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Die Einwölbung des Westteils

10. BAUPHASE 7 = VIERTE TURMBAUPHASE:

10.1 Die Einwölbung des Westteils

Spätgotische kompliziertere Gewölbeformen kommen auch im östlichsten Mittelschiffjoch und im Chorbereich vor. Sie haben aber mit denen im Westen keine Gemeinsamkeiten. Nicht nur die Grundrissprojektionen (Plan 8), auch die kräftigen Birnstabrippen des westlichsten Jochs und der Turmseitengewölbe unterscheiden sich merklich von den sonst untereinander ähnlichen Gewölbe-rippensteinen in der Kirche (vgl. Abb. 109, Plan 3). Deutlich anders sind auch die Mauerziegel aus denen die Gewölbekappen gemauert wurden. In den älteren Bereichen von Langhaus und Chor entsprechen die Gewölbesteine denen des aufgehenden Mauerwerks, im Westanbau wurden zum Gewölbebau eigene, sehr flache Backsteine mit einem durchschnittlichen Format von 66/264 mm verwendet, die aber immerhin in der Länge mit den Mauersteinen der Bauphase übereinstimmen.815 Die Baunaht zwischen Langhaus und Westanbau im Gewölbe liegt nicht genau in der Verlängerung der ehemaligen Westwand, sondern bereits an der letzten Pfeilerstellung davor. Die ursprünglichen Kreuzgewölbe des westlichsten Jochs wurden mit dem Abriss der Westwand aus der ersten Bauphase abgebrochen, um die gesamte Travée neu mit modernen Netz- und Sternrippenfiguren zu überwöl-ben (Pläne 8 u. 10). Nicht dazu gehört die erst 1893/94 ausgeführte Sternformation des Mitteljochs der Turmhalle.816 Sie unterscheidet sich mit ihren jeweils in einem Punkt entspringenden Stern-spitzen deutlich von den mittelalterlichen Gewölben.

Wie der obere Abschluss des Turmmittelschiffs ursprünglich beschaffen war, ist nicht überliefert und konnte aufgrund der jetzigen Gewölbedecke und des Fußbodenaufbaus des ersten Turmgeschosses noch nicht untersucht werden. 1818 wurde im Turmmittelschiff "in einer Höhe von 20 Fuß eine einfache Zwischendecke angelegt, so daß die Treppe zum Thurme verdeckt worden."817 Diese Formu-lierung deutet auf eine große Deckenöffnung, die den Blick auf die im ersten Turmobergeschoss beginnende hölzerne Treppe in den Turmschaft frei gab. Aufgrund der bauzeitlichen Durchgänge zwischen dem ersten Obergeschoss des Mittelturms und den Dächern der Turmseitenschiffe lässt sich die Lage des Fußbodens, der sicher gleichzeitig die Decke der mittleren Turmhalle bildete, ungefähr an der Stelle des heutigen Fußbodens im Turmobergeschoss vermuten. Es müssen zumin-dest verbindende Stege zwischen den beiden Turmseitenschiffdächern in rund 14 m Höhe vorhanden gewesen sein. Die restliche Fläche könnte aber offen gewesen sein und eine direkte Sichtverbindung

813 Vgl. ebd. und Aufmaß dieses Fensters von Barbara Perlich 2000 (archiviert im LDA Berlin).

814 So gedeutet von Dienstleistung Denkmal 2001, Bauforschungsbericht.

815 Einen vermutlich speziell für die Wölbung hergestellten Stein besaß auch die Prämonstratenserkirche Gramzow, deren nachträgliche Einwölbung von um 1517 (TL) stammt. Dazu Holst 2001, S. 176f.

816 Die Überdeckung der Eingangshalle mit einem Sterngewölbe wird im Genehmigungsschreiben der Königlichen Ministerial-Bau-Kommission zu den geplanten Baumaßnahmen an der Marienkirche vom 13. April 1892 erwähnt und offensichtlich 1893/94 ausgeführt. Zum Genehmigungsschreiben vgl. ELAB, Bestand 14, Nr. 3363, Bl. 59-64, abschriftlich in van den Driesch 2001, Teil II, S. 59.

817 Klein 1819, S. 20. Bei 20 Fuß (ca. 6,40 m) lag diese Zwischendecke knapp oberhalb des Westportals etwa auf Kämpfer-höhe der Pfeiler in der Turmhalle.

in die hölzerne Innenkonstruktion des Turms bestanden haben. In jedem Fall ist eine Deckenöffnung zum Läuten der Glocken vorauszusetzen.818

Im Unterschied zum Langhaus, wo die Kreuzrippengewölbe durch als Halbsäulenvorlagen ausgebil-dete, im unteren Viertel anlaufende Wanddienste vorbereitet sind und aus deren Kapitellen empor-steigen, beginnen die Netz- und Sternrippengewölbe des Westanbaus ohne großes Eingreifen in die Wandfläche auf Wandkonsolen in Höhe der Kapitellzone (vgl. Abb. 53 und 96). Fehlende Dienste entsprechen einer fortgeschrittenen Stilstufe der Spätgotik hin zu einer möglichst starken Raum-vereinheitlichung. Zu diesem Gedanken passt auch der Verzicht auf Schlusssteine, die durch Rippen-kreuzungspunkte aus Werkstein ersetzt wurden. Ohne Unterbrechung durchzieht so das Liniennetz der Rippen die Deckenzone. Gleich geblieben ist lediglich das verwendete Material. Analog zu den Schlusssteinen und Dienstkapitellen im Chor bestehen die Rippenkreuzungspunkte und alle Gewölbekonsolen des Westanbaus aus Kalkstein.

Sämtliche Konsolen wurden aus einem im Mauerwerk versetzten Kalksteinblock herausgearbeitet und weisen, mit Ausnahme der Langhauskonsole in der Südwestecke, in kleineren Variationen eine schiefwinkelig polygonale und nach unten spitz zulaufende Form auf (Abb. 270). Gut untersucht sind bislang die beiden Konsolen im Langhaus, die jeweils etwas abgerückt von der Raumecke eingebaut sind. Diejenige in der Nordwestecke verjüngt sich nach unten zu einer abgeflachten Spitze, wobei die östlichste Seite unregelmäßig gebrochen ist und nicht auf die Spitze zuläuft (vgl. Abb. 96). Auch verzieht sich die als Deckplatte ausgebildete Oberseite und verschmälert sich in Richtung Osten leicht, wodurch sie zu dieser Seite schräg abfällt. Der Setzmörtel an den Konsolfugen ist augenschein-lich der gleiche wie derjenige des Schildbogens und der Gewölbekappen und findet sich auch an der gegenüberliegenden Konsole in der Südwestecke. Zum Wandmauerwerk hingegen sind aneinander stoßende Mörtelgrenzen erkennbar. Die Konsolen wurden also erst mit Errichtung des Gewölbes nachträglich in die Wand eingefügt.

Als Besonderheit hervorzuheben ist die Konsole in der Südwestecke des Langhauses, die heute nur von der Orgelempore aus betrachtet werden kann. Sie ist die einzige figürliche und dazu qualitätvolle Bildhauerarbeit am gesamten Bau (Abb. 271). Einer mit fünf nach innen gekehlten Seiten gebroche-nen, nach unten sich verschmälernden Grundform ist eine männliche Figur vorgelagert. Ihre Haare sind durch eine nach hinten über die Schultern fallende Kopfbedeckung, eine nach der Mode des 15.

Jahrhunderts aufgesetzte Gugel, verdeckt. Sie ist mit einem knielangen, in der Taille gegürteten und vorne offenen ärmellosen Rock und einem Hemd mit weiten Trompetenärmeln bekleidet. Der v-för-mige Hemdausschnitt liegt eng am Hals an und scheint einen über den etwas tieferen Rockausschnitt umgeschlagenen kurzen Kragen zu haben. Die zahlreichen strengen Längsfalten des Obergewandes sind plastisch wiedergegeben, die Gesichtszüge realistisch ausgeprägt und die Hände fein herausge-arbeitet. Der in der Aufnahme etwas disproportional wirkende Körper mit zu kurzen angewinkelten Beinen ist offensichtlich auf Fernwirkung von unten gearbeitet. In der rechten an den Körper gepres-sten Hand hält der Mann einen länglichen stockartigen Gegenstand, der aber am unteren Ende etwas breiter wird und nach innen gerundet ist. Die linke Hand ist nach hinten abgewinkelt und scheint einen zylinderförmigen schräg gerieften Gegenstand hochzuwerfen. Links der Figur ist das Schallende eines Blasinstruments erkennbar. Ihm folgt eine rundlich hervortretende unklare Form, die sich in die Wand hinein fortsetzt. An den Seiten der Konsole verschwindet tatsächlich bildhauerisch bearbeitete Oberfläche in der Wand und liegt eindeutig unter dem ersten, noch mittelalterlichen Putz. An der Unterkante ist deutlich ein runder Querschnitt erkennbar, dem die Fortsetzung nach unten fehlt. Die Konsole wurde offensichtlich als Kapitell gehauen und entweder hier wiederverwendet oder

818 Im vorhandenen Dielenfußboden befindet sich ungefähr in der Mitte eine 120/235 cm große rechteckige Nahtstelle, die auf eine letzte zu diesem Zweck vorhandene Deckenöffnung hinweisen könnte. Ein Gemälde von Julius Jacob der SSMB von 1889 zeigt den die dicken Glockenseile bedienenden Glöckner im Mittelschiff der Turmhalle vor dem 1893/94 erfolgten Umbau der Treppenanlage zur Orgelempore.

dest für einen anderen Anbringungsort gefertigt, aber schließlich hier als Konsole eingebaut. Als Kapitell war es für eine schlanke Säule oder einen Dienst gedacht, der mindestens als Dreiviertelstab ausgebildet gewesen sein muss. Die nicht mit der Figur in Verbindung stehenden Objekte gehören demnach zu einer zweiten Figur, von der in der Zweitverwendung oder auch in der Erstverwendung am ursprünglich nicht vorgesehenen Ort nur ein Ellbogen (die rundliche Form) und ein trompeten-ähnliches Instrument sichtbar blieben.

Ein fast identischer geriefter Zylinder, wie ihn die sichtbare Figur in der linken Hand balanciert, wurde an einem Dienstkapitell im Erfurter Dom als Kerze interpretiert – allerdings sind dort Gestik und Körperhaltung der beiden dargestellten Männer nicht mit dem Befund in der Marienkirche vergleich-bar (Abb. 272). Ebenso weist die charakteristische Kleidung der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf eine viel frühere Entstehung.819 Alle Details berücksichtigend, scheint es sich bei der Darstellung in der Marienkirche um Spielleute zu handeln, die im Tanz oder Sprung begriffen sind. Der sichtbare Musikant spielt die typische Kombination Trommel und Einhandflöte, während das Instrument der in der Mauer verschwundenen Person eher eine Schalmei mit größerem Schalltrichter zu sein

scheint.820 Einen ähnlich bewegten Musikanten mit den gleichen, zugleich zu bedienenden Instru-menten Flöte und Trommel, zeigt eine französische Handschrift der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abb. 273). Das Sujet gehört nicht unbedingt zur typischen sakralen Ikonographie und wäre auch in einem weltlichen Rahmen denkbar. Da die Szene ganz offensichtlich für einen anderen baulichen Zusammenhang gedacht war, wäre die Herstellung für einen profanen Ort zumindest nicht ausge-schlossen. Es ist in jedem Fall zu vermuten, dass sie trotz dieser ungewissen Herkunft innerhalb der Kirche in einen größeren Sinnzusammenhang mit anderen bildlichen Darstellungen, die wohl als wandfeste Malerei zu denken wären, einbezogen war. Spielleute und Narren, die in der mittelalter-lichen Sichtweise zusammengehörten, kommen im Wandmalereiprogramm der Dorfkirche in Briesen bei Cottbus vor – interessanter Weise ebenfalls an der westlichen Südwand. Innerhalb der inschrift-lich kurz nach 1486 datierten, fast komplett erhaltenen Kirchenausmalung mit dem Hauptthema

‚Widerstand gegenüber der Sünde und Auferstehung‘ verkörpern sie zusammen mit anderen Personifikationen die Wollust und Vergänglichkeit, die durch Christus besiegt werden wird.821 Die Szenerie in der Marienkirche muss aber nicht unbedingt in einer nur negativen Weise interpretiert gewesen sein, denn nach Bachfischer wandelte sich im Laufe des 15. Jahrhunderts das Bild der vorher verachteten, aber gleichzeitig benötigten Spielleute. Diese veränderte Einstellung führte sogar zu tatsächlichen Auftritten in Kirchen.822 Trotz einer gewissen Emanzipation der Spielleute in dieser Zeit, dürften die Figuren kaum auf in diesem Bereich der Kirche real vorgetragene Kirchenmusik hinweisen. Weltliche Unterhaltungsmusik, die hier eindeutig gemeint ist, wurde streng von der mit anderen Instrumenten verbundenen Sakralmusik getrennt. Obwohl sich um 1469 bereits eine erste Orgel in der Marienkirche befunden haben soll,823 lassen sich die Spielleute nicht zu deren Lokalisie-rung verwenden.

In Bezug auf die konkret dargestellten Instrumente und die Haltung und Kleidung der Figuren bestehen keinerlei Beziehungen zwischen der Wandmalerei in Briesen und der Figurenkonsole der Marienkirche. In dieser Hinsicht könnte eher der Klavichord-Spieler einer der Konsolen der Alten Sakristei im Dom zu Fürstenwalde herangezogen werden (Abb. 274).824 Auch er trägt eine Gugel und

819 Vgl. Möbius 1974, Abb. 113.

820 Zur Interpretation der Szene siehe die zahlreichen vergleichbaren Bildbeispiele in Bachfischer 1998.

821 Noll-Minor 2011, S. 334f. Vgl. dazu auch die von Barbara Rimpel herausgearbeiteten in Westturmhallen vorkommenden ikonographischen Themen zu denen u. a. Moreskentänzer gehören. Vortrag über Turmhallen an Kirchen der

Hansestädte anlässlich der Arbeitstagung „Der Berliner Totentanz – Geschichte, Restaurierung, Öffentlichkeit“, 15.-18.

Sept. 2011 (Tagungsband inzwischen erschienen, vgl. Rimpel 2014, S. 75).

822 Bachfischer 1998, S. 189.

823 Das schreibt Leh 1957, S. 28, aber ohne Angabe einer Quelle. Sicher ist, dass es 1577 eine alte beschädigte Orgel gab, die daraufhin bis 1579 repariert wurde. Fischer-Krückeberg 1930, S. 116.

824 Für den Hinweis und die Versorgung mit fotografischen Aufnahmen herzlichen Dank an Peter Knüvener.

ein in tiefe Parallelfalten gelegtes knielanges Gewand mit einem kleinen v-förmigen Schlitz am Hals.

Ähnlich ist auch die für die Ansicht von unten berechnete Beinhaltung mit den angezogenen Knien.

Leider sind die einzelnen Figurenkonsolen der heterogenen Gruppe noch nicht genauer datiert. Der Klavichord-Spieler gehört zu den jüngeren des späten 14. und 15. Jahrhunderts, daneben wurden auch Werkstücke des 13. Jahrhunderts wiederverwendet.825