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IV. Ziel und Aufbau der Dissertation

3. AUFFASSUNG DER GATTUNG DES PROPEMPTIKON IN

3.3. Grundbestand der Gedichttypen in den Dorpater Propemptika

3.3.2. Elegie

Die Elegie gehört in der ganzen europäischen neulateinischen Gelegenheits-dichtung, darunter auch in den Abschiedsgedichten zu den am weitesten verbreiteten Gedichttypen.189 Obwohl die hochgeschätzte zeitgenössische Poetik

187 Diese Darstellung wird von Rachelius später in seinen deutschsprachigen Satiren Gut und Böse (VV. 129–161) und Der Freund (VV. 73–204) wiederholt und scheint damit eher ein literarischer Topos als eine historische Quelle für die Erforschung der Universitätsgeschichte (weder der Rostocker wie bei Sach 1869: 7, noch der Dorpater) zu sein.

188 Wiegand 1984: 334–335 Anm. 2 hat versucht, den Unterschied in den Defini-tionen zweier Gattungen zu erklären. Bei der Behandlung der konkreten Gattungs-vertreter (U. von Hutten Elegie 2. 10. als Propemptikon und Epistulae Obscurorum Virorum 2.9. als Hodoeporikon) treffen seine Definitionen jedoch nicht ganz zu (1984:

54–57).

189 Im folgenden wird die Elegie als ein Gedicht behandelt, die sich nach dem Vorbild von Catull, Ovid, Tibull und Properz mit den Themen der leidenschaftlichen Liebe und Trauer beschäftigt, wobei das Metrum der Elegie das elegische Distichon ist, d.h. elegia propria (Ijsewijn und Sacré 1998: 80). Das Metrum und der elegische Inhalt sind bei dieser Definition von gleicher Bedeutung. Zur Entwicklung und Verbreitung

von J. C. Scaliger nicht erwähnt, dass die Elegieform auch für Propemptika verwendbar ist (Scaliger 1561: 169), verwenden über 80% der Propemptika in den Delitiae Poetarum Germanorum und Delitiae Poetarum Belgicorum den elegischen Gedichttyp. Unter den neulateinischen Geleitgedichten aus der schwedischen und norddeutschen Ostseeregion ist — ohne Berücksichtigung der Dorpater Abschiedsgedichte — ungefähr eine Hälfte in der Elegieform. Von den Dorpater neulateinischen Propemptika bilden die Elegien 20% (15 Ge-dichte), wobei die Elegieform in allen Propemptikasammlungen vorkommt.190 Dieser Gedichttyp wird in den Dorpater Abschiedsgedichten sowohl von den Studenten schwedischer als auch deutscher Herkunft kultiviert, insgesamt von 16 Personen (insgesamt haben in den Dorpater Propemptikasammlungen 54 Verfasser ihre Gedichte veröffentlicht). Die Dorpater Professoren verwenden diesen Gedichttyp in den lateinischen Gedichten aber nie — er scheint für sie zu gewöhnlich zu sein, so dass er in ihren elegischen Distichen nur mit dem Vergleich oder mit dem Anagramm kombiniert vorkommt (s. 3.3.1.2. und 3.3.3.). Mit dieser Wahl des Gedichttyps verknüpfte man sich in Dorpat eindeutig mit der Hauptströmung und verbreitesten Formtradition der gesamten europäischen neulateinischen Dichtung, ohne dass dabei unbedingt die konkreten Vorbilder aus der europäischen neulateinischen Propemptikon-dichtung befolgt worden wären.

Die Elegieform passt für das Propemptikon außerordentlich gut, weil beide gegensätzliche (oder sogar widersprüchliche) Gefühle äußern müssen — hier liegt einer der Gründe für die häufige Verwendung dieses Gedichttyps. Auf-grund der Bewegung des Grundtones und der Ausdrucksart des Gegensätzlichen sind die Dorpater Geleitgedichte dieses Gedichttyps in zwei Gruppen zu teilen:

a) die erste Gruppe bilden die Gedichte, in denen das durch die Struktur des Distichon geförderte Prinzip der Antithetik die Motivverwendung bestimmt hat (1.14 und 2.8). Im hexametrischen Vers wird der Adressat gelobt, im Penta-meter über seine Abreise geklagt (1.14.3/5191–12; 2.8.3–8). So wirken hier gegensätzliche affekterregende Motive mehrfach im einen Gedicht. Der Trostteil und damit die Affektstillung ist in diesen Gedichten nicht zu finden, dem Wechsel von Lob und Klage folgt gleich das Votum.

Im Klageteil dieser Gedichte wird manchmal ein Refrain verwendet: in 1.14 Livona terra vale.

b) in der zweiten Gruppe sind die Gedichte, in denen auch die antithetischen affekterregenden Motive die Spannungsart bedingt haben (1.9; 2.2; 3.2 und 3;

der Elegie sowohl in der Dichtungstheorie als auch Dichtungspraxis der frühen Neuzeit s. Ludwig 1976.

190 Sammlung 1. 9, 14; Sammlung 2.2, 8, 9, 10; Sammlung 3.2, 3, 4; Sammlung 4.7, 10, 12; Sammlung 5. 11; Sammlung 6.3, 4, 10.

191 In den Versen 3–4 wird die Abwechslung der gegensätzlichen Gefühle vorbe-reitet: quale eloquium? — eloquium vale[dictionis], was mit einer Inversion und einem Echo hervorgehoben ist (En tibi q u a l e , V a l e ).

4.7, 10 und 12; 5.11; 6.3, 4 und 10), und zwar so, dass diese Antithetik nur einmal im Gedicht wirkt und die Antithetik des Distichon übertrifft. Die Lob-motive gehen dem Klageteil voraus oder sind in den Klageteil eingefügt, der Klage folgt das Votum. Für diesen Typus sind von den stilistischen Mitteln be-sonders die enumeratio und verschiedene Arten der Wiederholung charakte-ristisch.

In den Dorpater elegischen Propemptika wurde das Bewusstsein von der Antithetik des gewählten Gedichttypes nicht nur durch die Wahl und Folge der propemptischen Motive manifestiert, sondern sogar mit dem Eingreifen in die humanistische Diskussion über die Herkunft der Elegie — war sie in ihren Ursprüngen ein Trauergedicht oder ein Liebesgedicht? — wörtlich bestätigt.192 Der dritte Vers des Propemptikon von Andreas Flojerus an Johannes Petreius (Sammlung 4.7) zeigt, dass die Theorie von J. C. Scaliger über die amantium commiserationes, d.h. eine Kombination der Trauer- und Liebeselegie als kombinierte Urform der Gattung in Dorpat bekannt war (Scaliger 1561: 169).

Dieses Geleitgedicht beginnt nach der Vorschrift J. C. Scaligers (1561: 156) mit einem argumentum a tempore, der Beschreibung der Reisezeit. Da die Abreise des Johannes Petreius am 22. Mai stattfand, ist am Anfang des Gedichtes eben die Frühlingszeit beschrieben. Der Dichter hat dazu die Frühlingsbeschreibung von Horaz c. 1.4.1. und c. 4.7.5–6 modifiziert:

Vesta soluta nive est, curat vitemque Priapus:

Cum Nymphis ducit Gratia nuda choros.

Der folgende dritte Vers scheint auf dem ersten Blick inhaltlich nicht ganz mit den vorhergehenden zusammenzupassen: die ganze Natur freut sich auf den Frühling, nur die Liebeslieder der (girrenden) Vögel sind eigenartiger traurig,193 ohne dass es mit einem adversativen sed oder at markiert wäre:

Gutture nunc q u e ru lo volucres modulantur Am o re s:

Die Traurigkeit der Liebeslieder der Vögel und damit das Fehlen des adversa-tiven sed oder at ist nicht mit der modernen Vorstellung vom Frühling als einer gewöhnlichen Zeit des Abschieds von einer Lehranstalt zu interpretieren. In der frühen Neuzeit war der Aufenthalt an einer Akademie wegen der akademischen Peregrinationen sehr biegsam gestaltet, die Immatrikulation und auch der Abschied konnte das ganze Jahr hindurch stattfinden (vgl. die Angaben zu dieser Praxis in Dorpat, Tering 1984). Die Erklärung zu dieser Stelle kommt aus

192 Zu dieser Diskussion s. Ludwig 1976: 173–177.

193 Das Wort querulus kann zwei Bedeutungen haben: 1) ‘girren’, 2) ‘beklagen’.

Dass querulo hier nicht nur auf das liebliche Girren der Vögel hinweist, zeigt die Parallelstelle 4.2.9 (nunc voveo querulo tibi eunti pectore Fratri/ Angelicos comites), in der der Verfasser seine (menschlichen) Trauergefühle beschreibt. Auch meine Übersetzung des Propemptikon 4.7. im Anhang I beruht auf dieser Bedeutungsvielfalt des Wortes querulus.

der humanistischen Poetik von J. C. Scaliger, da querulo einfach zusammen mit Amores durch eine Hypallage als ‘Elegie’ verstanden und übersetzt werden kann.194 Die Vögel singen im Frühling also Elegien, die aus einem traurigen und aus einem fröhlichen Element bestehen, und so wird die sonst frohe Frühlings-zeit (VV. 1–2) mit dem traurigen Abschied des Adressaten (VV. 4–6) geschickt verbunden. Das Propemptikon endet traditionell mit dem Votum.

Von den konkreten, gerade für den Typus Elegie charakteristischen Motiv-gruppen muss die Aufmerksamkeit auf zwei MotivMotiv-gruppen im Klageteil ge-wendet werden: auf die schetliastischen Motive und auf das patriae desiderium.

Der Schetliasmos (s. 3.2.3.2.) scheint in Dorpat in den Propemptikonformen außerhalb der Elegie eher zufällig verwendet worden zu sein. Neben den vier elegischen Beispielen kommen in den anderen Gedichtformen und -metren nur Einzelfälle der schetliastischen Motive vor: einmal im carmen Phalaeceum (1.10.27–28), einmal im episch-hexametrischen Gedicht (3.7.32) und einmal in der horazischen Ode (6.9. 7–8). Wegen der zu knappen Materialmenge kann diese Tendenz aber auch zufällig sein, besonders deshalb, weil in der Abschiedsdichtung der Ostseeregion diese Entwicklung nicht beobachtet werden kann.

Patriae desiderium im Abschiedsgedicht von A. Verginius (3.3.) ist aber sicherlich ein Motiv, das in den dichtungstheoretischen Schriften nicht als gattungstypisch für das Propemptikon empfohlen wird, für die Elegie aber typisch ist (Beispiele aus der neulateinischen Elegiepraxis s. IJsewijn und Sacré 1998: 82–83). Da der Adressat des Gedichtsbandes eine Studienreise in die Heimat des Dichters vornahm, wirkt diese Motivverwendung nicht befremdlich.

Nach der Anführung des Abreisegrundes des Adressaten (Divina voluntas VV.

15–16) wird das patriae desiderium des Adressaten geschildert und dazu Epistula ex Ponto 1.3.35–36 von Ovid zitiert (VV. 17–20). Im Vers 25, im Votivteil, kommt der Autor zum patriae desiderium zurück, und zwar jetzt vom

194 Die Beschreibung der Frühlingszeit am Gedichtsanfang hat in der Propemptikon-dichtung der Ostseeregion nicht viele vergleichbaren Beispiele (nur ein Gedicht in einer Rostocker Propemptikasammlung an Johannes Bothvidi Norcopensis; PROPEMPTI-KA 1616, Gedicht 5). Es kommt mehrmals in der Gedichtmitte als Aufruf die Reiseschiffe ins Wasser zu führen (Francofurtum Urbs 1631, V. 9; APOPEMPTI-KON 1638, Gedicht 11 V. 5; Illustrissimo /…/ Israeli Gherfelt 1653, VV. 57–60) oder als Vergleich vor (instar apis /…/ verno /…/ tempore; PROPEMPTIKA 1616, Gedicht 9, V.12). In der deutschen neulateinischen Geleitdichtung findet man berühmte Beispiele von Konrad Celtes Amores 1.3 und Petrus Lotichius Secundus Elegia 3.1, in denen zwar der abreisende Dichter selbst die Frühlingszeit und die astronomischen Zeichen dafür schildert. Das Propemptikon von Salomon Frencelius ist in toto auf dem Vergleich der Jugend des Abreisenden mit der schönen Abreisezeit aufgebaut. Auch im Votum wird dem Abreisenden empfohlen, seinen Lebensfrühling zu benutzen (Delitiae Poetarum Germanorum Bd. 3. S. 332). In keiner der genannten Parallelen singen die Vögel im Frühling jedoch traurig.

eigenen Blickpunkt aus. Das vorhergehende Ovidzitat wirkt jetzt auch auf seine Äußerung über das eigene Heimweh.

Die Elegieform zeigt sich in den Dorpater Abschiedsgedichte sehr flexibel:

besonders in den längeren Exemplaren der Dorpater elegischen Abschiedsge-dichte195 ist die Elegie mit anderen Gedichttypen und -elementen wie dem Anagramm, dem Gleichnis, dem Akrostichon196 oder dem Chronogramm kombiniert. In vielen Fällen dominiert dann das andere Element schon über das Elegische, so dass man diese Gedichttypen gesondert behandeln muss (s. 3.3.2, 3.3.3, 3.3.6). Nur ein Beispiel, in dem ein Dialog in die Elegie eingefügt ist (1.9.15–22), wird hier kurz behandelt, da dort das dialogische Element das elegische nicht übertönt. Der Dialog wird in diesem Gedicht nur als eine Frage des Gedichtautors und als Antwort des Adressaten gestaltet, aber das Ganze wird so in das Gedicht eingefügt, dass es genau in die Gedichtmitte gestellt ist (dem Dialog gehen 14 Verse voraus; es folgen eben 14 Verse). Der Mittelpunkt des Dialoges und damit auch des Gedichtes, VV. 17–18 enthält den Hauptgrund der Abreise: den Willen Gottes. Das ist der einzige Verwendungsfall des dialogischen Elementes in den Dorpater Abschiedsgedichten.197

Im Dokument IN DEN JAHREN 1632–1656 (Seite 97-101)