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Das Pilotprojekt Bildungsberatungs-Radar – Bildungsbarrieren sichtbar machen

3. Aufgaben- und Rollenklärung professioneller Beratung

Während der Umsetzung des Pilotprojektes hat sich auch außerhalb des Lan-desnetzwerkes im Feld der Bildungs- und Berufsberatung ein großes Inter-esse an dem Projekt gezeigt. Die Regelungen und Grenzen im Bildungs- und Fördersystem und die einrichtungsübergreifende Reflexion der gesellschaftli-chen Rolle und Position von Bildungsberatung sind demnach Themen, welche die BeraterInnen in ihrer alltäglichen Beratungsarbeit beschäftigen. Im Mit-telpunkt steht dabei das Bedürfnis, der „Ohnmacht“ individueller Beratung entgegenzuwirken, indem das in der Beratung generierte Wissen wirksam auf struktureller Ebene weitergegeben und damit die eigene Handlungsfähigkeit und die der KlientInnen erweitert wird. Aus beratungstheoretischer Perspek-tive greift das Pilotprojekt durch die Verständigung über einen gemeinsamen Beratungsbegriff und die Formulierung eines klaren Selbstverständnisses bzw. einer transparenten Rolle und Aufgabe in der Gesellschaft die wissen-schaftliche Debatte zur Professionalisierung auf. Nachfolgend werden die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt hinsichtlich dieser Entwicklungen reflek-tiert und die Ergebnisse in Bezug auf die Professionalisierung von Beratung dargestellt.

Der Bildungsberatungs-Radar unterstützt zunächst als gemeinschaftlich entwickeltes und durchgeführtes Projekt die überinstitutionelle Zusammenar-beit zwischen den Einrichtungen, welche in Österreich in Netzwerken struk-turiert wird. Die Identifikation von Fällen mit Systemrelevanz, die Analyse und die Entwicklung von Handlungsempfehlungen setzt ein gemeinsames Beratungsverständnis und übereinstimmende Zielsetzungen voraus, welche für jeden Fall neu verhandelt und konkretisiert werden müssen. Sultana (2017) beschreibt für einen emanzipatorischen Ansatz in der Karriereberatung die

Verpflichtung für Mitglieder einer Profession „einen Standpunkt zu beziehen, der sich grundlegend der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet sieht“ (ebd.: 27).

Das Pilotprojekt macht deutlich, dass dieser gemeinsame Standpunkt im Feld der Bildungs- und Berufsberatung nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann. Stattdessen sind systematische Kommunikationsstrukturen erforder-lich, um eine kritische Auseinandersetzung mit den „Paradoxien des Feldes“

(Enoch 2013: 191) zu ermöglichen. In Abhängigkeit von den institutionellen Anforderungen, den Erwartungen der KlientInnen und den Ansprüchen der BeraterInnen können unterschiedliche Zielsetzungen auf struktureller Ebene verfolgt werden. Es kann sich dabei um eine anwaltschaftliche Intervention im Interesse der KlientInnen handeln, um die (Wieder-)Herstellung sozialer Gerechtigkeit für eine größere Gruppe von Betroffenen oder um die Verbes-serung zukünftiger Beratungssituationen durch die Schaffung systematischer Wissensbestände für die BeraterInnen. Obwohl die Zielsetzungen größten-teils übereinstimmen oder sich gegenseitig beeinflussen, zeigt sich aus der Erfahrung der Pilotphase auch ein möglicher Widerspruch zwischen die-sen Zielen. Die Komplexität der Aushandlung von Zielsetzungen wird bei-spielsweise deutlich, wenn eine Angleichung von gesetzlichen Regelungen in verschiedenen Bundesländern in Einzelfällen auch zum Nachteil von Kli-entInnen führen kann. Voraussetzung für die Formulierung von gemeinsa-men Zielsetzungen ist eine systematische Einbindung von Reflexion als ein mehrstufiges Verfahren von der Fallbesprechung über die Supervision bis zur fachöffentlichen Diskussion. Die wissenschaftliche Begleitung bildet hier eine zusätzliche Reflexionsebene, die unabhängig vom Handlungsdruck der konkreten Beratungssituation neue Perspektiven eröffnen kann (vgl. Schröd-ter 2014: 811f.). Der Bildungsberatungs-Radar bietet durch den zyklischen Forschungsprozess von Reflexion und Aktion eine Struktur für die Entwick-lung eines überinstitutionellen Selbstverständnisses und von Zielsetzungen im Feld der Bildungs- und Berufsberatung, welche aufgrund der heterogenen Angebotsstruktur nicht selbstverständlich sind.

Seel (2013) beschreibt die Entwicklung einer anerkannten gesellschaftli-chen Rolle und Position von Beratung als eines der größten Problemfelder in der Professionalisierung von Beratung. Eine Profession setzt demnach auch die Übernahme von gesellschaftlichen Aufgaben voraus (vgl. ebd.: 1653). Der Bildungsberatungs-Radar ermöglicht eine gesellschaftliche Positionierung, indem er über die individuelle Ebene zur Unterstützung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit hinausgeht und stattdessen die gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen von Beratung fokussiert. Dieser kritische Ansatz entspricht der Zielsetzung der Aktionsforschung, konkrete Veränderungen in der Praxis zu bewirken (vgl. Bortz/Döring 2003: 345). Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt zeigen, dass damit jedoch auch neue Aufgaben und Heraus-forderungen der Abgrenzung für die BeraterInnen verbunden sind. Besonders deutlich wird die Notwendigkeit von klaren Grenzziehungen bei den

Rück-meldungen an relevante AkteurInnen als Intervention. Zur „Entlastung“ der BeraterInnen übernimmt hier die wissenschaftliche Begleitung eine wichtige Funktion durch die Aufbereitung und Kommunikation der Ergebnisse. Ent-sprechend dem methodischen Zugang der Aktionsforschung ist damit auch ein verändertes, emanzipatorisches Verständnis der wissenschaftlichen For-schung verbunden (vgl. ebd.: 344). Während in Österreich die Beratungsfor-schung bisher vor allem Aufgaben in der Begleitung der Beratungspraxis mit Schwerpunkt auf der Wissensaufbereitung und Ausarbeitung begrifflicher Differenzierungen übernommen hat (vgl. Gugitscher et al. 2018: 144f.), erhält sie dadurch eine explizit gesellschaftskritische Rolle:

„Notwendig ist dafür eine Beratungswissenschaft, die sich nicht darauf beschränkt, Bera-tung zu optimieren, sondern darüber hinaus aus BeraBera-tungserfahrungen gesellschaftliche Problemlagen systematisch herausarbeitet, d. h. Erfahrungen aus den einzelnen, indivi-duellen Beratungskommunikationen im Sinne einer gesellschaftskritischen Analyse auf der Makroebene verwertet und in politische Diskurse über die Möglichkeiten gelingender Lebensgestaltung einfüttert“ (Seel 2013: 1658).

Wissenschaftliche Forschung setzt in dem Pilotprojekt an der Schnittstelle zu den gesellschaftlichen Bedingungen an und stellt eine Verbindung zu den AdressatInnen und zur (Fach-)Öffentlichkeit her. Die Begleitforschung wird hier zu einer kritischen Beratungsforschung, indem Beratungsrealität durch die gemeinsame Analyse in strukturelle Zusammenhänge eingeordnet und Bildungs- und Berufsberatung in ihrer gesellschaftlichen Funktion als „Auf-klärungsinstanz“ (Enoch 2013: 194) nicht nur auf individueller, sondern auch auf struktureller Ebene unterstützt wird (Hofer/Wimplinger 2017: 23f.).

4. Ausblick

Der Bildungsberatungs-Radar zeigt auf, wie durch die Übernahme gesell-schaftlicher Aufgaben im Sinne eines „Ortungs- und Erkennungsverfahrens“

das durch die Beratung generierte Wissen und die Expertise der BeraterInnen für das System der Erwachsenenbildung nutzbar gemacht werden können.

Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt machen jedoch zugleich deutlich, wie wichtig eine transparente Rollen- und Aufgabenklärung für die Umsetzung einer professionellen Beratung ist. Die Beratungsforschung erhält hier einen explizit gesellschaftskritischen Auftrag. Das Pilotprojekt zielt demnach nicht auf ein zusätzliches Aufgabengebiet von BeraterInnen im Feld der Bildungs- und Berufsberatung ab, sondern auf eine Auseinandersetzung mit der eigenen professionellen Rolle innerhalb der Rahmenbedingungen und der bewussten Abgrenzung einer gesellschaftskritischen Bildungs- und Berufsberatung ge-genüber Formen der Organisations- oder Politikberatung.

Aus erwachsenenpädagogischer Perspektive bietet das Projekt Bildungs-beratungs-Radar mehrere Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.

Der Bildungsberatungs-Radar richtet den Blick auf strukturelle Bildungs-barrieren und gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen und stellt damit ein zusätzliches Evaluierungs- und Qualitätsförderungsinstrument für ein lernendes System der Erwachsenenbildung dar. Insbesondere für Weiter-bildungseinrichtungen kann der Bildungsberatungs-Radar nützliche Infor-mationen über die Nachfrage von Weiterbildungen oder Hindernisse für die Inanspruchnahme von Angeboten zur Verfügung stellen. AdressatInnen des Bildungsberatungs-Radars stellen jedoch nicht nur Politik, Verwaltung, Bil-dung und Betriebe dar, sondern auch das Beratungssystem selbst, welches kritisch hinterfragt und weiterentwickelt wird.

Der Bildungsberatungs-Radar steht nicht zuletzt für einen Perspektiven-wechsel, indem Beratung als Generierung von zielgruppenspezifischem Wis-sen verstanden wird. Der strukturierte Prozess des Bildungsberatungsradars ermöglicht damit auch einen Rahmen für die überinstitutionelle Systemati-sierung von Wissensbeständen. Durch die Dokumentation und Aufbereitung bestehender und neuer Wissensbestände erfolgt eine Anerkennung der spe-zifischen Expertise der BeraterInnen. Der Bildungsberatungs-Radar stellt damit eine mögliche Lernquelle für BildungsberaterInnen dar. Mit Bezug auf die von Käpplinger und Maier-Gutheil (2015) formulierten Herausfor-derungen für die Beratungsforschung (vgl. ebd.: 178) könnte der Bildungs-beratungs-Radar damit eine systematische und kontinuierliche Verbindung von Forschungsergebnissen und der Aus- und Fortbildung von BeraterInnen ermöglichen. Voraussetzung hierfür bleiben jedoch Förderkontexte, die den Freiraum für innovative Entwicklungen aus der Beratungspraxis heraus er-möglichen.

Literatur

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