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Erfolgsorientiertheit: Sozialisation in der Samurai-Familie

4 Technologie- und Wissenstransfer durch die Absolventen der Ingenieurschule der Yokosuka-Schiffswerft am Beispiel von

4.2 Samurai-Ethos als Grundlage des erfolgreichen Technologie- und Wissenstransfers in der politischen Übergangszeit Japans

4.2.3 Erfolgsorientiertheit: Sozialisation in der Samurai-Familie

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(Shimada 1997:73), wodurch Kinmonths Vermutung von dem propagandistischen Versuch der Kanalisierung von kriegerischen Energien bestätigt wird.

Ob Kawashima und Tatsumi diese Gakumon no susume ‚Die Ermunterung zum Wissen‘ gelesen haben oder nicht, ist nicht bekannt. Da sie zu der kleinen, bereits damals westlich ausgebildeten Elite gehörten, liegt die Vermutung nahe, dass sie die Schriften ohne Problem hätten lesen können. Im Falle, dass sie diese Möglichkeit wahrgenommen hätten, hätten sie ihren eigenen Weg durch Fukuzawas Aussagen bestätigt gefunden. Das Interesse an den westlichen Wissenschaften stieg umso mehr, je singulärer dieser Weg als einzig möglicher zu gesellschaftlichem Erfolg dargestellt wurde. Die Idee zur Selbstständigkeit und zum Erfolgreicsein in der Gesellschaft war jedoch für den Samurai-Stand kein Novum. Tatsumi und Kawashima waren nicht nur durch ihr Interesse am westlichen Wissen und ihren Lernfleiß geprägt, sondern ebenso nachhaltig vom Samurai Ethos durchdrungen.

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4.2.3.1 Beziehung zwischen Eltern und Kind in einer Samurai-Familie

Tatsumi Hajime und Kawashima Chūnosuke waren in einem für den Samurai-Stand spezifischen ie (Haus-)System aufgewachsen. Ie (Haus) ist ein Mikrokosmos der konfuzianischen Staatsphilosophie, die auf eine möglichst reibungslose politische Führung abzielte. Zu Beginn der Edo-Zeit war die Staatsphilosophie des Tokugawa-Shōgunats die neo-konfuzianische Schule des Chu Hsi (Zhu Xi). Diese Schule war durch den Einfluss des Taoismus und des Buddhismus charakterisiert und stark metaphysisch geprägt. Kurz zusammengefasst lässt sich der Neo-Konfuzianismus anhand von zwei zentralen Merkmalen charakterisieren (vgl. Paul 1986:30-31):

1. Verbindung des kosmischen Gesetzes mit der menschlichen Moral durch metaphysische und mystische Elemente bzw. mit der Doktrin von Yin und Yang und den Fünf Elementen (Wasser, Feuer, Holz, Metall, Erde).

2. Postulat des ontologischen Dualismus zwischen ri (Prinzip) und ki (Materialenergie) und die damit verbundene universale Gültigkeit der menschlichen Wahrhaftigkeit und Treue.

Die konfuzianische Staatsphilosophie legt so den Schwerpunkt auf die Harmonie, als Einklang im ganzen Universum, welcher die Natur und Menschheit gleichermaßen einschließt (Schründer-Lenzen 1996:11). Nach dieser Lehre entsprechen menschliche Beziehungen genau der Gesetzmäßigkeit des Universums, das in einer festen Ordnung vorbestimmt und nicht veränderbar ist. In der häuslichen Sphäre fand dieses Gedankengut in der hierarchischen Ordnung zwischen dem Vater und dem Sohn, dem Mann und der Frau, dem Familienoberhaupt und den Familienmitgliedern seinen Niederschlag (Herold 1993:44).

Diese Ordnung sollte durch die konfuzianisch-ideologischen Instrumente Loyalität und kindliche Pietät bewahrt werden. Die Stabilisierung der Ordnung führte zum Gedeihen der Familie und so zur Aufrechterhaltung der Familienehre. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind war so in eine patriarchalische Ordnung eingebettet. In dieser stark hierarchisch geprägten Ordnung kam der Kontakt des Kindes mit dem Vater allerdings erst im relativ fortgeschrittenen Alter zustande. Bis zum Alter von ca. sieben Jahren blieben die Kinder bei der Mutter, die die Rolle der häuslichen Erziehung für das alltägliche Leben übernahm. Der Vater war dagegen zuständig für die Ausbildung der Erwerbsfähigkeit (Herold 1993:42).

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Tatsumi und Kawashima erlebten in ihrer Kindheit vermutlich eine intensivere Beziehung zu ihren Vätern als Bezugsperson, da ihre Mütter früh gestorben waren. In einem Brief von Tatsumi an seinen Vater, den er ihm nach der Ankunft in Tōkyō bei seiner Reise zur Ingenieurschule der Yokosuka-Schiffswerft schickte, schrieb er, dass er seinem Vater auch noch ein Päckchen mit Süßigkeiten sende. Dies bestätigt eine enge und gute Beziehung zu seinem Vater (Tatsumi 1999:5). Diese Beziehung zwischen Vater und Sohn hat wahrscheinlich zur Verinnerlichung des konfuzianisch geprägten ie (Haus-)Systems, das ein konstitutives Element des Samurai-Ethos ausmachte, wesentlich beigetragen.

4.2.3.2 Erwartung der Eltern an die Kinder in einer Samurai-Familie

Erwartet wurde von einem Sohn in einer Samurai-Familie die Bewahrung der tradierten Familienehre. Das konfuzianische Instrument zur Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung, ‚kindliche Pietät gegenüber den Eltern‘, drückte die Erwartung der Eltern gegenüber ihren Kindern deutlich aus. Zur kindlichen Pietät gehörte vor allem der Begriff risshin (Erwerb eines hohen Ranges in der Gesellschaft) oder auch risshi (Ambition zur Selbstständigkeit). Da das Individuum und die Familie im konfuzianischen Universum eng verbunden waren, bedeutete der Erwerb eines höheren Ranges von Seiten der Kinder Ruhm für ihre Familie bzw. ie (Haus) zu erwerben. Eine solche Tat des Kindes zum Ruhm der Familie galt als die größtmögliche kindliche Pietät gegenüber den Eltern und ihren Vorfahren (vgl. Kinmonth 1981:56-57).

Der Begriff risshin (Erwerb eines hohen Ranges in der Gesellschaft) wurde zunächst in der ‚Lehre der kindlichen Pietät‘ des Konfuzius verwendet (Asano 1995:166). Konfuzius predigte, dass die kindliche Pietät das Prinzip des Lebens ist und sowohl Beginn als auch Ende in diesem Prozess enthalten ist. Der Beginn der kindlichen Pietät war durch den sorgfältigen Umgang mit dem eigenen Körper, der als Gabe der Vorfahren verstanden wurde, charakterisiert. Die Verpflichtung zur kindlichen Pietät endete erst, wenn man nach einer verdienstvollen Lebensführung so berühmt wurde, dass der Glanz auch auf die Eltern fiel (Tanaka 2003:76).

Auf diese Weise erwarteten in einer von der konfuzianischen Ideologie geprägten Samurai-Familie die Eltern von ihren Kindern, dass sie in der Gesellschaft eine verdienstvolle Tat durchführten und einen hohen Rang erhielten. Tatsumi und Kawashima mussten sicherlich mit diesen Erwartungen ihrer Väter leben. Diese

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Ideologie bzw. die Tugend des Konfuzianismus, als ein Merkmal einer Samurai-Familie, wurde 1871 durch die Veröffentlichung eines aus dem Englischen übersetzten Buches wieder neu bewusst gemacht. Das Buch hieß ‚Self-Help‘ von Samuel Smiles und war von Nakamura Keiu übersetzt worden (Kinmonth 1981:23).

Dieses Buch wurde von vielen Samurai-Angehörigen, insbesondere von Beamten und Lehrern aus Samurai-Familien, gekauft. Der Grund, warum dieses Buch so großen Beifall fand, liegt wohl auch an dem von Nakamura Keiu ausgewählten japanischen Titel Saikoku risshi-hen, was als ‚Aufstiegswille in den westlichen Ländern‘ übersetzt werden kann. Das Wort risshi (persönlicher Selbstständigkeitswille bzw. Aufstieg aus eigener Kraft) verdeutlichte als Synonym des risshin (Erwerb eines hohen Ranges in der Gesellschaft) den Weg zum Erfolg in der Gesellschaft. Risshin ist die Erfüllung des Ziels ‚kindlicher Pietät gegenüber den Eltern’ und führte so zur Bewahrung der Familienehre.

'Self-Help' beschrieb die Bemühungen von einzelnen Menschen als die Essenz des Fortschritts in einer modernen Gesellschaft. Smiles legte dabei großen Wert auf die Ethik, die den Charakter der erfolgreichen Ingenieure und Techniker bilde. Solche, die Modernisierung vorantreibenden Menschen, seien von Tugenden wie Anstrengung, Fleiß, Sparsamkeit, Geduld und Aufmerksamkeit geprägt (Kinmonth 1981:12-13). Die Triebfeder zum Erfolg ist, laut Smiles, die Armut. Wenn man sich in der Armut befände, besitze man die erste Voraussetzung für späteren Erfolg (Kinmonth 1981:17).

Diese Botschaft Smiles erfreute sich aus zwei Gründen großer Beliebtheit bei den damaligen Samurai-Angehörigen. Das Buch fand einerseits großen Beifall bei den ehemaligen Kriegern, die durch die Meiji-Restauration ihr soziales Prestige verloren hatten. Zum größten Teil waren sie ehemalige Vasallen der Tokugawa-Regierung. Sie brauchten eine neue weltanschauliche Orientierung, die ihnen Wege aus ihrer Armut aufzeigte. Andererseits stimmte die von Smiles dargestellte ‚Charakter-Ethik‘ in vieler Hinsicht mit der konfuzianischen Ideologie überein. So war der Übersetzer Nakamura Keiu nicht zufällig offiziell eingestellter Shōgunats-Lehrer für Konfuzianismus bei der Tokugawa-Regierung gewesen (Kinmonth 1981:22).

Als dieses Buch veröffentlicht wurde (1871), absolvierten Tatsumi und Kawashima in der Ingenieurschule der Yokosuka-Schiffswerft das erste Schuljahr. Den Willen zum Aufstieg besaßen die beiden Ingenieur-Kandidaten bereits aufgrund der verinnerlichten

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Erwartungen ihrer Väter. Sowohl für Kawashima als auch für Tatsumi, die als Nachkommen der ehemaligen Tokugawa-Vasallen den Niedergang des Samurai-Standes erlebt hatten, war der Inhalt des Buches nachzuvollziehen.

4.2.3.3 Pädagogischer Inhalt und Erziehungsmethode und deren Bedeutung in einer Samurai-Familie

Der Inhalt der häuslichen Erziehung beruhte auf den Erwartungen, die die Eltern in ihre Kinder setzten. Aus hundert biographischen Büchern über die Samurai, die zwischen Mitte 1860 bis zu Beginn der Meiji-Zeit zu Hause erzogen worden waren, geht hervor (Kobayashi 1968:61), dass die am häufigsten erwähnten pädagogischen Ziele erstens Mut, zweitens die Bewahrung der Familienehre und drittens Selbstständigkeit waren (s.

Tab. 28). Diese Ziele sollten die risshin (persönlicher Selbstständigkeitswille bzw.

Aufstieg aus eigener Kraft) des Kindes fördern und so den Wiederaufbau oder die kontinuierliche Entwicklung der Familie gewährleisten. Die Erziehung in der Samurai-Familie war demnach ein Instrument, das ie (Haus-)System aufrechtzuerhalten.

Tab. 28: Häufig erwähnte pädagogische Ziele von hundert Samurai-Familien (Kobayashi 1968:61)

Pädagogische Ziele Häufigkeit

Mut 22

Bewahrung der Familienehre 18

Selbstständigkeit 18

Gehorsam 12

Respekt gegenüber Ahnen und Familiengesetz 10

Geduld 8

Ehrlichkeit 8

Geringschätzung von Geld 8

Fleiß und Sparsamkeit 6

Reinheit 6

Aufrichtigkeit 4

Seniorität 4

Verbot der Niederträchtigkeit 4

Loyalität gegen über den Herren 2

Standesgemäßes Verhalten 2

Dankbarkeit und Pflichtgefühl 1

Die Erreichung der Ziele wurde in aller Strenge verfolgt (Kobayashi 1968:58). So musste zum Beispiel ein Samurai-Kind bereits vor der Grundschule immer nach dem Frühstück so lange vor dem Vater kniend sitzen und ein Buch vorlesen, bis es wegen der Knieschmerzen anfing zu weinen (Kobayashi 1968:55). Auch die körperliche

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Züchtigung war als Unterrichtsmethode im Hause einer Samurai-Familie nicht unbedingt ausgeschlossen.

Tatsumi Hajime ist auch in diesem Sinne streng erzogen worden. Um seine Geduld zu fördern, musste er im Alter von ca. 8 Jahren im Winter für eine Jägergruppe des Kaga-Lehnstums mit der Laterne von ein Uhr nachts bis vier Uhr morgens die Straße erhellen. Dies wurde als Erziehungsmethode eingesetzt, um Kindern spielerisch Mut und Geduld beizubringen (Tatsumi 1999:3). Diese Erfahrungen bildeten die Basis für das spätere Lernverhalten Tatsumis. Ohne Durchhaltevermögen und überdurchschnittliche Lernfähigkeit war es für durchschnittliche Japaner nicht möglich, die mathematischen Grundlagen und die angewandte Mathematik des Schiffbaus in französischer Sprache zu lernen. Die in der Samurai-Familie verinnerlichte risshin-Ideologie blieb so von Generation zu Generation durch die Erziehung in der Familie bestehen. Der Aufstieg in der Gesellschaft war der Weg zum eigenen Erfolg und zugleich Zeichen der kindlichen Pietät gegenüber den Eltern.

Die Erziehung in der Familie ist eine weitgehend verborgene und doch zugleich die wirksamste Transferform des kulturellen Kapitals eines Standes (Bourdieu 1988:186).

Über diesen Weg wird das Kulturkapital überliefert und werden die in ihm immanenten Wahrnehmungs- und Denkschemata reproduziert. Die oben genannten drei Aspekte der Sozialisation des Kindes in einer Samurai-Familie beleuchteten die Gründe, warum Tatsumi und Kawashima auch in der neuen, modernen Gesellschaft erfolgreich agieren konnten.

Die pädagogischen Angelegenheiten in einer Samurai-Familie, insbesondere in denen der Tokugawa-Vasallen während der politischen Umwälzung, konzentrierten sich auf die Reproduktion der tradierten Samurai-Erziehung und so weiterhin auf eine karriereorientierte Elitebildung. Diese habituellen Grundlagen bildeten die Basis der Motivation zum Lernen und zur Arbeit der Ingenieur-Kandidaten und ermöglichten schließlich den erfolgreichen Technologie- und Wissenstransfer in der Ära der Meiji-Restauration in Japan.

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