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Explizite Formulierungen des Wunsches nach Verstehen

Im Dokument Von der Wirkung zur Wertung (Seite 140-143)

10.2 Kohärenz

10.2.1 Explizite Formulierungen des Wunsches nach Verstehen

Dass ein Grundverständnis der Handlung und des Themas der beim Bachmann-Wettbewerb vorgelesenen Texte von enormer Bedeutung ist, zeigt bereits die Menge und Länge an Äuße-rungen, die allein darauf gerichtet sind, den Text inhaltlich als Diskussionsgegenstand zu etablieren (vgl. Kapitel 5). In der Diskussion zu Ruth Erat (1999) bietet Dieter Bach-mann (0:43) seinen Jurykollegen, die ihre Ratlosigkeit gegenüber dem Text signalisiert haben, zunächst eine detaillierte Nacherzählung des Plots an. Er wird im Verlauf seiner Nacherzählung allerdings von Ulrike Längle unterbrochen:

Herr Bachmann, Sie meinen es sicher gut, aber das finde ich ja absurd, wenn dann ein

Juror den Roman der Autorin, die gelesen hat, noch mal erzählt und erklärt, wer wer ist. Also ich finde, es muss schon der Text für sich selber sprechen. (1999 Erat, 4:15 Längle)

Bachmanns Impuls, den Text durch eine Nacherzählung zugänglicher zu machen, illustriert das Bedürfnis nach Kohärenz ebenso wie Längles Hinweis, der Text müsse für sich selber sprechen. Sehr deutlich wird das in Längles Hinweis, dass es nicht darum geht, sich einen Text im Nachhinein durch Analysen zugänglich zu machen, sondern dass es durchaus von hoher Bedeutung ist, dass ein Zugang unmittelbar, das heißt schon während des Lesens, möglich ist.

Der eindeutigste Hinweis darauf, dass Verständlichkeit, insbesondere in ihrer erweiterten Bedeutung (Verständlichkeit auf der Formebene), ein starker Wert ist, ist jedoch die expli-zite Formulierung, dass der Text (nicht) verständlich sei. In vielen Beiträgen wird dieser Wunsch, den Text zu verstehen, ganz explizit formuliert; so etwa auch von Ijoma Mangold:

[Ich] mache hier bei dem Wettbewerb immer die Erfahrung, [. . .] dass mir erst im Hören so der Sound, der Stil einleuchtet. Als ich es gelesen habe, fand ich den Text/

hat der Text mir sprachlich nicht gefallen. Jetzt in diesem Vortrag habe ich, glaube ich, so seine innere Rhythmik und auch sein Strömen verstanden. Und das hat mir sehr gut gefallen. Ich verstehe auch die Komik/ Also ich sehe auch die Komik. Ich verstehe aber überhaupt nicht, welche Funktion diese Komik einnimmt. Und ich habe so ein bisschen den Verdacht, dass bei mir die Grenze, ab der ich etwas ästhetisch goutiere, dass da bei mir ein höherer Grad des Verstehens Voraussetzung sein muss.

(2007 Becker, 6:42 Mangold; Hervorhebungen KR)

Hier springt direkt ins Auge, dass Gefallensurteile, die auf die Lektürewirkung zurückgehen und die sogar direkt als Gefallensurteile gekennzeichnet sind, mit der Frage des Verste-hens parallelgeschaltet werden. Beim stillen Lesen hat der Text Mangold „nicht gefallen“, dagegen hat er ihm „jetzt in diesem Vortrag [. . . ] sehr gut gefallen“. Mangolds Urteil über den Text ändert sich in dem Maß, wie er ihm „einleuchtet“. Indem er darauf hinweist, erst im Hören habe ihm der Sound, der Stil eingeleuchtet,42 gibt er auch zu erkennen, dass die unmittelbare sinnliche Wirkung des Vortrags einen Einfluss darauf hat, wie er den Text beurteilt. Mangold ordnet das „Verstehen“ sogar explizit als ästhetisches Phänomen ein („ästhetisch goutierbar“). Mit der Vorstellung, dass im Text eingesetzte Mittel eine Funktion haben („welche Funktion diese Komik einnimmt“), verwendet Mangold außer-dem eine weitere typische Formulierung für Verstehenswertungen. Das Zitat illustriert auf anschauliche Weise die komplexe Überlagerung von Wirkungswerten und Bezugnahme auf die Nachvollziehbarkeit des Textes.

42 In diesem Zitat lässt sich auch ablesen, dass, wie in Kapitel 9.1 angesprochen, „Stil“ häufig in Formu-lierungen verpackt wird, die auf die klangliche Qualität hinweisen (Sound, Klang, Ton).

Das Schlagwort „Funktion“, das Mangold verwendet, benutzt u. a. auch Daniela Strigl in einem ihrer Beiträge von 2003 mit explizitem Hinweis auf das Verstehenwollen: „Aber ich habe auch kleinere Einwände. Also formal verstehe ich zum Beispiel die Funktion dieser Kohlmeyer-Geschichte nicht ganz“ (2003 Schreuf, 0:05 Strigl; Hervorhebung KR).

Ganz explizit wird hier auch ausformuliert, dass „Funktionen“ Teil der Form sind. Auch Ebel spricht von Logik und Konsequenz: „Also, das gefällt mir gut. Das ist sehr logisch, von großer Konsequenz. Dann umgesetzt in diese manische Sprache, die dem manischen Herumwandern in Wien entspricht“ (2007 Stangl, 6:48 Ebel). Sehr deutlich tritt hier wie-derum die Kopplung von positiver Gefallens-Bewertung („gefällt mir gut“), Nachvollzieh-barkeit („das ist sehr logisch“) und der Wahrnehmung einer Stimmigkeit von Inhalt und Form/Sprache („manische Sprache“, „manisches Herumwandern“) hervor.

Für Daniela Strigl sollte ein Text Plausibilität haben: „Man kann es sich vorstellen, dass nichts in dem Zimmer passiert. Ich halte es nur nicht für plausibel, denn es wird ja auch vorher aufgebaut im Text“ (2004 Helminger, 15:52 Strigl). Auch bei ihr zeigt sich, dass vom Text erwartet wird, dass er den Leser führt, um ein Verständnis zu ermöglichen.

Eine Bedeutungskonstitution, die weitreichende Ergänzungen des Lesers voraussetzt, wird von Strigl zwar als Option erwähnt, jedoch als unbefriedigend zurückgewiesen. In eine ähnliche Richtung geht auch Birgit Vanderbeke, wenn sie darauf hinweist, dass sie „nicht sicher [ist], ob es gut gemacht ist, weil es ist in gewisser Weise ungeheuer willkürlich gemacht“ (2001 Laher, 14:01 Vanderbeke). Willkürlichkeit und Gelungensein schließen sich in dieser Wertung gegenseitig aus. Vanderbeke (ebd.) fasst zusammen, dass sie den Assoziationen dann schon nachgehen können müsse. Letztlich ist der Text für sie „eben nicht gut gemacht, wenn [sie] nicht weiß, wo es herkommt“ (ebd.). Dagegen meint Fliedl (15:00), Lahers (2001) Text „hat eben überhaupt keine Beliebigkeit“, indem er „diese Vorgänge [. . . ] durch die Komposition dieser Sprache [bändigt]“. Sie sieht also die Sprache des Textes in einem klaren, verstehbaren und interpretierbaren Verhältnis zum Inhalt.

Heinrich Detering räumt Autor und Text einen großen Spielraum in der Textgestaltung ein, weist aber ebenfalls ausdrücklich darauf hin, dass der Text für den Leser plausibel sein muss:

Da müsste mit der Sprache was passieren in dem Text, dass die Sprache sich zersetzt, dass etwas passiert. Um einen großen Namen zu nennen hier, der, weiß Gott, nichts mit dem Islam zu tun hat: Gottfried Benn am Ende der „Gehirne“-Novelle, wo tatsächlich ein solcher Ich-Zerfall nicht nur beschrieben, in wohlgesetzten Worten beschrieben, wird, sondern im Gegenteil, wo die Sprache anfängt sich aufzulösen und mir zur sinn-lichen Leseerfahrung wird, was da umschrieben werden soll. Das soll dann von mir aus gerne die Imagination einer europäischen Intellektuellen sein, die das eigentlich

nicht kann, aber wenn sie es mir plausibel macht, dann ist das eben eine Phantasie, mit der ich weiterarbeiten kann. Aber die sehe ich hier nicht. (2004 Dieckmann, 3:58 Detering)

Auch in diesem Beitrag von Detering verbinden sich konventionelles Wertungswissen und Wirkungsansprüche an den Text in komplexer Weise. Detering geht zunächst von einem ty-pischen Stimmigkeitsargument aus: die Sprache sollte dem Inhalt angemessen sein. Dieser konventionalisierte formal-ästhetische Wert wird unmittelbar mit einer Forderung an die Wirkung des Textes gekoppelt: Detering fordert, dass ihm über die Sprache eine „sinnli-che Leseerfahrung“ zuteil werden sollte. Die Plausibilität, die im letzten Schritt gefordert wird, knüpft offenbar direkt an die Sinnlichkeit der Erfahrung an. Verknappt man die Aussage Deterings, könnte man die Argumentation so rekonstruieren: Der Text überzeugt nicht, weil die Sprache in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zum Inhalt steht. Durch die mangelnde Aufbereitung der Sprache wird der Inhalt nicht sinnlich erfahrbar. Mangelnde sinnliche Erfahrung beim Lesen führt dazu, dass der Leser den Text nicht plausibel findet.

Oder noch knapper: Plausibel ist ein Text dann, wenn sein Thema sinnlich erfahrbar wird.

Die zitierten Passagen und Formulierungen unterstreichen, dass die Juroren den Autor in der Pflicht sehen, mit sprachlichen und formalen Gestaltungsmitteln ein Verständnis des Textes zu ermöglichen. Dieses Verständnis soll plausibel sein, soll einleuchten, Ge-staltungselemente sollen funktional sein. Gleichzeitig signalisieren die Aussagen, dass die Nachvollziehbarkeit der Form keine rein rationale Prüfgröße ist, sondern dass die Juroren das Verstehen während der Lektüre als Lust/Unlust erfahren. In sehr vielen der bespro-chenen Zitate wird eine deutliche Parallele zwischen 1. positiver/negativer Bewertung auf der Gefallensebene, 2. Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit sowie 3. der Abstimmung von Form/Sprache und Inhalt deutlich.

Im Dokument Von der Wirkung zur Wertung (Seite 140-143)