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2 Gesamtschulen in Deutschland

2.3 Evaluation der Modellversuche mit Gesamtschulen im Hinblick auf soziale

In einem umfassenden Bericht zu den Modellversuchen mit Gesamtschulen fasst die damit beauftragte Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1982) die Ergebnisse wissenschaftlicher Begleituntersuchungen zu den 1969 gegründeten Gesamtschulen zusammen. Dabei galt es unter anderem festzustellen, inwiefern das Gesamtschulsystem im Vergleich zum traditionellen dreigliedrigen Schulsystem zu mehr Chancengerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher sozialer Herkunft in der Gesellschaft führt. Von besonderem Interesse war hierfür die Betrachtung der Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Kurse

und Schulzweige unterschiedlicher Leistungsniveaus und Mobilitätsprozesse innerhalb integrierter und kooperativer Gesamtschulen. Auch die erreichten Schulabschlüsse wurden in den Blick genommen.

Für die Evaluation der integrierten Gesamtschulen wurde zunächst die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Kurse unterschiedlicher Leistungsniveaus analysiert.

Zwei der im Bericht vorgestellten Studien verweisen auf Abweichungen der zum Ende der vierten Klasse erhaltenen Grundschulempfehlung zu den in der neunten Jahrgangsstufe besuchten Kursen. In bayrischen Gesamtschulen zeigten sich in 40,8 Prozent der Fälle Abweichungen, wobei diese in einem Verhältnis von 1,3 zu 1 Abstufungen nach unten, das heißt auf ein geringeres als das nach der Grundschule empfohlene Leistungsniveau entfielen. Dementgegen steht eine Studie aus Schleswig-Holstein, die bei gleichem Untersuchungsgegenstand feststellte, dass insbesondere hauptschul- und realschulempfohlene Schülerinnen und Schüler vom Kurssystem der integrierten Gesamtschulen profitierten und dort ein höheres Leistungsniveau erreicht hatten. Der Bericht stellt weiterhin heraus, dass zwischen den Kursen integrierter Gesamtschulen in allen Untersuchungen zahlreiche Wechselbewegungen stattfanden, die die Schulzweigwechsel an kooperativen Gesamtschulen und die Schulwechsel im traditionellen dreigliedrigen Schulsystem deutlich überwogen. Die Autoren deuten dies als erhöhte Durchlässigkeit zwischen den Bildungsniveaus an der integrierten Gesamtschule. Ein Zusammenhang der Häufigkeit der Umstufungen zwischen den Kursen mit der Sozialschicht konnte nicht gefunden werden. Auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kurs stand einer Studie aus Nordrhein-Westfalen zufolge in keinem signifikanten Zusammenhang mit der Sozialschicht. Für die Schulartzugehörigkeit im traditionellen dreigliedrigen Schulsystem ergab sich hingegen eine signifikante Korrelation von 0,38 mit der Sozialschicht, aus der die Schülerinnen und Schüler stammten. Bei einer erneuten Erhebung wurden schließlich auch an der integrierten Gesamtschule Zusammenhänge entdeckt, allerdings lag der Korrelationskoeffizient deutlich unter dem des gegliederten Schulsystems, was für die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1982) auf eine höhere

Chancengerechtigkeit in Gesamtschulen hindeutete. In weiteren vertiefenden Analysen für Nordrhein-Westfalen zeigte sich zudem, dass die Intelligenz von Schülerinnen und Schülern an Gesamtschulen für deren Einstufung in ein bestimmtes Leistungsniveau im Vergleich zum traditionellen Schulsystem eine größere Rolle spielte. Demzufolge waren intelligentere Kinder aus unteren sozialen Schichten in integrierten Gesamtschulen bis zu 50 Prozent häufiger auf dem obersten Leistungsniveau eingeordnet als im gegliederten Schulsystem. Neben der Intelligenz wurden weiterhin auch die Schülerleistungen in die nordrhein-westfälische Untersuchung einbezogen. Wurde für diesen Faktor kontrolliert, zeigte sich für das dreigliedrige Schulsystem weiterhin ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Sozialschicht und der Schulartzugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler. Für die Kurszugehörigkeit an integrierten Gesamtschulen ergab sich ein solcher Zusammenhang unter Kontrolle der Leistungen der Schülerinnen und Schüler nicht mehr. Hinsichtlich der Kurszugehörigkeiten in verschiedenen Fächern zeigt der Bericht, dass in 60 Prozent der Fälle eine Bankbildung stattfand, das heißt, dass Schülerinnen und Schüler in allen extern differenzierten Fächern Kurse mit dem gleichen Leistungsniveau belegten. Dies bedeutet gleichzeitig auch, dass 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler von der Flexibilität des Kurssystems profitierten und Kurse entsprechend ihrer sich unterscheidenden Fachleistungen belegten.

Bei den kooperativen Gesamtschulen handelt es sich laut den Autoren des Berichts um eine sehr heterogene Schulform, die – je nach Bundesland oder Region – organisatorisch sehr unterschiedlich aufgebaut ist und in einigen Fällen eher einer integrierten Gesamtschule ähnelt. Hinsichtlich der Chancengerechtigkeit an dieser Schulform zeigte eine bayrische Studie zunächst, dass sich die Schulzweigzugehörigkeit nach Sozialschichten nicht vom traditionellen dreigliedrigen System unterschied. Es ergaben sich jedoch Unterschiede bezüglich der Umsetzung der Grundschulempfehlung.

An den kooperativen Gesamtschulen entsprach der tatsächlich besuchte Schulzweig häufiger nicht der nach der Grundschule empfohlenen Schulform als im traditionellen dreigliedrigen Schulsystem. Kooperative Gesamtschulen erwiesen sich demnach als flexibler. Diese höhere Flexibilität zeigte sich auch in einer Untersuchung in

Schleswig-Holstein. Hier erfolgten zwischen den Schulzweigen der kooperativen Gesamtschulen mehr Umstufungen als im gegliederten System. An den kooperativen Gesamtschulen ergaben sich diesbezüglich zudem keine Zusammenhänge zur Sozialschicht oder der Grundschulempfehlung.

Auch hinsichtlich der erreichten Schulabschlüsse verweist der Bericht auf Unterschiede zwischen dem Gesamtschul- und dem dreigliedrigen Schulsystem. So liegt der Anteil der erreichten Hauptschulabschlüsse an den integrierten Gesamtschulen in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bremen und zum Teil im Saarland unter dem des dreigliedrigen Schulsystems. In Bayern, Hessen und wiederrum Teilen des Saarlandes, entsprachen sich die Anteile der einzelnen Abschlüsse. In Bremen zeigte sich ein höherer Anteil Realschulabschlüsse und in Niedersachsen eine im Vergleich zum traditionellen Schulsystem dreifach höhere Quote der Übergangsempfehlungen in die gymnasiale Oberstufe. Auch an den kooperativen Gesamtschulen lag der Anteil der Hauptschulabschlüsse tendenziell niedriger als im gegliederten Schulsystem, in Bayern, Rheinlandpfalz und Schleswig-Holstein jedoch noch über dem der integrierten Gesamtschule. Auch erhöhte Übergangsquoten in die gymnasiale Oberstufe konnten an den kooperativen Gesamtschulen einiger Bundesländer festgestellt werden.

In der Zusammenfassung der Ergebnisse zur Chancengerechtigkeit an Gesamtschulen stellt die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1982) fest, dass diese Schulform sich durch eine höhere Flexibilität und Durchlässigkeit zwischen den Leistungsniveaus auszeichnet. Dies ermöglicht zum einen die individualisierte Förderung von Leistungsstärken beziehungsweise -defiziten und zum anderen erleichtert es Wechsel zwischen Leistungsniveaus. Zudem konnte den Autoren zufolge durch die Fachleistungsdifferenzierung in den Kursen der integrierten Gesamtschulen die Wirkung sozialer Faktoren reduziert werden, obgleich es – wie sie betonen – nicht gelänge, diese gänzlich aufzuheben. Trotz einer insgesamt sehr kritischen Zusammenfassung der Befunde, die eher die Einschränkungen der Befunde

und das Nichterreichen hochgesteckter Ziele hervorhebt, stellen die Autoren abschließend fest:

„Die Frage, ob Gesamtschulen ein größeres Maß von Durchlässigkeit und Beteiligung aller Sozialschichten an den verschiedenen Bildungsniveaus erreichen können, läßt sich aufgrund des vorliegenden Materials wie folgt beantworten: Für sich betrachtet sprechen die quantitativen Ergebnisse – die in diesem Abschnitt im Vordergrund standen – bei einer großen Zahl von integrierten Gesamtschulen für eine größere Offenheit der Bildungswege und eine Reduzierung, wenn auch nicht Auflösung der Zusammenhänge zwischen Sozialschicht und Bildungsniveau.“ (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, 1982, S. 415)

Angesichts der in der Evaluation des Gesamtschulversuchs vorgestellten Befunde, die dieser Schulform eine größere Chancengerechtigkeit zusprechen als sie im dreigliedrigen Schulsystem vorherrscht, stellt sich die Frage, warum die Gesamtschulidee nach Beendigung des Experimentalprogramms wieder in den Hintergrund geriet und das dreigliedrige Schulsystem in seiner ursprünglichen Form – ergänzt um einige Gesamtschulen – bestehen blieb. Wenzler (2003) erklärt sich dies durch zu hohe Erwartungen, die an die Gesamtschulen gestellt wurden. Sie merkt an:

„Im Ergebnis [des Gesamtschulversuchs, d. Verf.] zeigt sich, dass schon nach knapp zehn Jahren der Entwicklung einiger Schulen der neuen Schulform zwar bei Weitem nicht alle Ziele erreicht waren (wie übrigens in keinem anderen Land der Welt!), aber wesentliche Probleme der deutschen Schule deutlich besser gelöst wurden als im gegliederten Schulsystem“ (S. 76). „Da aber in den Studien die Gesamtschulen nicht auf allen Gebieten eindeutig dem dreigliedrigen Schulsystem überlegen waren, interessierten die Details nicht mehr. Die Gesamtschulen hatten sich nach Ansicht der Kritiker und Gegner nicht bewährt.“ (S. 75).