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Eine systematische Reflexion

4. Ergebnisse: Sinnkonstruktionen in Lernberatungs konzeptionen

und Zuordnung von Beratungsgesprächen innerhalb von strukturierten, formalen Lehr-Lernkontexten zu fokussieren.

Diese – für Lernberatungskonzeptionen operationalisierten – Sinndimensio-nierungen werden im zweiten Schritt als theoriegeleitete, deduktive Suchstra-tegien für die explorative Untersuchung dreier verschiedener Lernberatungs-konzeptionen genutzt. Die untersuchten Konzepte wurden dabei nach zwei Kriterien ausgewählt. Zum einen sollte es sich um enge und explizite Lern-beratungskonzeptionen handeln, die das Beratungsgespräch selbst fokussie-ren. Zum zweiten sollten die Konzeptionen eine explizite Bezugnahme zu formalen Lehr-Lernsettings (z. B. Kurse, Seminare, Trainings) aufweisen, da darüber die Anschlussmöglichkeiten zwischen didaktischem und beratendem Handeln sichtbar gemacht werden können. Diesen Kriterien entsprechend wurden folgende Lernberatungskonzeptionen für die Analyse ausgewählt:

(a) das Konzept der „Lernerberatung“ (vgl. Kaiser u. a. 2007a, 2007b), (b) das Konzept von Lernberatung im Kontext von Selbstlernarchitekturen (vgl.

Forneck 2005, 2006; Forneck und Springer 2005) und (c) das Konzept der rekonstruktiven Lernberatung (vgl. Ludwig 2012).

4. Ergebnisse: Sinnkonstruktionen in Lernberatungs konzeptionen

In der Darstellung der tentativen Analyseergebnisse wird zunächst das jewei-lige Lernberatungskonzept kurz skizziert, bevor die Ergebnisse der Analyse anhand der operationalisierten Sinndimensionen dargestellt werden.

4.1 Lernerberatung

Das Konzept der „Lernerberatung“ wurde im Rahmen des vom Bundesmi-nisterium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Modellprojekts

„Lernerfolg und Lernerfolgskontrolle“ (LeKo; 2003–2007) entwickelt. Ler-nerberatung zielt hier als Angebot in Seminaren auf die „Sicherung und Op-timierung von Lernprozessen“ ab (Hohenstein 2007, S. 147). Dabei stützt sich dieses Konzept auf die Analyse und Diagnose von „Lernereigenschaf-ten“ und damit verbundenen Lernschwierigkeiten, für die ein Fragebogen zur Erfassung von biografischen „Lernertypen und Lernereigenschaften“

als Diagnoseinstrument eingesetzt wird (FELTE, vgl. Hohenstein 2007).

Die Auswertung dieses Instruments wird dann als Ausgangspunkt für das konkrete „Lernerberatungsgespräch“ genutzt. Die Lernberatung ist zwar in eine konkrete Kurs- oder Seminarveranstaltung eingebunden, wird aber als zusätzliches Element verstanden, das Teilnehmende bei Bedarf – außerhalb der Kurssituation – in Anspruch nehmen können. Die Beratung wird von fort-gebildeten Kursleiterinnen und -leitern durchgeführt, die als „Experten für Lernen“ (Hohenstein 2007, S. 147) und weniger als Fachexperten und -exper-tinnen agieren. Gleichwohl sollen auch die Inhalte der jeweiligen Kurse in der Beratung berücksichtigt werden.

Sachlich werden hier spezifische Aspekte einer Lernbiografie fokussiert und als Lerntypen, -eigenschaften und -schwierigkeiten konzeptualisiert.

Diese werden über ein standardisiertes Instrument erfasst und als Kom-munikationsgegenstand in das Interaktionssystem inkludiert. Es wird dar-auf verwiesen, dass eine Verknüpfung mit der inhaltlichen Lernsituation vorgesehen sei, allerdings wird konzeptionell nicht berücksichtigt, wie diese Verknüpfung erfolgt.

• In der Sozialdimension lässt sich festhalten, dass in dieser Konzeption Kursleitende als Beratende im Umgang mit dem Diagnoseinstrument geschult werden. Die Rolle kann daher – etwas überspitzt – als die von

„lehrenden Diagnostikern“ beschrieben werden, die im Kontext der Bera-tungssituation als „Experten für Lernen“ fungieren. Lernende werden hier als „Experten der persönlichen Lernbiografie“ (ebd.) betrachtet, die dies in der Beratung klar explizieren, reflektieren und aktiv nach Optimierungen suchen.

Zeitlich wird das Beratungsgespräch als „aus dem Seminar ausgegliederte Intervention“ (ebd. S. 148) verstanden und individualisiert nach den Be-darfen der Teilnehmenden realisiert. Wie die zeitliche Kopplung an die strukturierte Seminarsituation genau erfolgen soll, bleibt konzeptionell unklar. Es handelt sich damit um ein exkludierendes, unbestimmtes Zeit-konzept.

4.2 Lernberatung im Kontext von Selbstlernarchitekturen

Ein zweites Konzept von Lernberatung wurde im Rahmen einer Theorie selbstsorgenden Lernens entwickelt (vgl. Forneck 2005, 2006). In dieser Kon-zeption wird von einer Selbstlernarchitektur ausgegangen, die auf vorstruktu-rierten und miteinander vernetzten Materialien basiert. In der Strukturierung der Selbstlernarchitektur werden inhaltliche Lernmaterialien als Lerneinhei-ten mit metakognitiven Lernpraktiken zur Bearbeitung des Lerngegenstandes verknüpft. Die Lerneinheiten werden durch Verweise miteinander sowie mit expliziten Lernberatungsgesprächen verbunden, bei denen der Gegenstand und die metakognitiven Bearbeitungsstrategien thematisiert werden. Ent-sprechend entstehen in dieser Struktur individuelle Lernwege, die Lernende selbstgesteuert durchlaufen. Lernberatung wird hier verstanden als ein fester Bestandteil einer didaktisch strukturierten Lernumgebung, für die methodi-sche Hintergrundtexte als Hilfestellung für Beratende bereitgestellt werden.

„Wir lassen nicht einen selbstgesteuerten Lernprozess ablaufen und bieten stattdessen Lernberatung an. Vielmehr beziehen wir Lernmaterial, Lernar-chitekturen und die Beratungsangebote aufeinander“ (Forneck 2005, S. 34).

Lernberatung wird hier als ein Element innerhalb einer Selbstlernarchitektur konzeptualisiert, die auf die Reflexion des aktuell thematischen Lernprozes-ses abzielt.

• Als Themen der Lernberatung werden sachlich Inhalte und Lernstrategi-en konzeptionell in der Konstruktion einer thematischLernstrategi-en Selbstlernumge-bung verknüpft und als Gegenstand von Beratung inkludiert.

Sozial werden Lehrende zunächst als didaktische Konstrukteure von Selbstlernumgebungen gefasst, die in der Begleitung der Selbstlernum-gebung die Rolle der Lernberatung einnehmen. Die Interaktion erfolgt konzeptionell immer entlang eines thematischen Lernprozesses, für den Lernende unterschiedliche Strategien nutzen. Lernende werden hier als individualisierte Lernsubjekte konstruiert.

Zeitlich werden durch die Einbindung in eine Selbstlernumgebung jeweils bestimmte Zeitpunkte für Beratungsgespräche konzeptionell integriert. In der zeitlichen Sinndimension handelt es sich damit um ein bestimmtes, integriertes Zeitkonzept von Lernberatung.

4.3 Rekonstruktive Lernberatung

Ein drittes Konzept – das der rekonstruktiven Lernberatung – wurde im Kon-text empirischer Forschungen zu Alphabetisierungskursen entwickelt

(Lud-wig 2012). Es zählt zu den fallorientierten Beratungsansätzen, bei denen – vor dem Hintergrund subjektwissenschaftlicher Ausdeutungen – Lernen als sozi-ales und gesellschaftlich situiertes Handeln verstanden wird, dem spezifische Begründungen zu Grunde liegen. In der Lernberatung sollen nach diesem Konzept drei Aspekte des Lernens – Biografie, der fachliche Gegenstand und die Situation – bearbeitet werden. Die Lernberatung wird als „Grundform pädagogischen Handelns im Vermittlungsprozess“ (ebd. S. 193) verstanden und findet hier abwechselnd mit pädagogischen Handlungen des Lehrens statt. Anlass ist eine wahrgenommene Lernproblematik von Lernenden. Ziel der Beratung ist damit, ihre Lernproblematik umfassend zu verstehen und im Gespräch zu rekonstruieren, um im weiteren Verlauf Kernthemen sowie Gegenhorizonte herauszuarbeiten. Entsprechend wird hier Lernberatung als Prozess der Bedeutungsdifferenzierung gefasst, der in einem Beratungssche-ma mit dem Namen VIVA1 bearbeitet wird.

• Hinsichtlich der sachlichen Struktur werden in dieser Konzeption biogra-fische, inhaltliche und situative Aspekte berücksichtigt. Konzeptuell wird davon ausgegangen, dass jeweils situativ bestimmt wird, welche Aspekte im Beratungsgespräch subjektiv bedeutsam und vor diesem Hintergrund konkret bearbeitet werden.

Sozial wird eine Rollenkonstruktion sichtbar, bei der Lehrende als verste-hende Rekonstruierende von Lernproblematiken auftreten, die Bildungs-prozesse begleiten und unterstützen. Diese Rolle wird im Wechselspiel zu der Rolle als Lehrende situativ eingesetzt. Lernende werden hier also ebenfalls als individualisierte Lernsubjekte verstanden. Zusätzlich liegt aber auch ein Verständnis von Lernenden als Fallgebenden vor.

Zeitlich erscheint die Lernberatung hier mit der Kurssituation verknüpft (vgl. ebd. S. 194). Dabei zeigen sich zwei unterschiedliche Möglichkeiten.

Je nach Bedarf kann ein Reflexionsgespräch als Lernberatung in den Kurs integriert werden. In diesem Fall handelt es sich um ein unbestimmtes, integriertes Zeitkonzept. Gleichzeitig kann – wiederum nach dem indivi-duellen Bedarf der Teilnehmenden – eine längere Beratung als Fallrekon-struktion aus dem Kurs exkludiert werden. Dabei handelt es sich um ein unbestimmtes, exkludierendes Zeitkonzept.

1 Unter VIVA sind folgende Prozesse subsumiert: Verstehen der Beratenden, Impulse und Gegenhorizonte setzen, Verstehen durch Ratsuchende, Alternative Handlungsmöglichkei-ten aufzeigen.

5. Diskussion: Zur Relevanz beobachtungstheoretischer Analysen von Lernberatungskonzepten

In der Zusammenschau der drei Konzepte zeigen sich unterschiedliche Aus-differenzierungen der sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinndimensionen von Lernberatung (siehe Abbildung 1).

Tab. 1: Ergebnisse der Analyse zu Lernberatungen im Überblick.

Quelle: eigene Darstellung

Betrachtet man die Sinndimensionen der Konzepte in Kontrast zueinander, lassen sich vor diesem Hintergrund drei verdichtete Modi der Sinngenerie-rung in Lernberatungskonzeptionen abstrahieren.

1. Lernberatung im Modus der Diagnose 2. Lernberatung im Modus der Didaktik 3. Lernberatung im Modus situativer Fallarbeit

Diese drei Modi setzen unterschiedliche Schwerpunkte; gleichzeitig werden bestimmte Aspekte jeweils ausgeblendet.

• Bei der Lernberatung im Modus der Diagnose wird der Schwerpunkt darauf gelegt, durch standardisierte Messinstrumente zur Erfassung von Lerntypen und Lernschwierigkeiten Lernproblematiken methodisch kont-rolliert zu identifizieren. Nicht systematisch konzeptionell reflektiert wird hier, dass über die Schwerpunktsetzung auf diagnostisches Handeln die Verknüpfung zu den Inhalten in der jeweiligen Kurssituation verloren geht. Auf dieses Verschwinden des Inhalts auf der Sachebene der

Lernbe-ratung wurde von verschiedenen Seiten schon hingewiesen (vgl. Ludwig 2012, Reutter 2011, Siebert 2001).

Lernberatung im Modus von Didaktik fokussiert auf eine klare Struktu-rierung und konzeptionelle Einbindung von Lernmaterialien und Lernbe-ratungsgesprächen. Diese Konzeption steht daher für eine sehr enge Ver-knüpfung von Inhalt und Prozessberatung. Im Hinblick auf die Frage nach der Verknüpfung von didaktischem und beratendem Handeln wird hier auf der Sozialebene die biografische Situiertheit des Subjekts nicht ausdif-ferenziert. Die Verknüpfung zwischen formalen und materialen Aspekten im Beratungsgespräch steht im Vordergrund, während biografische The-matisierungsperspektiven der zu Beratenden konzeptionell kaum in den Blick genommen werden.

Lernberatung im Modus der situativen Fallarbeit legt den Schwerpunkt auf die situative Reflexion von Lernprozessen von Teilnehmenden und verknüpft didaktisches und beratendes Handeln über eine situative Per-spektive. Konzeptionell weniger beleuchtet wird, wie hier auf der Zeite-bene begründet werden kann, wann welche Form von Lernberatung not-wendig erscheint.

Der Erkenntnisgewinn dieser Systematisierung und das Potenzial dieser Per-spektive besteht in einer Erweiterung und Ergänzung handlungstheoretischer Ordnungen, mit denen beispielsweise kompetenz- von defizitorientierten Konzepten unterschieden werden können. Gerade für den Untersuchungs-gegenstand „Lernberatung“, bei der didaktisches und beratendes Handeln in Verbindung gesetzt werden, bietet eine systemtheoretisch fundierte Analyse den Mehrwert, diese Verknüpfungen als Relationierung von Sinndimensio-nen differenziert erfassen zu könSinndimensio-nen und damit Anschlussmöglichkeiten für weitere Formen der Lernberatung bereitzustellen.

Eine solche Systematisierung dient auch der konzeptionellen Weiter-entwicklung von Konzepten der Lernberatung. Schließlich ermöglicht eine bewusste Entscheidung zwischen verschiedenen Konzepten eine präzisere Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung von Lernberatungskonzepten als bisher möglich. Allerdings wäre es dazu hilfreich, Konzepte von Lernbera-tung stärker als bisher auf unterschiedliche Zielperspektiven zu beziehen, die durch Lernberatung direkt oder indirekt erreicht werden sollen. Schließlich kann Lernberatung sehr unterschiedlichen Zielperspektiven dienen: Sie kann die Anschlussmöglichkeit von Menschen an gesellschaftliche Bedarfe erhö-hen, etwa wenn es darum geht, Migrantinnen und Migranten eine Lernbe-ratung zukommen zu lassen oder zu gering Qualifizierte weiter zu schulen.

Gleichzeitig kann es aber auch um eine unspezifische Wertschöpfung durch ein Mehr an Bildung gehen. Angesichts der immer geringeren Halbwertzeit von Wissensbeständen kann durch Lernberatung auf einen Qualifizierungs-bedarf reagiert werden. Gerade in Kontexten allgemeiner Lernberatung mag

es auch darum gehen, den Umgang mit divergierenden Wissensbeständen einzuüben, die durch gesellschaftliche Pluralisierungsformen bedingt sind.

Diese jeweils unterschiedlichen Zielperspektiven von Lernberatung mögen – vermutlich auch noch je nach Inhaltsgebiet divergierend – unterschiedliche Formen von Lernberatung bedingen. Dieses konzeptionell deutlicher heraus-zuarbeiten und durch Forschung zu unterfüttern, ist jedoch nach wie vor ein Desiderat.

Eine konzeptionelle Weiterentwicklung der Lernberatung durch die Schärfung der jeweils verschiedenen Modi dürfte auch einen wichtigen Bei-trag zur Professionalisierung des Feldes leisten. Bisher ist die Lernberatung ein Arbeitsfeld mit sehr unklarem Qualifikationsprofil und unbestimmtem Qualitätsmanagement. Erst eine konzeptionelle Präzisierung würde es er-möglichen, hier Qualitätsstandards zu entwickeln und bei den tätigen Profes-sionellen als Qualifikation einzufordern.

Da es sich bei den vorgestellten Erkenntnissen um die Ergebnisse einer explorativen Analyse handelt, werden im Folgenden Anschlussmöglichkeiten für die weitere Forschung herausgearbeitet.