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5 Forschungsstand

5.3 Bildungsübergänge nach der Primarstufe

5.3.2 Bedeutung des Zeitpunkts des Bildungsübergangs nach der Primarstufe

Viele der oben genannten Studien gelangen zu dem Schluss, dass vor allem eine Verlagerung des Zeitpunkts der Selektion auf unterschiedliche Schulformen beziehungsweise die Abschaffung der im internationalen Vergleich in Deutschland früh stattfindenden Selektion zur Reduktion sozialer Disparitäten im Bildungssystem beitragen könnte (z.B. Bacher, 2007; Müller-Benedict, 2007). Die Frage, welche Auswirkungen eine später stattfindende Selektion hätte, lässt sich für Deutschland kaum empirisch beantworten, da die meisten Bundesländer diesbezüglich sehr ähnliche Regelungen aufweisen. Auch international sind Vergleiche von früher oder später selektierenden Schulen innerhalb eines Schulsystems nur selten möglich. Eine Studie, die einen solchen Vergleich anstellt, stammt aus der Schweiz.

Die Schweiz ist einer der wenigen Staaten, in dem ähnlich wie in Deutschland vielerorts Schülerinnen und Schüler bereits sehr früh auf unterschiedliche Bildungsgänge aufgeteilt werden. In ihrer Untersuchung zum Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I in der Schweiz, nutzen Bauer und Riphahn (2005) die Tatsache, dass dieser Übergang in einzelnen Schweizer Kantonen zu unterschiedlichen Zeitpunkten realisiert wird. Sie verfolgen damit das Ziel zu zeigen, welche Bedeutung dies für soziale Herkunftseffekte hat. In ihren Analysen mit den Daten des Bevölkerungszensus aus dem Jahr 2000 finden sie heraus, dass der Zusammenhang zwischen einer höheren besuchten Schulform und einem höheren Bildungsgrad des Vaters an Bedeutung verliert, wenn die Entscheidung für eine weiterführende Schulform im Alter von 15 statt im Alter von 11 Jahren getroffen wird. Am meisten können von diesem Effekt die Schülerinnen und Schüler profitieren, deren Eltern einen mittleren Bildungsgrad aufweisen.

Brunello und Checci (2007) gehen in ihrer Untersuchung ebenfalls der Frage nach, was eine frühere oder spätere Selektion von Schülerinnen und Schülern in unterschiedliche Schularten oder Klassen mit unterschiedlichem Leistungsniveau für deren

Bildungserfolg bedeutet. Anders als Bauer und Riphahn (2005) beschränken sie sich dabei jedoch nicht auf ein Bildungssystem, sondern versuchen diese Frage anhand von vergleichenden Analysen mit 15 Bildungssystemen zu beantworten. Mithilfe verschiedener europäischer Bevölkerungsumfragen können sie zeigen, dass eine frühere Aufteilung von Schülerinnen und Schülern die Effekte der sozialen Herkunft auf die Länge des Schulbesuchs, die Chance die Schule ohne Abschluss zu verlassen und die Chance auf eine Immatrikulation an einer Hochschule verstärken. Gleichzeitig finden die Autoren jedoch auch heraus, dass eine frühere Aufteilung von Schülerinnen und Schülern und ein größerer Anteil Schülerinnen und Schüler im Berufsbildungssystem die Effekte des sozialen Hintergrunds auf die Kompetenzen im Erwachsenenalter verringern. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Aufteilung auf unterschiedliche Schulformen die Spezialisierung und den Erwerb von beruflich relevanten Kompetenzen ermöglicht. Einschränkend ist bezüglich dieser Ergebnisse anzumerken, dass die Autoren in ihren Analysen nicht für die besuchte Schulform der Schülerinnen und Schüler kontrollieren.

Obgleich sich in den genannten Studien andeutet, dass eine Verlagerung der Selektion auf einen späteren Zeitpunkt zur Reduktion sozialer Disparitäten führen könnte, zeigt ein genauerer Blick auf andere Bildungssysteme, dass Herkunftseffekte auch bestehen, wenn die Selektion später stattfindet. Während der frühe Wechsel nach der Primarstufe im Alter von etwa zehn Jahren eine vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitete Regelung darstellt, gibt es weit mehr Bildungssysteme, in denen Schülerinnen und Schüler im Alter von etwa 16 Jahren eine Entscheidung über die Fortführung ihrer Schullaufbahn treffen müssen.

So entscheiden beispielsweise in England und Wales Schülerinnen und Schüler im Alter von 16 Jahren, ob sie weiterhin Vollzeit zur Schule gehen um die A-levels zu erreichen, welche ihnen den Zugang zur Hochschule ermöglichen oder, ob sie berufspraktische Kurse wählen beziehungsweise die Schule verlassen. Jackson, Erikson, Goldthorpe und Yaish (2007) gehen in ihrer Studie der Frage nach, inwiefern diese Entscheidung von

der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler beeinflusst ist. In Weiterentwicklung des von Erikson und Jonsson (1996) vorgeschlagenen theoretischen Modells (vgl. Kapitel 3.1), geht es ihnen unter anderem auch darum, primäre und sekundäre Herkunftseffekte empirisch zu unterscheiden und aufzuzeigen, in welchem Maße diese jeweils auf die Entscheidung wirken. Anhand verschiedener Datensätze („National Development Study“ und „Youth Cohort Studies“) können sie die Entwicklung der Übergangsquoten zu den A-levels von 16-Jährigen in den Jahren 1975, 1986 und 2001 betrachten. Die Analyse der Daten zeigt, dass sowohl primäre als auch sekundäre Herkunftseffekte bei der Entscheidung für oder gegen A-levels eine große Rolle spielen. Während diese Effekte von 1974 bis 1986 zunächst rückläufig waren, haben sie bis 2001 wieder zugenommen. Insgesamt zeigt sich, dass sekundäre Herkunftseffekte allein zu einem Viertel bis zur Hälfte für die Schichtunterschiede in den antizipierten Entscheidungen für oder gegen die Aufnahme von A-level-Kursen verantwortlich sind. Bei Schülerinnen und Schülern mit mittleren Leistungen fallen sie bei der Entscheidung besonders ins Gewicht. Ausgehend von ihren Analysen unterstreichen die Autoren abschließend die Wichtigkeit, bei der empirischen Betrachtung der sozialen Herkunft zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten zu unterscheiden. Die häufige Konzentration auf herkunftsbedingte Leistungsunterschiede von Schülerinnen und Schülern, sowohl in der Forschung als auch in der Bildungspolitik, ist den Autoren zufolge unzureichend und lässt wichtige Wirkmechanismen der sozialen Herkunft außer Acht.

In einem Arbeitspapier des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung (MZES) betrachtet Barg (2011) den Übergang nach der Sekundarstufe I im französischen Bildungssystem. In einem gesetzlich festgelegten Dialog zwischen Schule und Elternhaus müssen Eltern in Frankreich am Ende der neunten Jahrgangsstufe entscheiden, wie ihre Kinder ihren Bildungsweg fortsetzen sollen. Zur Auswahl stehen insgesamt vier Schulformen, von denen zwei eine eher akademische und zwei eine berufsvorbereitende Orientierung aufweisen. Der Dialog beginnt mit einem Vorschlag der Eltern, über den anschließend die Lehrerkonferenz abstimmt. Wird der Vorschlag

angenommen, kann die Schülerin oder der Schüler die gewünschte Schulform besuchen.

Bei Ablehnung durch die Lehrerkonferenz, können Eltern beim Direktor der Schule Einspruch einlegen, welcher nach einem Gespräch mit den Eltern eine abschließende Entscheidung trifft. Für die empirische Untersuchung dieses Dialogs nutzt Barg (2011) Daten einer repräsentativen Längsschnittuntersuchung des französischen Bildungsministeriums, die Schülerinnen und Schüler in den Jahren 1995 bis 1999 in ihrer Schullaufbahn begleitete. Den Entscheidungsdialog modelliert sie mithilfe der Wert-Erwartungstheorie (Esser, 1999). In ihren Analysen stellt die Autorin fest, dass die Entscheidung der Eltern in hohem Maße durch deren soziale Herkunft beeinflusst ist.

Die Lehrkräfte, die anschließend über Annahme oder Ablehnung des Vorschlags abstimmen, einigen sich in den meisten Fällen den Elternvorschlag anzunehmen. Auf diese Weise reproduzieren sie die Herkunftseffekte, die mit der Elternentscheidung einhergehen. Gleichzeitig kommen in der Entscheidung der Lehrkräfte unabhängige Herkunftseffekte zum Tragen, was dazu führt, dass bei gleichem Elternwunsch „the staff meeting is more likely to send a student from a higher social class to the general track [,i.e. the highest school track, d. Verf.] than a student from less favourable classes.“ (Barg, 2011, S. 40). Die Autorin findet weiterhin heraus, dass insbesondere der Aspekt der elterlichen Teilhabe am Schulleben (parental involvement), der in bestehenden Untersuchungen nur wenig Beachtung gefunden hat, eine große Rolle für die Entscheidung der Lehrkräfte spielt. Sie geht davon aus, dass die Lehrerinnen und Lehrer das Engagement der Eltern als Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit deuten, dass deren Kinder eine höhere Schullaufbahn erfolgreich abschließen können. Insgesamt zeigt sich in Bargs (2011) Untersuchung, dass der Dialog, der in den 1980er Jahren eingeführt wurde um soziale Herkunftseffekte zu verringern, diese offenbar stark begünstigt, so dass Schülerinnen und Schüler aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern deutlich geringere Chancen auf höhere Schulbildung erhalten als Schülerinnen und Schüler aus sozial besser gestellten Elternhäusern.