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Begriff der akademischen Gelegenheitsdichtung

Im Dokument IN DEN JAHREN 1632–1656 (Seite 32-35)

IV. Ziel und Aufbau der Dissertation

1. GRUNDZÜGE DER DORPATER AKADEMISCHEN

1.2. Grundzüge der Dorpater akademischen Gelegenheitsdichtung

1.2.1. Begriff der akademischen Gelegenheitsdichtung

In den bisherigen Arbeiten über die Dorpater akademische tung des 17. Jahrhunderts sind mit dem Begriff ‘akademische Gelegenheitsdich-tung’ nur die zu den Dorpater Dissertationen, Disputationen, Promotionen und Orationen geschriebenen Gratulationen bezeichnet (z.B. Webermann 1965: 221, Lepajõe 2000: 44). Diese enge Fassung der akademischen Gelegenheitsdichtung wurde von Webermann und Lepajõe der “Schäferpoesie” in Tallinn (Reval)

45 Vgl. die Universität Helmstedt, wo die Konfrontation zwischen dem Aristotelis-mus und dem kirchlich-platonischen Programm deutlich war (Henze 1990: 70).

entgegengesetzt,46 wobei unter dieser Poesie fast ausnahmslos nur die am Revaler Gymnasium geschriebenen Epithalamia verstanden wurden (z.B. Lepa-jõe 1994a: 604 und LepaLepa-jõe 1994b: 90–91, LepaLepa-jõe 2000: 45).47 Beide Defini-tionen erscheinen als zu eng.

46 Die “Schäferpoesiegesellschaft” nannte sich auch ‘Laaksberger Schäfer’ nach einem Ausflugsort in der Nähe von Tallinn (Reval), dichtete aber keine spezifisch

“pastorale” oder “bukolische” Dichtung in unserem Sinne des Wortes, sondern allgemeine Gelegenheitsdichtung (vgl. das grundlegende Werk von Grant 1965).

47 Eine Sammlung des Textcorpus der Revaler Gelegenheitsdichtung (oder wenigstens eine gründliche Bibliographie der Revaler Drucke) wäre äußerst nötig, um die Gattungsproportionen der dort gedichteten und gedruckten Gelegenheitsgedichte adäquat zu beurteilen (die Abhandlung von Robert 1991 über die Revaler Druckerei charakterisiert die Revaler Drucke nur in groben Zügen). In den bisherigen Abhand-lungen wird im wesentlichen nur auf eine einzige Quelle auf zwei Konvolute über-wiegend mit Epithalamia im Stadtarchiv Tallinn hingewiesen (Neus 1845: 795–796, EKA 1965: 164, Salu 1965: 143, Salu 1974: 45, Lepajõe 1994a: 604, Lepajõe 1994b:

91, Lepajõe 2000: 45), wobei zu zweifeln ist, ob wirklich alle Forscher über dieses Thema diese Sammelbände selbst überhaupt gesehen haben. Klöker 1998 hat zwar auch die Materialien aus der Staatsbibliothek Moskau bearbeitet, lässt aber die schwedischen Bibliotheken außer acht.

Schon ein oberflächliches vergleichendes Erforschen des Kataloges der Estnischen Akademischen Bibliothek in Tallinn/Reval zeigt, dass die Revaler Gelegenheitsdichtung nach den Gattungen bedeutend vielfältiger war (Epikedia, verschiedene Begrüssungs-gedichte, Gratulationen usw). In der Königlichen Bibliothek Stockholm wird eine bemerkenswerte Auswahl der Revaler Epikedia aufbewahrt (Kollektion Verser till och över enskilda). Revaler Epikedia gibt es auch in der Staatsbibliothek Moskau (Klöker 1998: 833–835). Auf die in Reval für Reiner Brockmann geschriebenen Geleitgedichte weist Lepajõe 2000: 257 hin. In Riga in der Lettischen Nationalbibliothek wird das in Reval gedruckte und einem ehemaligen Dorpater Studenten (Tering 1984: 143) gewidmete Propempticum in Honorem /…/ Conradi a Wangersheim /…/ aus dem Jahre 1638, in Uppsala ein vermutlich im Jahre 1635 in Reval gedrucktes Propemptikon von Paul Fleming (P. Flemingi Ode et propempticon Georgio Guilielmo Poemero Donata Moscoviae, A. MDCXXXIV. Revaliae: Chr. Reusner s.a.) aufbewahrt. Im Sammelband der Werke von R. Brockmann gibt es Hinweise auf zwei Revaler Propemptikasamm-lungen (2000: 84–85, 87 sowie 124–129), beide enthalten Abschiedsgedichte politischer Prägung (vgl. 3.2.1). In der Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars in Witten-berg sind vier Revaler Epithalamiasammlungen an Adam Herold aus dem Jahre 1684 zu finden. Also scheint es, dass auch in Reval alle typische Gattungen der Gelegenheits-dichtung vertreten waren und dass das überbetonte Hervorheben des Übergewichtes der Hochzeitsgedichte vor allem darin begründet, dass fast alle in Reval gedruckt erhalten gebliebenen estnischsprachigen Gelegenheitsgedichte Hochzeiten gewidmet sind und dass die nötigen umfassenderen Vorarbeiten immer noch fehlen. Möglicherweise konnte auch die Meinung von Ellinger (“den größten Raum innerhalb der Gelegenheitsdichtung nimmt die Hochzeitspoesie ein”, 1893: VIII) beim Entstehen dieser Auffassung mitwirken.

Bei dieser lokal-gattungsbestimmten Teilung erhebt sich vom Dorpater Blickpunkt aus die Frage: wie muss man andere an der Dorpater Akademie von den Mitgliedern der Akademie geschriebene und gedruckte Gelegenheitsge-dichte klassifizieren (z.B. Epithalamia, Epikedia usw)?48 Kann man im Werk eines Gelegenheitsdichters die akademischen Gelegenheitsgedichte von den unakademischen trennen?

Es gibt wesentliche Gründe, warum unter dem Begriff ‘akademische Gelegenheitsdichtung’ alle Gelegenheitsgedichte in verschiedenen Gattungen, die von den Mitgliedern oder für die Mitglieder einer Akademie geschrieben und/oder in der Universitätsdruckerei gedruckt wurden, verstanden werden können. Es handelt sich nämlich um die verschiedenen Bedeutungen des Wortes

‘akademisch’. Einerseits bedeutet ‘akademisch’ die Verbundenheit mit einer Akademie — in Dorpat mit der Academia Gustaviana — als einer bestimmten historischen ei nhei t li chen Lehranstalt mit ihren typischen Institutionen wie Fakultäten, Professuren, eigener Bibliothek und Druckerei (zum letzten s. z.B.

Martino 1978: 30, Jaanson 2000: 18/60) usw., mit ihren Mitgliedern und deren Alltagsleben in der lokalen res publica litterarum. Es sollte nicht unbeachtet bleiben, dass zu diesem Alltagsleben die Beerdigungen, Hochzeiten und Abreisen (also: Epikedia, Epithalamia und Propemptika) genauso gehört haben wie die Promotionen oder Disputationen (d.h. Gratulationen zu diesen An-lässen). Das kann man als einen formalen institutionsverbundenen Grund behandeln.

Zweitens bedeutet ‘akademisch’ die akademische Gelehrsamkeit. Um akademisch gebildet zu werden, musste man als Ziel des Poesieunterrichtes die Fähigkeit erreichen, Gelegenheitsgedichte aller Gattungen zu schreiben. So sind z.B. in einer der schon vorher genannten für die Dorpater Akademie vor-bildlichen Satzung, der Satzung der Akademie Uppsala aus dem Jahre 1625, auch Gattungen wie Epithalamia und Epikedia als Exercitia vorgesehen (s.o.

Anmerkung 19; Annerstedt 1877: 251). Diese Seite in der Bedeutung des Wortes ‘akademisch’ gibt uns also einen inhaltlich-unterrichtsbezogenen Grund,

48 Besonders schwankend bleibt bei einer solchen Definition die Position der Geleitgedichte; vgl. verschiedene deutsche und schwedische Abhandlungen: Ellinger (1893: XXV) z.B. zählt zu der akademischen Gelegenheitsdichtung auch die Geleit-gedichte. In der Literaturgeschichte von Merker-Stammler (Gramsch 1925–1926: 427) wird der Themenkreis der akademischen Gelegenheitsgedichte wieder mit den streng akademischen Ereignissen wie z.B. der Erlangung der Magisterwürde, der Promotion u.a. verbunden. Schon in der zweiten Auflage desselben Lexikons wird der Grund für die Geleitgedichte, d.h. die Abreise zu den akademischen Ereignissen genannt (Haller 1958: 547). Auch das ganz oberflächliche Werkchen von Buxtorf (1960: 118) scheint in einem Beispiel die Geleitgedichte zu der akademischen Dichtung gerechnet zu haben, obwohl er den Abschied unter den “markantesten Punkten im Leben” nicht erwähnt (1960: 48). Von den späteren Autoren behandelt z.B. Drees (1986: 117) die Propemptika als eine an das Universitätsmilieu gebundene Gattung.

um die Dorpater akademische Gelegenheitsdichtung neu zu begrenzen und zu definieren.

Es scheint also auch für Dorpat vernünftig, mit dem Begriff ‘akademische Gelegenheitsdichtung’ alle Gedichte in verschiedenen Gattungen und verschie-denen Sprachen zu bezeichnen, die in Dorpat während der ersten Arbeitsperiode der Akademie (1632–1656) von den Mitgliedern oder für die Mitglieder der Akademie bei verschiedenen Gelegenheiten geschrieben und in der Univer-sitätsdruckerei gedruckt wurden. ‘Akademisch’ als eines der wichtigsten Charakteristiken der Dorpater Gelegenheitsdichtung wird hier also ziemlich breit gesehen und nicht nur wie bisher auf die Gratulationen zu den Disputa-tionen, Promotionen oder zum Amtsantritt bezogen.

Damit wird es aber auch einleuchtend, dass auch an den Gymnasien (z.B. in Reval oder Riga) geschriebene Gelegenheitsdichtung in dieser zweiten Bedeu-tung akademisch, d.h. gelehrt war. Von der Dorpater akademischen Gelegen-heitsdichtung unterscheidet sie nur die rein institutionale außerpoetische Differenz zwischen dem Gymnasium und der Akademie als zwei Lehranstalten, die auf verschiedener Stufe den Unterricht und die wissenschaftlichen Grade ge-geben haben. In den poetischen Qualitäten unterscheiden sich die Dorpater und Revaler oder Rigaer Gelegenheitsdichtung nicht, die Vorbilder, die rhetorischen Grundlagen und das Ziel, zu der europäischen res publica litterarum zu gehören, waren ähnlich. Das hat den Mitgliedern der Academia Gustaviana ermöglicht, ihre Gedichte in den Sammlungen zu veröffentlichen, die am Revaler bzw. Rigaer Gymnasium gedruckt wurden, und vice versa.

1.2.2. Gattungsproportionen und -grenzen

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