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5 Forschungsstand

5.7 Integrierte Gesamtschulen

5.7.3 Die aktuelle Bedeutung integrierter Gesamtschulen für die soziale

Einige der oben vorgestellten Studien liefern Hinweise darauf, dass ein Einheitsschulsystem, wie es beispielsweise in Finnland zu finden ist, für die soziale Chancengerechtigkeit förderlich ist. Mit der integrierten Gesamtschule existiert in Deutschland seit den 1970er Jahren eine nicht-selektive Schulform, die in einigen Merkmalen den Einheitsschulen anderer Bildungssysteme ähnelt. An integrierten Gesamtschulen werden Schülerinnen und Schüler aller Leistungsniveaus länger, in einigen Fächern sogar bis zum Ende der Sekundarstufe I, gemeinsam unterrichtet. Die erste tatsächliche Selektionsentscheidung für den weiteren Bildungsweg findet somit später statt. An integrierten Gesamtschulen existiert zudem ein Kurssystem, in dem für einige Fächer Unterricht in nach Leistungen differenzierten Klassen stattfindet. Dieses System ermöglicht zum einen eine gezielte individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern. Zum anderen werden Wechsel zwischen Leistungsniveaus erleichtert, so dass – auch bei Defiziten in einzelnen Fächern – am Ende der Sekundarstufe I bessere

Möglichkeiten zur Aufwärtsmobilität bestehen als an den Schulformen des traditionellen dreigliedrigen Systems.

Bereits die ersten Studien zu Gesamtschulen belegen, dass sich der Besuch dieser Schulform positiv auf den Bildungsverlauf von Schülerinnen und Schülern auswirkt. In den 1980er Jahren wurde dort durch das längere gemeinsame Lernen und die gelungene individuelle Förderung im Kurssystem mehr soziale Chancengerechtigkeit erreicht als im dreigliedrigen Schulsystem (vgl. Kapitel 2). Auch die im Verlauf des vorliegenden Kapitels dargestellten Studien verweisen darauf, dass der längere gemeinsame Unterricht und die damit verbundene Verlagerung der ersten tatsächlichen Selektionsentscheidung sowie das flexible Kurssystem sich auch im aktuellen Schulsystem günstig auf die soziale Chancengerechtigkeit auswirken.

Die vorgestellten Studien zeigen zunächst auf, dass die Verlagerung von Selektionsentscheidungen auf spätere Zeitpunkte in der Schullaufbahn und ein längerer gemeinsamer Schulbesuch aller Schülerinnen und Schüler zu einer Reduktion sekundärer Herkunftseffekte beitragen. Eine der wenigen aktuellen Studien zu deutschen Gesamtschulen belegt, dass dies auch an dieser Schulform der Fall ist. Bei der ersten tatsächlichen Übergangsentscheidung am Ende der Sekundarstufe I finden sich an integrierten Gesamtschulen keine sekundären Herkunftseffekte. Dies gilt auch, wenn die sogenannte Eingangsselektivität, die die Untersuchung solcher Effekte an Gesamtschulen erschwert, kontrolliert wird. Eingangsselektivität bedeutet hierbei, dass durch den „Creaming-Effekt“ die Schülerschaft an Gesamtschulen nicht einem Querschnitt aller Schülerinnen und Schüler und Leistungsniveaus entspricht, sondern insbesondere die Gruppe der Leistungsstarken unterrepräsentiert ist. Da aufgrund bereits vor und während der Grundschulzeit wirkender primärer Herkunftseffekte davon ausgegangen werden kann, dass die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler auch solche mit einem privilegierteren sozialen Hintergrund sind, birgt die Analyse der Herkunftseffekte an Gesamtschulen die Gefahr von Verzerrungen. Solchen Verzerrungen kann jedoch entgegengewirkt werden, wenn das Vorwissen der

Schülerinnen und Schüler einbezogen wird. Sollte diese Information nicht vorliegen, kann, wie von Baumert, Stanat und Watermann (2006) nachgewiesen, auch ein Maß für die kognitiven Grundfähigkeiten herangezogen werden. Zudem kann auch die Schulformempfehlung für die weiterführende Schule nach der Primarstufe dazu beitragen, die spezifische Eingangsselektivität von Gesamtschulen zu kontrollieren.

Auch hinsichtlich der primären Herkunftseffekte können von deutschen Gesamtschulen positive Effekte erwartet werden. Anhand von Studien zum US-amerikanischen tracking, konnte oben gezeigt werden, dass eine leistungsbezogene Aufteilung von Schülerinnen und Schülern in einigen Fächern für deren Leistungsentwicklung positiv sein kann. Übertragen auf das deutsche System könnte eine individuellere Förderung, die auch durch das Kurssystem an integrierten Gesamtschulen geleistet werden kann, dazu führen, dass Eltern in ihrer Unterstützungsfunktion beim Lernen für die Schule entlastet werden. Dies könnte zu einer Verminderung primärer Herkunftseffekte beitragen. Die US-amerikanischen Studien zum tracking zeigen jedoch auch, dass in den USA die Einteilung von Schülerinnen und Schülern in Kurse unterschiedlicher Leistungsniveaus wiederum von sekundären Herkunftseffekten belastet ist. In den ersten Studien zu deutschen Gesamtschulen fanden sich keine derartigen Effekte.

Aktuelle Studien zur Kurswahl liegen nicht vor. Es wäre demnach denkbar, dass am Übergang nach der Sekundarstufe I an integrierten Gesamtschulen – wie oben aufgezeigt – keine sekundären Herkunftseffekte mehr gefunden werden, da diese bereits vorgelagert die Kurswahl und damit die real zur Verfügung stehenden Abschlussoptionen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers bestimmt haben.

Zunächst ist diesbezüglich anzumerken, dass an integrierten Gesamtschulen nicht alle Fächer (meist nur: Mathematik, Deutsch, erste und zweite Fremdsprache und einzelne naturwissenschaftliche Fächer) in Kurse eingeteilt werden. Die Zuordnung zu den Kursen wird in Deutschland zudem anhand der Vorleistungen der Schülerinnen und Schüler und seitens der Schule vorgenommen. Inwiefern diese schulische Zuordnung von sekundären Herkunftseffekten belastet ist, bleibt mangels entsprechender Studien eine offene Frage. Forschungsergebnisse zum US-amerikanischen Schulsystem legen

jedoch nahe, dass selbst bei Existenz solcher Effekte, ein System, in dem alle Schülerinnen und Schüler eine Schule besuchen, in der dann einzelne Fächer nach Leistung gruppiert werden, dennoch sozial gerechter ist als das derzeitige deutsche Schulsystem. Vergleicht man die USA mit anderen Staaten wird deutlich, dass das dort vorherrschende Schulsystem mehr soziale Chancengerechtigkeit bietet als viele andere Schulsysteme. So zeigen beispielsweise Hout & Douhan (1996) auf, dass die USA hinsichtlich der Bildungsungleichheit mit Schweden gleichzusetzen sind, welches in internationalen Vergleichsstudien immer wieder durch eine überdurchschnittliche soziale Chancengerechtigkeit auffällt (z.B. Müller & Ehmke, 2013; Wendt, Stubbe &

Schwippert, 2012). Vergleicht man das US-amerikanische Schulsystem direkt mit dem deutschen, so zeigen auch aktuelle Studien wie die PISA-Studie aus dem Jahr 2012, dass das US-amerikanische Schulsystem hinsichtlich des Zusammenhangs von Leistung und sozialem Hintergrund als deutlich gerechter einzustufen ist (Prenzel, Salzer, Klieme

& Köller, 2013).

Insgesamt ist auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes zu erwarten, dass integrierte Gesamtschulen aufgrund ihrer speziellen Lernumwelt, die sich durch längeres gemeinsames Lernen, eine flexible Schulstruktur und eine fachbezogene individuelle Förderung auszeichnet – auch angesichts der speziellen Eingangsselektivität, die sich aus der Koexistenz zu anderen Schulformen des deutschen Schulsystems ergibt – einen Beitrag zur sozialen Chancengerechtigkeit leisten.

Entsprechend sollten am Ende der Sekundarstufe I, wenn die erste tatsächliche Selektionsentscheidung an integrierten Gesamtschulen ansteht, weniger sekundäre Herkunftseffekte wirken als an den Schulformen des traditionellen dreigliedrigen Systems.