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10.3 Sprache und Form

10.3.3 Dichte

Der Maßstab Dichte

WiePräzisionspielt dieser MaßstabDichtenicht allzu oft eine Rolle. Diskussionsbeiträge, die den Maßstab Dichte nutzen, legen zwei unterschiedliche Auffassungen dessen, was Dichte bedeuten kann, nahe. Zum einen geht es häufig um das Verhältnis von Textlänge und „Informationswert“. Auch bzw. gerade in literarischen Texten wird erwartet, dass viele Informationen mit möglichst geringem Aufwand vermittelt werden. Es wird eine Ökonomie der Form und Sprache erwartet. Informationen, deren Wert für die Erschließung der Bedeutung oder einer Bedeutungsebene nicht ersichtlich ist, gelten als überflüssig.

Spinnen hält beispielsweise Texte für besonders gelungen, wenn man nichts mehr streichen kann, ohne den Sinn zu verändern:

Ich persönlich, Offenlegung der Kriterien, mag Texte, die nach dem Prinzip Saint Exupérys gebaut sind, und das heißt, etwas ist perfekt, nicht, wenn man noch et-was hinzu/ wenn man nichts mehr hinzugeben kann, sondern wenn man nichts mehr

48 Bortolussi et al. (2008) nennen in ihrer empirischen Untersuchung „Clarity“ als einen stärker durch den Text gesteuerten Wert, der auf der Einschätzung basiert, ob der Text klar oder opaque ist.

wegnehmen kann. Der Text scheint mir auch eine Ästhetik zu vertreten des Nichts-mehr-wegnehmen-könnens. (2001 Krupp, 0:00 Spinnen)

In diesem Sinne bedeutet „Dichte“ Ökonomie und Reduktion auf das Notwendige.

Dichtekann zum anderen aber auch meinen, dass viele Informationenkunstfertigin sprach-lichen Mitteln verpackt werden.Dichte in diesem Sinne zielt auf Intensivierung statt Ver-knappung. Durch den kunstfertigen Einsatz sprachlicher Mittel können auf kleinem Raum viele Informationen, beispielsweise verschiedene Bedeutungsebenen, aufgerufen werden.

Entscheidend ist bei beiden Varianten, dass sich unter Einsatz möglichst weniger Worte, ein möglichst großes Maß oder Spektrum an Bedeutung vermitteln lässt, sodass es in den Worten von Heydebrand/Winko (1996, 119) zu „eine[r] Intensivierung des Dargestellten“

kommt.

Dichte als Ökonomie

Dichte als Ökonomiewird oft sehr „materiell“ mit Verweis auf die Seitenmenge eines Textes beurteilt. Einer jener Texte, in denen ein Juror – Thomas Hettche – ein Missverhältnis von Textlänge und Informationsmenge sieht, ist der von Uetz (1999):

Die Voraussehbarkeit, dass eben das Durchstreichen einen Strich ergibt. Und diese Maschine kann man auch/ Ich sehe auch nicht die Assoziationsfreiheit wie Frau Ra-disch. Ich sehe eher eine Durchführung, die an ganz vielen Sachen auch mechanisch ist. Da taucht manchmal ein Wort wie „Verzicht“ auf, auf Seite sieben, und das wird dann über sieben Zeilen durchdekliniert bis es dann bei Sinfonien ankommt. Also auf die Art geht es im nächsten Motiv weiter. Das wirkt für mich alles sehr, sehr maschi-nell und überhaupt nicht spaßig und mir ist überhaupt nicht klar, warum der Text auch irgendwie elf Seiten braucht. Ist mir ein Rätsel, warum er das nicht auf zwei Seiten machen kann. Ich sehe die Struktur nicht, die diese Länge gibt. Es hat für mich keine geschlossene Form, keine Notwendigkeit des Textes. Oder ich bin zu dumm es zu verstehen. (1999 Uetz, 9:40 Hettche)

In diesem speziellen Fall geht es nicht nur um die Menge der vermittelten Informatio-nen, sondern es kommt zusätzlich ein Verstehensargument ins Spiel. Dass die Frage der Ökonomie in diesem Text an die Frage des Verstehens gekoppelt ist, wird besser verständ-lich, wenn man eine ungefähre Vorstellung vom Text hat. Christian Uetz‘ Text „Hirnhelle Heroine“, wie er in Klagenfurt gelesen wurde, beginnt so:

Sie kann nicht das Wort sein. An diesem Wort bleibt sie nicht hängen. Sie kann nicht das Wort sein, das nicht sein kann. In dieses Wort wird sie sich nicht hengeln. Das Wort ist ja nicht. Sie aber ist nicht das Wort. Das ist nicht zum Kopfzerrn. Sie muss sich nicht übergeben, sie muss nicht sein, wie das Wort. Sie kann es nicht erbrechen.

(Uetz 1999)

Nicht so sehr die Menge der vermittelten Informationen ist das Problem, sondern dass die Informationen für Hettche in ihrer Menge durch fehlende Ordnung („ich sehe die Struk-tur nicht“, „keine geschlossene Form“) wertlos werden. Man darf annehmen, dass in der Literatur eine Redundanz an Informationen durchaus erlaubt ist, dass Redundanz sogar gewollt ist, sofern diese sich für den Leser durch ihre formale Einbettung als sinnvoll für den Text erweist. Der Text von Uetz ist sprachexperimentell. Er baut auf die rhythmisch-klangliche Anordnung von Sätzen, die zwar für sich genommen grammatisch und seman-tisch nachvollziehbar sind, sich aber nicht ohne erheblichen gedanklichen Aufwand zu einer Gesamtaussage zusammenfügen lassen. Der Text entzieht sich damit dem häufig vertre-tenen Anspruch, im besten Fall eine Handlung, wenigstens aber ein Thema zu entwickeln (vgl. beispielsweise Kapitel 7 „Creative Writing“). Vielmehr kreist er um ein Thema. Dabei stellt der Text mit Freude aus, was durch Sprachspiel möglich ist. Hettche erkennt zwar, dass der Text im Detail nach einem strukturellen Prinzip gearbeitet ist („maschinell“), für ihn erschöpft er sich allerdings darin, diese Struktur im Kleinen zu wiederholen, sodass er auf die Länge nichts Neues bietet. Der Text liefert also nur noch für das Verstehen wertlose Informationen („und überhaupt nicht spaßig und mir ist überhaupt nicht klar, warum der Text auch irgendwie elf Seiten braucht. Ist mir ein Rätsel, warum er das nicht auf zwei Seiten machen kann“). Mangelnde Dichte ist in diesem Fall also als ein Missverhältnis von Information und Textlänge zu verstehen. Dabei wird nur die Information als relevant eingestuft, die für Hettche zugänglich ist, also das, was zur Kohärenz des Textes beiträgt.

Es läge nahe, dass der Text in Hinblick aufDichte als Intensitätals sehr gelungen bewertet würde. Das ist allerdings ebenfalls nicht der Fall, weil den Informationen keine Bedeutung in Hinblick auf ein kohärentes Textverständnis zugewiesen werden kann. Ein Großteil sei-nes Redebeitrags entfällt darauf – auch das klang in der eingangs zitierten Passage aus dem Beitrag Hettches schon an –, sich den Text mithilfe philosophischen Vorwissens, aber auch mithilfe der Rekonstruktion der sprachlichen Form, verständlich zu machen.

Auch in Ursula März‘ Urteil über den Text von Kim (2005) geht es letztlich darum, die Ökonomie des Textes durch Kürzung zu steigern:

Ich glaube wirklich, wenn er zwei Seiten kürzer wäre, wenn diese Monotonie noch kälter, noch naturwissenschaftlicher rauskäme, wenn viele Sätze wegfielen, die dann doch ein bisschen ins Gefühlsmäßige gehen, dann hätte er eine noch größere Qualität.

(2005 Kim, 20:27 März)

Anders als Hettche in der Diskussion zu Uetz ist März das Gestaltungsprinzip des Textes von Anna Kim durchaus klar und sie erkennt es auch an. Allerdings empfindet sie manche

Stellen als überflüssig. Diese Stellen identifiziert sie außerdem als Brüche („ins Gefühls-mäßige“) mit dem von ihr erkannten Gestaltungsprinzip („Monotonie“).

Auch in März‘ Aussage, sie habe „fast manchmal angefangen [. . . ] sozusagen von einer Stelle zur nächsten zu lesen, von einer kulturgeschichtlichen Signalinformation zur nächs-ten“ (2008 Ziegler, 0:42 März), kommt die Missbilligung von Informationen, die nicht unmittelbar für den Erzählzusammenhang wichtig zu sein scheinen, zum Tragen. Dabei geht es, das soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, nicht so sehr darum, dass die Informationen nicht zum Text passen – im Gegenteil, sie lassen sich gut als Teil des Textes verstehen –, sondern vielmehr darum, dass sie den Text nicht bereichern, keinen informativen Mehrwert für ihn haben. Beide Argumentationen haben zum Gegenstand, dass Teile des Textes überflüssig erscheinen.

Überflüssiges wird unter anderem auch von Scheck moniert, der bei Bärfuss feststellt, dass der Text „in [s]einen Augen komplett überflüssige Figuren“ (2002 Bärfuss, 2:13 Scheck) enthält und der sich in der Diskussion zu Bonné ganz grundsätzlich die Frage stellt, wieso ihm „hier noch neue Figuren präsentiert [werden]“ (2002 Bonné, 5:12 Scheck). Offenbar erschließt sich die Funktion der Figuren nicht. Während sich die beiden zuletzt angeführ-ten Aussagen auf die Notwendigkeit beziehen, die Figuren für einen Text haben, deuangeführ-ten die folgenden zwei wiederum auf eine Angemessenheit der Menge an Informationen hin. So bemerkt Ebel (2007 Oda, 6:00), die Anlage der Figur fresse den Text auf. Auch in diesem Argument schimmert die Erwartung durch, dass eine Handlung - nicht nur eine stati-sche Figur oder eine Szene – entwickelt wird. Die Kritik am langwierigen Figurenaufbau lässt sich als impliziter Wunsch nach der Entstehung einer intensiveren Handlung lesen.

In Scheuermanns Text dagegen lobt Ebel (2007, 0:05), dass die beiden Ich-Erzählerinnen

„außerordentlich diszipliniert“ seien und die Leser nicht „[zu]quatschen“. Er kommt zu dem Schluss, der Text sei „ausgezeichnet gemacht‘: „Es wird nichts erzählt, was nicht in diesem Moment genau nötig ist“ (ebd.). Dieses Argument zielt in dieselbe Richtung wie Spinnens Aussage, ein Text sei dann perfekt, wenn man nichts mehr wegnehmen könne.

Auch Scheuermanns Erzählerinnen erzählen nur so viel, wie unbedingt notwendig ist – jedenfalls nicht zu viel.

Dichte als Intensität

Wenn es um die Kunstfertigkeit geht, mit der viele Informationen/Informationsnuancen in wenig sprachlichen Mitteln verpackt werden, läuft die Argumentation eher auf Vernetzung und Kompaktheit hinaus als auf Länge. Auch bei diesen Beispielen kommt das Wort

„Dichte“ nicht unbedingt wörtlich vor. Miller spricht beispielsweise von „eng aufeinander bez[ogenen] [thematischen Einheiten]“:

Ja, ich habe gegen die Charakterisierung als einer Etüde nichts. Das ist ein außerordent-lich streng in sich, einem bestimmten Muster nachgehender Text, der seine Motive, die darin vorkommen, die thematischen Einheiten, eng aufeinander bezieht, sie spiegelt, sie umdreht, sie wiederholt. Das ist alles sehr virtuos gemacht. Die Frage ist: Sie ver-binden mit der Etüde die Klavierübung für Anfänger im Metier. Die Etüde kann für sich ein bedeutendes Kunstgebilde sein, das diesen Charakter der Etüde durchaus beibehält. (2003 Lewejohann, 18:52 Miller; Hervorhebung KR)

Miller geht es um die enge Verknüpfung von Informationen durch sprachliche Kunstmittel wie Motive und Bilder. Fliedl spricht in einer anderen Diskussion davon, dass die Wörter

„eine Dichte herstellen von Bezügen“:

Was mich so beeindruckt hat an diesem Text, das ist dieses Moment der Komposi-tion, also des Musikalischen und Rhythmischen Anordnens von Assoziationsschleifen zu Wörtern, die sozusagen in ihren semantischen Gegensätzen auch abgegangen wer-den. Was weiß ich, „Portal“ oder „Maß“ oder „Kurs“, die dann sozusagen eine Dichte herstellen von Bezügen. [. . .] Das erzeugt für mich eine Spannung, die einfach sozu-sagen auf einer anderen Ebene liegt als diese inhaltliche Addition. Dieses Mäandern der Form, das geschieht um bestimmte Topoi herum, die konstant sind. (2001 Laher, 9:18 Fliedl)

Anders als in den Beiträgen zurStimmigkeit geht es bei Fliedl nicht um das Aufeinanderbe-zogensein von Inhalt und Form, sondern um das Vermögen, bestimmte formaler Elemente zu verknüpfen. Inhaltlich konstante „Informationen“ („Topoi“) werden durch formale Va-riation („Mäandern der Form“) in unterschiedlichem Licht präsentiert. Dadurch entsteht eine Verdichtung des Inhalts. Dichte ergibt sich also, so findet sich die Aussage auch bei Miller, aus einer Variation des Gesagten durch Einsatz verschiedener formaler Mittel: Ei-ne „sehr dichte Form des Beschreibens“ meidet, so Miller „die Repetition des Gesagten“

(2003 Flor, 0:14 Miller). Was unter formaler/sprachlicher Dichte verstanden wird – denn das wird selten direkt ausgesprochen – kann man in einem Beitrag Rakusas erkennen:

Ich habe eben schon das Wort rhizomatisch gebraucht, eher so wie ein Wurzelgeflecht.

Der Text ist/ hat so Verästelungen, ja. Und Struktur, ich weiß nicht, was wir un-ter Struktur/ Wir müssen das Wort „Struktur“ erstmal definieren vielleicht, was wir darunter verstehen. Er hat nicht die übliche Dramaturgie auch so einer großen Ver-dichtung und von Höhepunkten und so weiter. Das hat er ja überhaupt nicht. Aber rhizomatische Texte haben das nie. Die bewegen sich so. Weder in die Tiefe noch in die Höhe, sondern so, ja. So geschwürartig ein bisschen. (2004 Sabato, 28:34 Rakusa)

Rakusa gibt hier eigentlich die Definition eines rhizomatischen Textes, dem sie Texte mit der „übliche[n] Dramaturgie“ gegenüberstellt, die wiederum sich durch „große[] Verdich-tung“ auszeichnen. Verdichtung meint hier intensivieren, auf den Punkt bringen, aber auch

(emotionale) Spannung aufbauen („Höhepunkten“ versus „weder in die Höhe, noch in die Tiefe“) und Strukturen erkennbar werden lassen (im Gegensatz zu „geschwürartig“). Dass eine Reduktion strukturierender Mittel gleichzeitig eine Verringerung der Dichte bedeu-tet, wie Rakusa es andeubedeu-tet, erweist sich als eine Korrelation, die auch andere Juroren annehmen:

[S]o bescheiden bin ich da nicht und ist der Text auch nicht, zu sagen: es ist eben die völlige Zurücknahme aller Kunstmittel zugunsten eines dokumentarischen Erzählens.

Hier wird nicht dokumentiert, sondern hier wird ungeheuer straff und ökonomisch komponiert. (2006 Klischat, 16:06 Detering; Hervorhebung KR)

Detering stellt dokumentarische und künstlerische Texte gegenüber. Implizit sagt er dabei, dass sich dokumentarisches Schreiben durch „die völlige Zurücknahme aller Kunstmittel“

auszeichnet. Diesen Weg wählt der Text nicht. Klischats Text ist kein dokumentarischer Text, denn er ist „ungeheuer straff und ökonomisch komponiert“.

Zusammenfassung

Von literarischen Texten wird erwartet, dass Informationen, die sie präsentieren, stets re-levant sind (Dichte als Ökonomie). Die Relevanz der Information hängt dabei nicht allein vom Textgefüge ab, sondern auch davon, wie sehr der Leser das Vermögen hat, die gege-benen Informationen in das Textganze einzuordnen.

Dichte als Intensität nimmt die erkennbare Vernetzung und Nuancierung von Inhalten durch formale Mittel in den Blick, die sich mit einer Steigerung der geistigen und emotio-nalen Anteilnahme des Lesers verknüpfen sollte.

Grundsätzlich wird auf beiden Ebenen (Ökonomie und Intensität) ein möglichst hoher Grad angestrebt, jeweils jedoch unter Wahrung der Zugänglichkeit. Eine Intensivierung durch formale Vernetzung führt, wie das Beispiel Uetz (s. o.) zeigt, nur so lange zu einer Aufwertung, wie der Leser auch in der Lage ist, die Komplexität noch zu verarbeiten.

Andernfalls wird der Text als unökonomisch wahrgenommen. Ökonomie wird also nur in dem Maße anerkannt, wie der Leser in der Lage ist, den Text nachzuvollziehen.

11 Aktivierung

11.1 Aktivierung als Textwirkung

Im Kapitel „Orientierung“ wurde gezeigt, wie elementar die Rekonstruktion eines kohä-renten, nachvollziehbaren Textes für den Lesegenuss und damit die positive Bewertung des Textes ist. Es wurde außerdem gezeigt, dass bei geübten Lesern das gelungene Erkennen und Einordnen formaler Strukturen und sprachlicher Stile als Prozess der Selbstbestäti-gung im Sinne von Belke/Leder (2006) die Bewertung des Textes positiv beeinflusst. Dabei zeichnet sich das Bewerten als ein Prozess ab, der in der positiven Wahrnehmung von Lust während der Lektüre wurzelt. Erst im Nachgang wird dieses Lustempfinden (oder ggf. Un-lustempfinden) rationalisiert und mithilfe bewusst wahrgenommener Textmerkmale (Fo-regrounding) in eine konventionalisierte Wertsprache übertragen. Anhand der Diskussions-beiträge lässt sich zeigen, dass ein Wertmaßstab wieStimmigkeit sich nicht auf spezifische Eigenschaften des Textes bezieht, sondern auf den lustvollen Prozess des Nachvollziehens.

Alle Mechanismen des Foregrounding (vgl. van Holt/Groeben 2005) sind grundsätzlich dazu geeignet, diesen Lusteffekt zu erzielen. Da allerdings Texte immer auch durch ihre Machart dazu beitragen, wie viel Orientierungspotential sie haben, ist die Wirkung der Orientierung keine reine Konstruktionsleistung durch den Leser. Die positive Bewertung literarischer Texte hängt also, so das vorläufige Ergebnis, davon ab, wie gut das Textpuzzle zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt werden kann. Dabei reagieren die Juroren auf Impulse des Textes. Es ist aber auch davon auszugehen, dass Leseerfahrung eine Rolle spielt. Im Gegensatz zu Sachtexten wird bei literarischen Texten die Kohärenz auch auf der Ebene der Form beurteilt. Es liegt nahe, dass dabei das „literarische Foregrounding“

(van Holt/Groeben 2005), also die Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers auf die Spra-che, von großer Bedeutung ist. Doch der positiven Bewertung von orientierungsstiftenden Merkmalen sind Grenzen gesetzt. Sie funktioniert nicht nach einem Je-mehr-desto-besser-Prinzip. Streut ein Text zu viele Signale, die sich als potentiell bedeutungsvoll abheben, kann es zu Negativbewertungen kommen. Zum einen kann es passieren, dass Langeweile auftritt, weil im Text Signale erkannt werden, die einen Mehrwert für das Verständnis suggerieren, obwohl bei näherer Prüfung kein Mehrwert erkannt werden kann. Zum ande-ren ist es möglich, dass die angebotenen Signale das Verarbeitungsvermögen der Juroande-ren übersteigen. Aus der Überforderung folgt Frustration. In beiden Fällen kann mangelnde Effizienz als Grund der Frustration angenommen werden. Schon in diesem Zusammen-hang wird deutlich, dassOrientierungnicht die einzige Wirkung sein kann, an der sich die

Wertschätzung eines Textes bemisst.

Neben Kohärenz und Nachvollziehbarkeit der Machart hat sich ein zweiter Wertekomplex – dieAktivierung des Lesers durch den Text – als entscheidend für eine positive Bewertung erwiesen. UnterAktivierungfasse ich Phänomene zusammen, die entweder ein Nichtverste-hen im VersteNichtverste-hen zur Grundlage haben, sodass der Leser veranlasst wird, viel gedankliche Eigenleistung in den Text einzubringen, sowie Mechanismen der Aufmerksamkeitsbindung durch mentale und emotionale Anteilnahme an Figur und Plot. Aktivierung kann aus verschiedenen formalen Mechanismen resultieren. Neben einer bewusst vom Autor ange-legten künstlerischen Offenheit, kann auch der Wunsch, zu erfahren, wie es weitergeht, Aktivierung ermöglichen. Auch der Grad, in dem der Text eine Empathie mit den Figuren ermöglicht, kann ein Mittel sein, Anteilnahme zu gewährleisten. Wie auch im Komplex Orientierung sehen die Jurymitglieder aufgrund ihrer Rolle als Textkritiker die Gründe für eine gelungene Aktivierung selten bei sich selbst oder in den eigenen Lesevorausset-zungen, sondern in der Anlage des Textes.

Der Wertekomplex Aktivierung umfasst neben dem zentralen Wert Offenheit auch noch dieLebendigkeit und Anschaulichkeit von Figur, Erzähler und Perspektive. Auf der Wir-kungsebene ist Spannung Ausdruck von Aktivierung. Allerdings wird der Begriff in den Jurydiskussionen überwiegend zugunsten anderer Ausdrucksweisen mit ähnlicher Bedeu-tung umgangen.

Während der Wertungskomplex Orientierung erst dann spezifisch literarisch wird, wenn es um die formale Umsetzung des Inhalts bzw. den Mehrwert formaler und sprachlicher Eigenschaften für das Verständnis des Textes geht, ist der WertungskomplexAktivierung eindeutig ein spezifisch literarischer. Empirische Studien, die danach gefragt haben, war-um Menschen freiwillig Bücher lesen (Nell 1988) bzw. wie Leser ihrem eigenen Verständnis nach überhaupt lesen und ihr eigenes Lesen einschätzen (Graf 2004), sehen als zentrale Voraussetzung für eine gelungene (lustvolle) Lektüre, dass die Aufmerksamkeit so stark auf den Text fokussiert ist, dass der Leser nicht merkt, wie die Zeit vergeht, und völlig im Lesen (in der Regel eines erzählenden Textes) aufgeht.49 Graf (2004) erarbeitet in seiner Lesebiografien-Studie Lesemodi – „erworbene Handlungsdispositionen, die spezifische Re-zeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezogen zu nutzen“ (Graf 2004, 120) –, mit denen Leser Texten begegnen können. Dabei geht er davon aus, dass nicht der Text den Modus der Lektüre vorgibt, sondern dass Leser auf der Grundlage ihrer Einübung in die

49 Die Aufsatzbände von Baisch et al. (2013) sowie Irsigler et al. (2008) versammeln Aufsätze zur affektiven Aufmerksamkeitsbindung und Spannung und weisen immer wieder auf die Bedeutung der Aktivierung des Lesers hin.

verschiedenen Modi im Laufe ihrer Lesesozialisation einen ihnen angemessen scheinenden Lesemodus wählen (ebd., 121). Die Modi, die primär mit der Rezeption fiktionaler Texte verbunden sind, sind das „intime Lesen“ (ebd., 49 ff.) und der „ästhetische Lesemodus“

(ebd., 107 ff.). „Intime Lektüre“, deren Gegenstand laut Graf (ebd., 49) der Unterhal-tungsroman ist, zeichnet sich „durch de[n] hohe[n] Grad der emotionalen Involviertheit des Lesers“ (ebd.) aus. Als zentrales Kriterium für eine gelungene „intime Lektüre“ geben die Teilnehmer der Studie in ihren Sprachbiografien „Spannung“ an (ebd., 53). Graf (ebd., 53) verweist allerdings darauf, dass die Texte, denen das Merkmal „spannend“ zugewiesen wird, extrem heterogen seien. Spannung ist ein Phänomen, das mit einem Zustand großer Konzentration und Teilnahme am Geschehen einhergeht (Irsigler et al. 2008, 8). Darüber

(ebd., 107 ff.). „Intime Lektüre“, deren Gegenstand laut Graf (ebd., 49) der Unterhal-tungsroman ist, zeichnet sich „durch de[n] hohe[n] Grad der emotionalen Involviertheit des Lesers“ (ebd.) aus. Als zentrales Kriterium für eine gelungene „intime Lektüre“ geben die Teilnehmer der Studie in ihren Sprachbiografien „Spannung“ an (ebd., 53). Graf (ebd., 53) verweist allerdings darauf, dass die Texte, denen das Merkmal „spannend“ zugewiesen wird, extrem heterogen seien. Spannung ist ein Phänomen, das mit einem Zustand großer Konzentration und Teilnahme am Geschehen einhergeht (Irsigler et al. 2008, 8). Darüber

Im Dokument Von der Wirkung zur Wertung (Seite 180-192)