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Bildung, Beratung, Bewegung – Die Steuerung der Bildungsreise zwischen Apodemik und

euro päischer Mobilitätspolitik

1. Einleitung

Der Beitrag thematisiert die Frage, wie (Bildungs-)Reisende in informellen Kontexten Rat für ihr Reisevorhaben finden und wie durch unterschiedliche Modi von Beratung subjektive Reiseerfahrungen vorstrukturiert werden. Da-für wird ein weiter Begriff von Beratung zugrunde gelegt, der Beratung nicht an formale, professionelle (pädagogische) Settings bindet, in denen sich Bera-tende und Ratsuchende gegenüberstehen, sondern diese überall dort verortet, wo sich Subjekte externe Expertisen oder Dienstleistungen als Hilfe zur Be-arbeitung individueller Sorgen aneignen.

Dieser Wandel von Beratung lässt sich auch in der sozialen Praxis des Rei-sens im Streben nach Bildung aufzeigen. Dabei stellt sich die Frage, wie und in welchen Formaten subjektive Bewegung, als Scharnier zwischen Bildung und Reisen, „richtig“ eingesetzt wird, um dem Anspruch der Bildung auf Rei-sen zu entsprechen (vgl. Schroeder 2009). Beratung zielt in diesem Kontext demgemäß auf subjektive Mobilitätskompetenzen.

Reiseberichte und Reiseführer sind hierfür bereits seit Jahrhunderten ein Medium der Beratung. Entlang einer machttheoretischen Perspektive kann konstatiert werden, dass veränderte Subjektivierungsformen dabei stets neue Möglichkeiten der Beratung von Reisenden durch die Vermittlung von Wis-sen oder veränderte Formen der Adressierung von potentiell ReiWis-senden evo-zieren.

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Verbindung von Reisen, die in der Er-wartung von Bildung angetreten werden, und Beratungsformen, in denen die Frage, wie sich Subjekte auf Reisen bewegen können oder sollen, bearbeitet werden. Ich werde darauf eingehen, wie und wodurch auf Subjekte von Be-ratung in ihren subjektiven Aneignungsprozessen von Welt durch BeBe-ratung eingewirkt wird, welche Verschiebungen sich im Rat zum richtigen Reisen zeigen und wie ein erwachsenenbildungsforschender Beratungsbegriff dies reflexiv aufnehmen kann.

Dazu werde ich zunächst eine bildungstheoretisch-ideengeschichtliche Perspektive auf den Nexus Bildung-Reisen entwickeln, welche die Kategorie der Bewegung als Verbindung setzt (2.). Darauf folgt eine Thematisierung von Beratung, bei der diese unter der doppelten Differenz von Rat und Tat

sowie Selbst- und Fremdbestimmung betrachtet wird (3.). Diese Bindung von Bildungsreisegeschehen an Beratungsakte werde ich im Folgenden anhand der Apodemik, einer im 16. Jahrhundert entstehenden Kunstlehre des rich-tigen Reisens, darstellen (4.). Davon ausgehend endet der Beitrag mit einer Reflexion des (Bildungs-)Beratungsbegriffs im Kontext von Bildungsreisen vor dem Hintergrund einer Thematisierung der Mobilitätspolitik der Euro-päischen Union als aktueller Form der Adressierung potentieller Bildungs-reisender (5.).

2. Bildung, Reisen und Bewegung

Die Verbindung von Bildung und Reisen zu untersuchen mag zunächst we-nig innovativ wirken, da beide Konzepte fast schon „natürlich“ aneinander gekoppelt zu sein scheinen. Die romantisierende Grundannahme fußt dabei darauf, dass das Reisen die Wahrnehmung von „irritierender Fremdheit“

(Schäfer 2011) ermögliche, Subjekte dadurch in Differenz zu ihren gewohnten Selbst- und Weltverhältnissen treten und im Zuge dessen ein reflexives Ver-hältnis zu sich selbst entwickeln können, welches transformative Bildungser-fahrungen (u. a. Koller 2012) zu evozieren vermag.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte des (Bildungs-)Reisens, zeigt sich, dass das Reisen historisch über einen langen Zeitraum primär funktio-nal-materiell bestimmt wurde. Die Legitimierung der Bewegung konnte da-bei nur durch das Erfüllen mit ihr verbundener politischer, ökonomischer oder militärischer Zwecke erfolgen (vgl. Hlavin-Schulze 1998). Die ideelle Zusam-menführung von Bildung und Reisen als „nicht-utilitäres“ Phänomen (Stagl 2002, 71) entpuppt sich so als moderne Erfindung, die erst auf der Grundlage eines Fortschritts an materiellen und technologischen Ressourcen sowie einer Erhöhung unterschiedlicher Qualifikationsbedarfe in bestimmten Bereichen erklärbar wird (ebd.). Die ideengeschichtliche Zusammenführung der Leit-kategorien ergibt sich dabei aus der jeweiligen Referenz auf das Moment der Bewegung (vgl. Hlavin-Schulze 1998: 17ff), aus der Notwendigkeit des phy-sischen Bewegens beim Reisen sowie der theoretisch-ideellen Ausprägung eines spezifischen Begriffs von Bildung.

Bildungstheoretisch zeigen sich Bildung und Bewegung so bei Wilhelm von Humboldt in der dritten Bestimmung der Wechselwirkung von Ich und Welt als rege verbunden. Während die beiden übrigen Bestimmungen vor allem die Vielfältigkeit der Beschäftigungen mit Welt (allgemein) sowie die äußeren Ermöglichungsbedingungen von Bildungsprozessen (frei) thema-tisieren, beschreibt Humboldt mit dem Attribut rege den Prozesscharakter von Bildung als bewegt (Humboldt 1793: 236). Ex negativo findet sich diese

Denkfigur von Bildung als bewegter Tätigkeit auch in Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung, in welcher er den von ihm konstatierten Zustand von Halbbildung als degenerierter Bildung u. a. über die Zuschreibung ei-ner defensiven Haltung des Stillstands, also über das Fehlen von Bewegung, charakterisiert (Adorno 1972: 108). In beiden Fällen bietet das verwendete bildungstheoretische Vokabular Anschlussmöglichkeiten für die Vorstellung, Bildung sei über das Mittel der Reise zu „erreichen“.

Aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive zeigt sich zudem ein Wandel darin, wie Bildung und Reisen historisch zueinandergefunden haben. Bil-dung und Reisen wurden seit der Spätrenaissance für höchst differente sozi-ale Gruppen in unterschiedlichen Reiseformen möglich (vgl. Hlavin-Schulze 1998). Die jeweiligen Ansprüche an Bildung unterschieden sich entsprechend.

So ist es naheliegend, dass die Grand Tour der jungen Adligen Europas in der Renaissance sich so sehr von den heutigen Erasmus-Studierenden unterschei-det, wie dies bei der Walz im 18. oder den politischen Wanderbewegungen des 19. Jahrhunderts der Fall ist (ebd.).

Gleichzeitig wird daraus ersichtlich, dass das, was jeweils als Bildung galt, nicht für alle zu allen Zeiten in gleichem Maße einlösbar war und ist.

Mit Bildungsreisen gehen stets auch Sorgen oder Unsicherheiten über den sinnvollen Gebrauch subjektiven Mobilitätspotentials einher. Bildungsreisen sind so in einem Doppelsinn auf die Kategorie der Sicherheit verwiesen: Rei-sen stellten über einen historisch langen Zeitraum zunächst ein Risiko für die leibliche Sicherheit dar. Reiseanleitungen dienten so dem Ziel des unge-fährlichen Reisens. Sicherheit beschreibt jedoch auch die Gewissheit über die Richtigkeit des Reisens. Es geht im Kontext Bildungsreise nicht nur um bloße Bewegung, sondern eben um das richtige Bewegen der Richtigen zum richti-gen Zweck. Akteur*innen der Vermittlung von Sicherheit richten sich hier auf Sorgen über die potentielle Uneinlösbarkeit des Erfahrenen. Daran schließen sich Fragen der Anerkennung des Reisens an, was sowohl die Resonanz im sozialen Umfeld als auch den Kontext formaler oder informeller Qualifizie-rungsbestrebungen tangiert. Bildungsreisen werden über diese Unsicherhei-ten somit auch Gegenstand des Suchens und Findens von Rat, was sie für Beratungskontexte zugänglich macht.

Die in Bildungsreisen zum Ausdruck kommenden Formen von Bewegung sind so stets im Spannungsfeld von Individualisierung und Zertifizierung zu betrachten. Keine Reise ohne mich selbst zu einem Anderen, einem Besseren zu entwickeln – keine gelungene Reise ohne die Anerkennung, mich zu einem Anderen, Besseren entwickelt zu haben. Reiseberatungen können dem sich in Sorge um die Richtigkeit seines Bildungsreisens befindlichen Subjekt helfen, indem sie eine Richtschnur anerkennungsfähigen Bildungsreisens anbieten.

Folgt das Subjekt ihrem Rat, so steht diese Ausrichtung an Direktiven jedoch in Gegensatz zu einer Vorstellung des Bildungsreisens, welche vor allem die Spontaneität der Erfahrung hochschätzt und sich demgemäß nicht unter das

Regiment einer Reiseleitung begeben kann. Innerhalb dieses Spannungsfelds lässt sich auch der Zusammenhang von Bildungsreise und Beratungsgesche-hen im Folgenden verorten.