gegen Frauen kein individuelles oder ein Randgruppen-Problem ist,

4. Gewalt nicht dem Unvermögen oder der Unzulänglichkeit der Frauen entspringt, sondern allein in der Verantwortung des gewalttätigen Partners liegt und

5. eine frühe Hilfe die Situation verbessern kann. Um Frauen zu einer früheren Hilfesuche zu moti-vieren, kann die Betonung der langfristigen Folgen für die mitbetroffenen Kinder hilfreich sein.

Gesundheitsbereich

Der Gesundheitssektor wird nach der Sekundärdatenanalyse von den betroffenen Frauen am häufig-sten in Anspruch genommen, d.h., er ist als Ort für eine Ansprache der Opfer, für eine Intervention und eine Weiterleitung an das psychosoziale Unterstützungsnetz besonders geeignet. Unter Berück-sichtigung der o.g. wesentlichen Faktoren lassen sich folgende Empfehlungen für diesen Versorgungs-bereich ableiten:

ƒ Weil sich Partnergewaltschwere als der maßgebliche Faktor für die Inanspruchnahme von Hilfe herausgestellt hat, kann als Essenz an die Beschäftigten des Gesundheitssektors vermittelt werden, dass sich Frauen, wenn sie sich an Gesundheitseinrichtungen wenden, meist in schweren gewaltbe-stimmten Beziehungen befinden. Diese Frauen müssen ernst genommen werden, denn auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick wegen nicht gravierenden Gesundheitsproblemen vorstellig

90 Der Begriff kommt aus den USA und meint Gewalt, die in den ersten Intim-Beziehungen der Jugendlichen auftritt. Diesem Problem widmet sich derzeit das an der Hochschule Fulda initiierte Studienprojekt „Safer Teen Dating“, siehe: www.hs-fulda.de/index.php?id=9508 (Zugriff am 16.08.2011). Die WHO sieht in derartigen Projekten derzeit die größten Primärpräventionspotentiale für Partnergewalt gegen Frauen (WHO & LSHTM 2010).

189 den, kann dies ein Ausdruck der Suche von Hilfe sein. Eine frühzeitige Intervention kann Gewalt vermeiden helfen (Primärprävention).

ƒ Der hohe Anteil an sich mitverantwortlich fühlenden Frauen legt eine Aufklärung über die Ge-waltverantwortlichkeit nahe, die auch innerhalb der Gesundheitsversorgung erfolgen könnte. Be-reits in einer sensiblen ersten Ansprache91 könnten geschulte Gesundheitskräfte diesen Aspekt ver-mitteln und so wesentlich zu einer psychischen Entlastung der Betroffenen beitragen (Sekundär-prävention).

ƒ Partnergewalt beeinträchtigt die Gesundheit der betroffenen Frauen. Bei der Minimierung der (langfristigen) Auswirkungen auf die Gesundheit kann ein frühzeitiges Erkennen von Gewalt als Ursache für Verletzungen oder Beschwerden dienen (Tertiärprävention). Weil nur ein geringer Teil der von Gewalt betroffenen Frauen als solche erkannt werden, empfiehlt sich als adäquates und probates Mittel zum Erkennen von Partnergewalt eine Routinebefragung oder ein Screening in der Gesundheitsversorgung (vgl. Brzank & Blättner 2010). Sowohl die Routinebefragung als auch das Screening könnten neben der Identifizierung von Opfern auch der Sensibilisierung für Gewalt als weitreichendes Problem in allen Bevölkerungsteilen dienen. Ein frühzeitiges Erkennen und An-sprechen kann ebenfalls dazu führen, dass betroffene Frauen bereits vor einer Gewalteskalation psychosoziale Unterstützung in einem früheren Stadium finden (s.o.).

Für eine Intervention gelten die formulierten Prinzipien92 (siehe Kapitel 2.5), wobei die Gefährdungs-situation der hilfesuchenden Frauen immer vorab zu klären ist (zum Gefährdungsassessment siehe Brzank 2005: 57f). Gesundheitsfachkräfte sollten über das (regionale) Hilfesystem informiert sein und betroffene Frauen weitervermitteln können. Dafür ist ein etabliertes Netzwerk zwischen den Anbietern von Unterstützung und Versorgung hilfreich.

Auch wenn sich die Rezeption des Themas durch den Gesundheitssektor mittlerweile in Leitlinien oder Empfehlungen sowie Fortbildungen der Landesärztekammern zeigt, bedarf es angesichts der Ar-beitsverdichtung in der ambulanten und klinischen Gesundheitsversorgung einer entsprechenden Mo-tivierung der Beschäftigten. Die intrinsische Motivation der Gesundheitsfachkräfte könnte dadurch ge-steigert werden, dass 1.) der Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundär-Viktimisierung in der Kindheit und sowohl der Partnergewalt im Erwachsenenleben als auch der langfristigen Beeinträchti-gung der mentalen und physischen Gesundheit sowie 2.) die Präventionspotentiale im Sinne einer Ge-sundheitsförderung verdeutlicht werden. An die häufig altruistischen Beweggründe, die zur Berufswahl der Gesundheitskräfte geführt haben, kann appelliert werden, damit die Bereitschaft für eine (frühe) Intervention vorhanden ist. Für eine extrinsische Motivation bedarf es eines (gesundheits)politischen Engagements.

91 Beispiele für eine sensible Gesprächseröffnung sind dem S.I.G.N.A.L.-Handbuch (Hellbernd, Brzank, et al. 2004: Kapitel 4) und Curriculum (Hellbernd 2006: Kapitel 3.3.4) zu entnehmen.

92 Die Prinzipien einer Intervention bei Intimer Partnergewalt sind ausführlich im S.I.G.N.A.L.-Handbuch beschrieben (Hellbernd, Brzank, et al. 2004).

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