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Bedeutung des Gesundheitssektors für Versorgung und Prävention

Im Dokument Partnergewalt gegen Frauen (Seite 46-49)

2 Partnergewalt gegen Frauen: Epidemiologie und Ge- Ge-sundheitsversorgung

2.5 Bedeutung des Gesundheitssektors für Versorgung und Prävention

Aufgrund der mit häuslicher Gewalt häufig einhergehenden sozialen Isolation der betroffenen Frauen sind Mitarbeiter/innen der Gesundheitsversorgung oft die einzigen Personen, die Kontakt zu den Opfern haben und mit den direkten Verletzungen, den gesundheitlichen Folgen oder den Aus-wirkungen des gesundheitsgefährdenden Verhaltens konfrontiert sind. Gesundheitseinrichtungen sind zum einen Orte, die von allen Frauen aufgesucht werden. Zum anderen wenden sich gewaltbetroffene Frauen – vor anderen psychosozialen oder polizeilichen Einrichtungen – primär an den Gesundheits-sektor um Hilfe (Sharps, Koziol-McLain, et al. 2001; Müller & Schröttle 2004: 160, 164; Montero, Ruiz-Perez, et al. 2010). Den Mitarbeiter/innen von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung kommt daher eine besondere Rolle bei Intervention und Prävention zu (Hayden, Barton, et al. 1997; Barnett 2001; Krug, Dahlberg, et al. 2002; Hellbernd, Brzank, et al. 2004; Kendall, Pelucio, et al. 2009), die bereits von der WHO in ihrer Resolution zu Gewalt als Public Health-Thema betont (WHO 1996) als auch im 2. Aktionsplan der Bundesregierung (BMFSFJ 2007) anerkannt wurde.

Gesundheitseinrichtungen und -fachkräfte können bei der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention im Kontext von Partnergewalt folgenden Beitrag leisten (Krug, Dahlberg, et al. 2002: 15; Brzank 2005:

7; WHO & LSHTM 2010: 6):

ƒ Primärprävention versucht Gewalt zu verhindern und stellt daher eine der umfassendsten Heraus-forderungen dar. Konkret können betroffene Frauen bei der Suche nach weitergehender Beratung durch spezifische Anti-Gewalt-Projekte aktiv unterstützt und somit vor weiterer Gewalt geschützt werden. Eine Dokumentation ihrer Verletzungen dient ggf. einer Strafverfolgung.

ƒ Sekundärprävention fokussiert auf die zeitnahe Antwort auf Gewalt wie Notfallangebote, gesund-heitliche Versorgung oder Behandlung von sexuellübertragbaren Infektionen nach einer Verge-waltigung. Betroffene Frauen können unter Berücksichtigung von Gewalt als Ursache ihrer Verletzungen oder Beschwerden adäquater behandelt werden.

ƒ Tertiärprävention hat die Minderung von Traumata und chronischen funktionellen Beeinträchti-gungen, die Langzeitversorgung sowie Rehabilitation und Reintegration zur Aufgabe. Mitarbeiter/-innen von Gesundheitseinrichtungen können einen entscheidenden Beitrag leisten, um Betroffene bei der Traumaverarbeitung, Rehabilitation und Wiedereingliederung zu unterstützen.

Voraussetzung für eine adäquate Versorgung, Intervention und Prävention ist die Identifikation der von Gewalt Betroffenen. Barrieren sowohl seitens der Betroffenen als auch der Gesundheitskräfte können eine offene Kommunikation über Gewalt und ihre gesundheitlichen wie sozialen Folgen behindern.

37 Studien zeigen, dass Ärztinnen und Ärzte im Fall von häuslicher Gewalt oder Partnergewalt für Opfer Ansprechpersonen wären. Scham, Schuldgefühle und Angst vor einer Vorverurteilung oder einer Eskalation der Partnergewalt sowie die psychischen Auswirkungen der Gewalterfahrung selbst hindern betroffene Frauen in der Regel, erlittene Gewalt von sich aus offen zu legen (Hellbernd, Brzank, et al.

2004: 37). In der Mehrzahl wünschen sich die Frauen ein aktives, einfühlsames Ansprechen (Brzank, Hellbernd, et al. 2004; Sarkar 2008).

Komplementär zur Sicht der Betroffenen verstehen sich Ärzteschaft sowie Pflegekräfte prinzipiell ebenfalls als Ansprechpersonen bei Partnergewalt (Hellbernd, Brzank, et al. 2004: Kapitel 11; Blättner, Krüger, et al. 2009). Als Barriere wirken bei den Gesundheitskräften ein Mangel an Wissen über und Sensibilität für die Zusammenhänge zwischen Gewalt und Gesundheit, die Erwartungen und Wünsche der Frauen, Möglichkeiten der Ansprache bei einer vermuteten Betroffenheit sowie Information über weitergehende spezifische Unterstützung und vor allem strukturelle Faktoren (Hellbernd, Brzank, et al.

2004: 34f). In der Befragung Dresdener und Chemnitzer Ärztinnen und Ärzte wurde Zeitmangel als wesentliches Hindernis genannt (Epple, Croy, et al. 2010). Anzeichen für eine sich gegenseitig – von der Ärzteschaft und den Patientinnen – bestärkende Vermeidung der Kommunikation von Gewalt-widerfahrnis erkennt Beate Blättner bei der Analyse qualitativer Interviews (Blättner, Krüger, et al.

2009: 55; Blättner 2010a).

Um die besondere Schlüsselrolle der Gesundheitsfachkräfte zu nutzen und die Kommunikations-barrieren zu verringern, wurden im vergangenen Jahrzehnt Interventionsprojekte in der gesundheit-lichen Regelversorgung21 initiiert und etabliert. Für Deutschland sind es das „S.I.G.N.A.L.-Projekt“ für den regulären klinischen und das Projekt „Medizinische Intervention gegen Gewalt an Frauen (MIGG)“ für den niedergelassenen Versorgungsbereich. Gemein ist diesen Projekten die Idee, die Tabuisierung der Gewaltwiderfahrnis und die Isolation zu durchbrechen, Betroffenen eine bessere Gesundheitsversorgung sowie empathische Unterstützung anzubieten. Mittels Sensibilisierung und Fortbildung sollen die Barrieren bei den Gesundheitsfachkräften abgebaut werden. Die Interventions-projekte basieren auf den Grundprinzipien: Erkennen, Ansprechen, Dokumentieren, Gefährdungs-klärung und Informierung oder Weitervermittlung (Hellbernd, Brzank, et al. 2004: 32f). Bei diesen Projekten handelt es sich jedoch um Einzelprojekte mit Modellcharakter.

Breiter verankert sind mittlerweile die Fortbildungsangebote für die Ärzteschaft und Gesundheits-kräfte, die in der Regel von den Fachgesellschaften und den Landesärztekammern angeboten werden.

In Fokusgruppen berichteten Gesundheitskräfte, dass sie sich im Ansprechen von Partnergewalt sicherer fühlen, wenn es eine Priorisierung der Gesundheitseinrichtung sowie Ressourcen für die Partnergewalt-Intervention gibt. Weitere benannte Aspekte waren: jederzeit erreichbare Materialien, entsprechendes Zeitbudget, spezifische Trainings und ein Team- oder Systemansatz (Hellbernd, Brzank, et al. 2004: 34f; Chang, Buranosky, et al. 2009; Epple, Croy, et al. 2010; O'Campo, Kirst, et al.

2011).

Weil dem Identifizieren von Gewaltopfern für Versorgung, Intervention und Prävention eine sehr hohe Bedeutung zukommt und die o.g. Barrieren weiter bestehen, wird in der internationalen Literatur nicht die Einzelfallidentifizierung, sondern die Routinebefragung bzw. das Screening empfohlen

21 Kompetenzzentren wie die Schutz- oder Traumaambulanzen stellen ein besonderes Angebot bereit.

38 (Plichta 2004; Gillum, Sun, et al. 2009; Spangaro, Zwi, et al. 2010b; O'Campo, Kirst, et al. 2011). Zum Screening nach Partnergewalt gibt es eine beharrliche Diskussion (Feder, Ramsay, et al. 2009; Brzank

& Blättner 2010). Jüngst empfahl das Institute of Medicine im Auftrag des U.S. Department of Health and Human Services zur Verbesserung des klinischen Präventionsangebotes für Patientinnen Screening und Beratung aller Frauen zur interpersonellen und häuslichen Gewalt in einer kulturell sensitiven und unterstützenden Art (IOM 2011). Hinsichtlich der Akzeptanz eines Screenings zeigt sich für Deutschland mit den Ergebnissen der S.I.G.N.A.L.-Patientinnenstudie, dass auch in Deutsch-land die Mehrzahl der befragten Frauen eine Routinebefragung nach häuslicher Gewalt im Rahmen der Anamnese befürworten (Brzank, Hellbernd, et al. 2004). Dieses Ergebnis wird durch andere Studien bestätigt (Bacchus, Mezey, et al. 2002; Sarkar 2008).

In den bislang zehn Handlungsempfehlungen einzelner Landesärztekammern22 wird die Verant-wortung der Gesundheitsversorgung im Kontext der Partnergewalt betont und grundsätzlich ein aktives, einfühlsames Ansprechen angeregt. Für ein generelles Screening spricht sich die Ärztekammer Hamburg aus. Als erste Fachgesellschaft hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts-hilfe (DGGG) eine Leitlinie zum Vorgehen bei Verdacht auf sexuelle/körperliche Gewaltanwendung verfasst (Freichel, Mann, et al. 2010).

Studien zu den Effekten von Routinebefragungen von Frauen zu Gewalterfahrung zeigen, dass sie zu einer höheren Aufdeckungsrate von Partnergewalt führen (Wiist & McFarlane 1999; Koziol-McLain, Coates, et al. 2001). Das Erkennen von Gewaltbetroffenheit schafft erst die Voraussetzung für eine Intervention, die zu einer besseren physischen und psychischen Gesundheit der Betroffenen führen kann. Nachteile oder Schädigungen wurden von Frauen, die im Rahmen der Gesundheitsversorgung nach Partnergewalt gescreent worden waren, nicht berichtet (MacMillan, Wathen, et al. 2009).

Studien belegen einen positiven Effekt von Interventionen im Gesundheitsbereich, die auf den o.g.

Prinzipien beruhen: Assessment von oder Screening nach Partnergewalt mit oder ohne einem anschlie-ßenden Angebot an psychosozialer Unterstützung oder Case Management können dazu beitragen, Gewalthandlungen zu minimieren. Denn betroffene Frauen zeigten als Folge dieser Maßnahmen ein stärkeres eigenes Sicherheitsverhalten, so dass im Follow-Up-Interview weniger Gewalt berichtet wurde (McFarlane, Parker, et al. 1998; McFarlane, Soeken, et al. 2000; McFarlane 2004; McFarlane, Malecha, et al. 2004; McFarlane, Groff, et al. 2006; MacMillan, Wathen, et al. 2009; Spangaro, Zwi, et al. 2010b; Spangaro, Zwi, et al. 2010a).

Bisher durchgeführte Evaluationen von Modell-Interventionsprojekten zeigen die große Bedeutung von institutioneller Unterstützung in Form von immateriellen wie materiellen und personellen Ressourcen für eine nachhaltige Implementierung und alltägliche Interventionspraxis (Warshaw &

Ganley 1998; Hellbernd, Brzank, et al. 2004: 34f; Blättner, Krüger, et al. 2009; Blättner 2010a;

D'Avolio 2011; O'Campo, Kirst, et al. 2011). Auch von Seiten der Politik und der Kostenträger braucht es deutliche Signale und einen deutlichen Versorgungsauftrag (Hellbernd, Brzank, et al. 2004:

Kapitel 6; Blättner 2010b), damit Interventionen gegen Gewalt an Frauen im Gesundheitsbereich nicht von dem individuellen Engagement Einzelner abhängt.

22 Die Handlungsempfehlungen sind auf dem Frauengesundheitsportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aufgelistet; siehe www.frauengesundheitsportal.de/bot_dokument_idx-6729.html, (Zugriff am 14.07.2011)

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