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Im Folgenden werden die im vorangegangen Kapitel vorgestellten Theorien und Studien einer Gesamtevaluation im Hinblick auf ihre Eignung, die Bildungsentscheidung nach der Sekundarstufe I im deutschen Bildungssystem zu modellieren, unterzogen. Auf Grundlage dessen wird im Anschluss das theoretische Analysemodell für die vorliegende Arbeit entwickelt.

Für die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung betrachtete Bildungsentscheidung nach der Sekundarstufe I ist die von Esser (1999) vorgelegte Wert-Erwartungstheorie am geeignetsten. Hierfür spricht zunächst, dass es sich bei dieser Theorie um die in der Bildungsforschung am häufigsten zur Erklärung von Bildungsentscheidungen genutzte Theorie handelt. Dies ermöglicht unter anderem eine vergleichende Betrachtung der Ergebnisse verschiedener Studien mit denen der vorliegenden Untersuchung. Die Verbreitung der Theorie liegt sicherlich auch darin begründet, dass sie sich gut auf den Forschungsgegenstand anwenden lässt, da Esser (1999) selbst eine Adaption der Theorie zur Erklärung von Bildungsentscheidungen im deutschen Schulsystem am Beispiel des Übergangs nach der Grundschule zur Verfügung stellt. Für die Wert-Erwartungstheorie als zentrale Theorie für die vorliegende Arbeit spricht weiterhin, dass in zahlreichen deutschen Studien, in denen ein entsprechendes Modell genutzt wurde, eine hohe Varianzaufklärung erzielt werden konnte.

Obgleich die Annahmen der Theorie sich in den meisten dieser Studien als zutreffend erwiesen haben, bleiben zum Teil unerklärte direkte Effekte der sozialen Herkunft auf Bildungsentscheidungen bestehen, die nicht durch das von der Wert-Erwartungstheorie postulierte rationale Abwägen der Akteure erklärt werden können.

In Erweiterung bestehender Modelle der rationalen Wahl wurde daher in verschiedenen Studien versucht, die institutionellen Rahmenbedingungen, in denen

Bildungsentscheidungen getroffen werden, einzubeziehen. Wie insbesondere Schuchart und Maaz (2007) sowie Becker (2000) empirisch nachweisen, können institutionelle Restriktionen oder Opportunitäten, die in einem Schulsystem bestehen, Bildungsentscheidungen beeinflussen. Zum einen können die Rahmenbedingungen den individuellen Entscheidungsspielraum der Akteure beschränken (Becker, 2000). Zum anderen können sie aber auch die Wirkung der sozialen Herkunft auf die Entscheidung vermindern oder sogar verstärken (Schuchart & Maaz, 2007). Gleichzeitig sollte auch die Performanz von Schülerinnen und Schülern in diesen Strukturen, das heißt deren Leistungen und Nachweise über diese in Form von Noten, beachtet werden. Wie von Breen und Goldthorpe (1997) theoretisch formuliert und von Stocké (2007) empirisch geprüft, können die Leistungen und Noten von Schülerinnen und Schülern insbesondere die Erfolgserwartungen für bestimmte Bildungswege beeinflussen. Um Merkmale der institutionellen Rahmenbedingungen in ein Modell zur Erklärung von Bildungsentscheidungen zu integrieren, eignet sich das Modell der soziologischen Erklärung von Esser (1999). Über die „Logik der Situation“ können institutionelle Regeln, zum Beispiel Zugangsvoraussetzungen, sowie die Wahrnehmung solcher Faktoren durch die handelnden Akteure, theoretisch modelliert werden. Auch verschiedene Schulformen, die für diese Untersuchung von zentraler Bedeutung sind, können an dieser Stelle in das theoretische Modell integriert werden. Wie Akteure im Lichte dieser Rahmenbedingungen handeln, kann im zweiten Schritt von Essers Modell, der „Logik der Selektion“, unter Einbeziehung der Wert-Erwartungstheorie als individueller Handlungstheorie theoretisch modelliert werden. Die im dritten Schritt, der „Logik der Aggregation“, aggregierten individuellen Bildungsentscheidungen der Akteure lassen schließlich Rückschlüsse auf die Bildungsungleichheit in einer Gesellschaft zu. Damit stellt das Modell der soziologischen Erklärung einen geeigneten Rahmen für die theoretische Einbeziehung der Rahmenbedingungen individueller Bildungsentscheidungen dar. Grundsätzlich würden sich hierfür auch die von Esser (1999) im Rahmen der Wert-Erwartungstheorie geforderten Brückenhypothesen eignen.

Diese fokussieren jedoch nur die Ausgangslage, während anhand des Modells der

soziologischen Erklärung auch das Ergebnis individueller Entscheidungen einbezogen wird.

Einige Forscherinnen und Forscher nehmen an, dass das unmittelbare soziale Umfeld von Akteuren, welches bislang meist nicht in Studien auf Grundlage der Wert-Erwartungstheorie einbezogen wird, für Bildungsentscheidungen ebenfalls von Bedeutung sein könnte. Diese Annahme findet sich insbesondere in den psychologischen Theorien des geplanten Verhaltens und der Erwartungswert-Theorie sowie im theoretischen Modell der Wisconsin-School. Trotz der Verwendung verschiedener Operationalisierungen für die Erwartungen und Einstellungen wichtiger Bezugspersonen im unmittelbaren Umfeld, zeigen alle hierzu vorgestellten Studien (Jonkmann, Maaz, McElvany und Baumert, 2010; Schuchart, 2006; Sewell, Haller, Ohlendorf, 1970; Sewell, Haller, Portes, 1969; Stocké, 2009; Watermann & Maaz, 2006;

Watermann & Maaz, 2010), jeweils deutliche Effekte dieser Personen auf Bildungsentscheidungen. Eine Integration des sozialen Umfelds in ein theoretisches Modell mit der Wert-Erwartungstheorie und dem Modell der soziologischen Erklärung kann in Weiterführung der Überlegungen von Bourdieu (1983) und der Argumentation von Erikson und Jonsson (1996) zum sozialen Kapital erfolgen. Erikson und Jonsson (1996) gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und Bildungsentscheidungen vor allem aus der Bedeutung dieses Kapitals für die Erfolgserwartungen verschiedener Bildungsgänge resultiert. Soziales Kapital verstehen die Autoren dabei insbesondere als Hilfestellungen und Informationen Anderer, die diese aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen im Bildungssystem zur Verfügung stellen können. Ähnliche Überlegungen finden sich ansatzweise auch bei Breen und Goldthorpe (1997) sowie Wigfield und Eccles (2000). Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass Hilfestellungen und Informationen von signifikanten Anderen, vermittelt über die Erfolgserwartungen der Wert-Erwartungstheorie, Einfluss auf Bildungsentscheidungen nehmen. Erweitert man die von Bourdieu (1983) vorgeschlagene Definition von sozialem Kapital, kann in Anlehnung an die Wisconsin-School zudem davon ausgegangen werden, dass nicht nur Hilfestellungen und

Informationen, sondern auch die Einstellungen und Erwartungen von Personen im sozialen Umfeld für Bildungsentscheidungen von Bedeutung sind (vgl. Kapitel 3.3). Die Einstellungen und Erwartungen Anderer wirken sich der Wisconsin-School zufolge auf die Aspirationen von Schülerinnen und Schülern aus. Solche Aspirationen können verschiedenen Studien zufolge (z.B. Becker 2000) – ebenso wie tatsächliche Bildungsentscheidungen – durch ein rationales Abwägen der Akteure, das heißt durch die Elemente der Wert-Erwartungstheorie vorhergesagt werden. Die Autoren der Wisconsin-School formulieren keine expliziten Annahmen zur Entscheidungsfindung, es scheint jedoch unter Bezugnahme auf die Wert-Erwartungstheorie plausibel, dass auch die Einstellungen und Erwartungen der signifikanten Anderen in eine rationale Entscheidungsfindung eingehen und sich auf diese Weise indirekt auf Bildungsentscheidungen auswirken. Insgesamt kann damit für das vorliegende Analysemodell davon ausgegangen werden, dass sich Erfahrungen und daraus resultierende Möglichkeiten zur Information und Hilfestellung der signifikanten Anderen auf die im Rahmen der Wert-Erwartungstheorie formulierten Erfolgserwartungen auswirken. Für die Einstellungen und Erwartungen der signifikanten Anderen kann angenommen werden, dass sie sich auf die gesamte rationale Entscheidungsfindung, das heißt die Erfolgserwartungen, die Kostenabwägungen und das Statuserhaltmotiv auswirken. Da es bei den genannten Merkmalen der signifikanten Anderen nicht nur um deren Funktion als Bereitstellende von Ressourcen geht – wie es die Definition von Bourdieu (1983) vorsieht – sondern darüber hinaus auch deren Einstellungen und Erwartungen einbezogen werden, werden diese Faktoren für das vorliegende Modell nicht als zum sozialen Kapital gehörig interpretiert. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass die signifikanten Anderen einen eigenen theoretischen Einflussfaktor bilden. Aufgrund dieses Fokus auf die signifikanten Anderen als eigenständige Akteure mit Einstellungen und Erwartungen sind sie im Modell der soziologischen Erklärung nicht auf der Mikro-Ebene, das heißt als reines Kapital der entscheidenden Akteure, anzusiedeln, sondern werden auf der Meso-Ebene, die zwischen Individuum und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen steht, betrachtet.

Insbesondere Anwendungen der Erwartungs-Wert-Theorie (Wigfield und Eccles, 2000) auf das deutsche Bildungssystem, wie sie von Maaz, Hausen, McElvany und Baumert (2006) vorgeschlagen und auch von Jonkmann, Maaz, McElvany und Baumert (2010) genutzt werden, zeigen, dass auch psychologische Merkmale der handelnden Akteure für deren Bildungsentscheidungen von Bedeutung sind. Hier erwies sich unter anderem das Fähigkeitsselbstkonzept als wichtig. Es wird dementsprechend in das vorliegende Modell als weiteres Merkmal der handelnden Akteure aufgenommen. Ausgehend von Ajzens (1991) Theorie des geplanten Verhaltens und deren empirischer Prüfung in verschiedenen Studien (Schuchart, 2006; Watermann & Maaz, 2006; Watermann &

Maaz, 2010) kann weiterhin angenommen werden, dass auch die Einstellung zu Bildung im Allgemeinen die Bildungsentscheidungen beeinflussen kann. Auch sie wird daher im vorliegenden Modell betrachtet. Für die von der Theorie des geplanten Verhaltens hervorgehobene Kontrollüberzeugung hingegen liegen keine eindeutigen Befunde vor.

Während sie sich in der Studie von Schuchart (2006) als wichtiger Einflussfaktor auf die Absicht von Schülerinnen und Schülern, nach der Hauptschule einen Realschulabschluss zu erwerben, erwies, zeigen Jonkmann, Maaz, McElvany und Baumert (2010), dass die Kontrollüberzeugung für Eltern bei der Entscheidung für eine weiterführende Schule nach der Grundschule nur eine untergeordnete Rolle spielt. Da es sich bei erster Studie um einen speziellen Fall einer Bildungsentscheidung handelt und der zweite Befund als allgemeingültiger zu betrachten ist, wird diese psychologische Komponente nicht in das vorliegende Modell aufgenommen.

Nutzt man die Wert-Erwartungstheorie als Ausgangspunkt und bettet sie, wie oben dargelegt, als Handlungstheorie in das Modell der soziologischen Erklärung ein, können auf diese Weise auch die auf der Makro-Ebene einzuordnenden institutionellen Rahmenbedingungen von Bildungsentscheidungen betrachtet werden. Hierzu zählen für die Übergangsentscheidung nach der Sekundarstufe I die Schulformen und die Möglichkeiten zum Übergang, welche durch Leistungen und Noten bestimmt werden.

Auf einer Meso-Ebene können weiterhin die Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen der signifikanten Anderen in das Modell integriert werden. Auf der

Mikro-Ebene werden schließlich die soziale Herkunft der Akteure in der Definition von Bourdieu (1983) sowie psychologische Merkmale, zu denen das Fähigkeitsselbstkonzept und die allgemeine Einstellung zu Bildung gehören, einbezogen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der üblicherweise kontrollierten Individualmerkmale (Geschlecht, Migrationshintergrund) und einer Kontrolle für die Eingangsselektivität auf die weiterführenden Schulformen anhand der Übergangsempfehlung nach der Grundschulzeit und den kognitiven Grundfähigkeiten, ergibt sich für die vorliegende Arbeit das folgende theoretische Modell (s. Abbildung 4.01).

Abbildung 4.01: Theoretisches Modell zur Erklärung von Bildungsentscheidungen

Gesamtgesellschaftliche Bildungschancen Psychologische Merkmale: Einstellung zu Bildung, Fähigkeitsselbstkonzept Weitere Merkmale: Geschlecht, Übergangsempfehlung, kognitive Grundfähigkeiten, Migrationshintergrund

HANDLUNGSTHEORIE

LOG IK DE R S EL EK TI ON

LOG IK DE R A

GG REG ATI ON

LO GIK DER SITU

ATIO N

Individuelle Bildungsentscheidung

Ressourcen der sozialen Herkunft: ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital Erfolgserwartungen Wahrscheinlichkeit des Statuserhalts Einstellungen und Erwartungen der signifikanten Anderen

Institutionelle Rahmenbedingungen: Schulform, Übergangsmöglichkeiten (Leistung, Noten) Erfahrungen der signifikanten Anderen / Informationen über das Bildungssystem

MAKRO MIKRO

MESO Kosten