• Keine Ergebnisse gefunden

Die Turmhalle und westliche Verlängerung des Kirchenschiffs

8. BAUPHASE 3 BIS 5 – DER WESTTURM:

8.1.6 Die Turmhalle und westliche Verlängerung des Kirchenschiffs

stelle an der ehemaligen Nordecke der Westwand umfasste vier Backsteinlagen mit gut erhaltenen Lagerfugen. Wie zu erwarten, waren sie ebenfalls als Dach- oder Gratfugen ausgeführt. Nur die untere der drei sichtbaren Fugen wies darüber hinaus eine deutliche scharfe Ritzung auf. Aufgrund der fehlenden vertiefenden Untersuchungsmöglichkeiten bleibt folgende Überlegung im Moment nur ein Gedankenspiel zu diesem Einzelbefund in Verbindung mit den grauen Farbspuren: Möglicher-weise hat man mit einer die tatsächliche Fugenanzahl negierenden Gestaltung zu rechnen, bei der größere, durch die Ritzung angegebene Quader in größerem Werksteinformat suggeriert werden sollten.325

6.6 Der Innenraum

Anders als die Außenflächen blieben die Wandinnenseiten bei der Restaurierung 1893/94 verputzt bzw. wurden neu verputzt.333 Einblicke auf und in das Mauerwerk konnten daher nur punktuell im Vorfeld der Putzsanierung 2009/2010 erfolgen. Trotz der nur eingeschränkten Untersuchungs-möglichkeiten lassen sich die Befunde auch hier in einem schlüssigen Konzept interpretieren.

Unterhalb der Fenster waren die Wandflächen demnach ungegliedert, bis auf die Wandöffnungen der Portale im dritten Joch von Osten. Eine gewisse Oberflächenstruktur der Wand muss darüber hinaus das Relief des laut Befunden nicht vollflächig verputzten Feldsteinunterbaus ergeben haben.

Die Innenseite des Feldstein-Stufenportals der Nordseite hat erst seit der Innenrenovierung von 1969/70 ein leicht spitzbogiges geputztes Gewände.334 In mittelalterlicher Zeit verlief die innere Öffnungskante weiter oben, wie sich vor der Innenraumsanierung durch leichte Rissbildungen im Putz andeutete (Abb. 85). Drei Befundöffnungen zeigten einen aus Ziegelsteinen gemauerten Rund- oder Segmentbogen, dessen genaue Verlaufsform mit den wenigen Befundöffnungen und den Störungen im unteren Bereich durch spätere Maßnahmen nicht eindeutig zu bestimmen war. Der Bogen besteht aus sauber und glatt verfugten Bindern und Läufern mittelalterlicher Mauersteine, die mit dem umliegenden Mauerwerk verzahnt sind.

Der Übergang zum Backsteinverband liegt hier auf der Nordseite bei maximal 4,30 m oberhalb des Fußbodens, d. h. die Fensterbrüstungen befinden sich gerade noch innerhalb des bis auf das Nordportal ungegliederten Feldsteinbereichs. Abgeschlagene Binderköpfe an allen stichprobenartig untersuchten Fensterunterkanten, nicht jedoch an den dazwischen liegenden Wandflächen,

sprechen für ursprünglich vorkragende Sohlbänke aus Backstein, die sich nicht als umlaufendes Gesims über die Wand zogen (Abb. 86). Eine Profilform ist leider an keiner Befundstelle mehr

vor. Vgl. ELAB, St. Nikolai/St. Marien Berlin-Mitte, Rep. II, Sign. 145. Wie einige andere Rückbauvorhaben wurde die Planung vermutlich aus Kostengründen nicht umgesetzt.

332 Freundlicher Hinweis von Uwe Michas, LDA Berlin.

333 Der alte Putz sollte abgeklopft werden, um entsprechende Befunde als Vorlagen freizulegen. Diese Vorgabe aus dem Genehmigungsschreiben der Königlichen Ministerial-Bau-Kommission zu den geplanten Baumaßnahmen vom 13. 4.

1892 (ELAB, Bestand 14, Nr. 3363, Bl. 59-64) wurde über große Flächen sehr gewissenhaft erfüllt. Zumeist liegt der Putz von 1893/94 direkt auf der nur lasierten Backsteinoberfläche.

334 Die Veränderung dahin erfolgte in zwei Stufen. 1893/94 wurde in den mittelalterlichen Bogen in Höhe des jetzigen Scheitels der inneren Türlaibung (326 cm OKF) ein T-Träger mit einer Flanschbreite von 8 cm und einer Höhe von ca.

8 cm eingefügt und der Bogenbereich darüber mit hellorangen porösen Ziegelsteinen ausgefüllt. Es handelt sich um dieselben porösen Gewölbesteine mit dem Prägestempel „MULDENSTEINER WERKE“ aus der die Gewölbe der

Westempore und der Südanbauten von 1893/94 gemauert sind (zu Südanbauten vgl. ASD 2003, Fotodokumentation Bl.

28). Grund für das Einziehen des Trägers könnten die offenbar wiederkehrenden Rissbildungen in der Fenstersohlbank des darüber liegenden Fensters gewesen sein. Möglicherweise verstärkten sich Risse nach der unter Blankenstein vorgenommenen Öffnung des bis dahin zugemauerten Portals. Die seitlichen Laibungskanten wurden senkrecht nach oben bis zum Träger hochgezogen und in dem typischen Blankensteinschen Grüngrau gefasst. An die ungewöhnlich erscheinende rechteckige Öffnung war ein Windfang angebaut, der anlässlich der Neufassung des Innenraums 1969 abgerissen wurde. Die rechteckige Portalnische wurde bei diesem Anlass durch Abkofferung der Ecken in die heutige leicht spitzbogige Form gebracht. Dazu wurden Bewehrungsstähle eingefügt, die mit einem verzinkten Drahtgeflecht als Träger für eine stark gipshaltige Putzlage überzogen sind.

erhalten. Abgesehen vom Materialwechsel nach einer teilweise eingefügten flachen Backstein-Ausgleichslage ist keine Mörtelfuge oder ein anderer Hinweis erkennbar, der auf eine horizontale Baufuge zwischen Feld- und Backsteinmauerwerk schließen lassen würde.

Auf Höhe knapp unterhalb der Sohlbanksteine setzt das neben den Fenstereinschnitten einzige weitere Wandgliederungselement ein: Es handelt sich um schlanke Dienste in Form eines Dreiviertelstabs, die im Bereich der Sohlbankhöhe aus der Wandfläche „hervorwachsen“. An mehreren Befundstellen der Nordwand zeigte sich, dass sie auf dieser Seite nicht zum originalen Mauerverband gehören. Anders als die Dienste der Südwand, beginnen diejenigen der Nordwand mit einem Formstein. Eine Binderseite des aus einem Normalstein entwickelten Formsteins ist wie bei den übrigen Dienstformsteinen als Dreiviertelstab mit ca. 130 mm Durchmesser ausgebildet, jedoch läuft der Stab an der Unterseite leicht spitz aus (Abb. 87).335 Einer der Belege für den nachträglichen Einbau ist der Fugenmörtel um diesen Stein, der kein Originalmörtel ist. Der folgende Dienstform-stein darüber bindet nicht in die Wand ein, sondern wurde mit abgeschlagener Rückseite und reichlich Mörtel vorgesetzt. Eine Befundöffnung am oberen Dienstende erbrachte den gleichen Befund: der oberste und der dritte Formstein von oben haben eine abgeschlagene Hinterseite und sind mit Mörtel vor einen Läufer gesetzt. Die Farbschichten auf den Läufern, die aus mindestens zwei, eher drei Weißfassungen bestehen, laufen hinter den aufgesetzten Dienststeinen durch. Der zweite Formstein von oben bindet ins Mauerwerk als Binder ein, ist jedoch eindeutig nachträglich eingefügt. Der umgebende Mörtel unterscheidet sich vom Fugenmörtel der Wand und es gibt eine deutliche Baunaht an den Fugenkanten. Der angrenzende Originalbackstein des mittelalterlichen Ziegelmauerwerks ist an der Seite des nachträglich eingebauten Binder-Formsteins abgeschlagen.

Der gesamte Dienst ist eindeutig erst zur Angleichung an die schon bauzeitlich eingefügten Dienste der Südwand nachträglich eingefügt worden. Der genaue Zeitpunkt der Einfügung konnte aus Zeitmangel nicht abschließend geklärt werden. Der Mörtel ist aber hier eindeutig nachmittelalterlich (Abb. 88).336 Möglicherweise handelt es sich aber bei diesem Dienst bereits um eine Ersetzung eines früher schon vorhandenen Dienstes. Denkbarer Grund wären Beschädigungen, die z. B. durch Emporeneinbauten zustande gekommen sein könnten, wie sie in den Berichten von 1818 für die Pfeiler belegt sind.337

Zu solchen Überlegungen gibt der andere eingehend untersuchte Dienst in der Nordostecke Anlass.

Er wurde zwar auch erst eindeutig nachträglich nach einigen Malschichten angebracht, allerdings mit einem in Aussehen und harter Konsistenz noch mittelalterlichem Mörtel (Abb. 89). Er hat, wie der gegenüber in der Südostecke befindliche Dienst, keine Anbindung an die Ostwand, sondern hält zu ihr einen Abstand von etwa 1 cm (Abb. 90). Die östlichsten Dienste sitzen also nicht genau in den Ecken, sondern gehören noch zu den Längswänden. Das untere Ende des Dienstes der Nordseite ist nicht einzusehen, da es vom um 1630 geschaffenen Grabmal Röbel verbaut wurde. Hinter dem vor die Ostwand gesetzten Wandaufbau des Grabmals haben sich im Unterschied zu den frei liegenden Wandflächen ältere, auf einem ersten Putz liegende Fassungen hervorragend erhalten.338

335 Es wurde sicherheitshalber überprüft, ob die Dienste weiter nach unten geführt waren. Das Mauerwerk darunter ist jedoch völlig frei von Abschlagungsspuren.

336 Auffällig ist die äußerst glatte Oberfläche und die dunkelrote Farbe der Dienstformsteine. Der verwendete Mörtel ist feinkörniger als der mittelalterliche und ohne die typischen dunklen Sandkörner. Auffällig sind hingegen große Kalks-patzen und Holzspäne als Zuschlag. Dieser Mörtel ist identisch mit dem östlich des Dienstes befindlichen Wandmörtel.

Auf diesem ist unter der Blankensteinfassung ein gelblich abgetöntes Weiß mit roten Spritzern vorhanden. Eindeutig datierbar ist hingegen der Einbau des Wanddienstes zwischen viertem und fünftem Joch von Osten. Er wurde anlässlich der Neufassung des Innenraums 1893/94 wieder ergänzt, da er, um für das hinter dem ursprünglichen Standort der Barockkanzel aufgemalte Wandgemälde Bernhard Rhodes Platz zu schaffen, abgeschlagen worden war. Nach Borrmann 1893, S. 212, wurde das Wandbild "Apostel Paulus predigt in Athen" 1775 ausgeführt. Das untere Ende des Dienstes besteht hier aus einem betonähnlichen Material. Vgl. dazu Wunderlich 2007c, S. 25.

337 Klein 1819, S. 19.

338 Ein ähnlicher Befund wurde an der südlichen Ostwand gemacht. Dort läuft Putz mit Malerei hinter das Grabmal Lüdcke.

Der Putz war bis zu den Dienstanläufen nachweisbar.

Auf den Backsteinflächen ist als oberste Schicht auf beiden Wänden eine starke Verschwärzung sichtbar – ob sie von einem Brand hervorgerufen wurde oder auf die Gebrauchsspuren des Kerzen-lichts zurückzuführen ist, ist offen. Über der verschwärzten Backsteinfläche folgt ein zirka ½ cm dicker Putz mit einer vermutlich weißen Grundierung auf der ein heller, gelblich weißer Grundton mit rötlichen mutmaßlichen Malereispuren liegt. Die Oberfläche dieser Malschicht ist grau patiniert und wird von einer Fassung aus einem gebrochenen, gelblichen Weiß überdeckt. Diese wurde später beim Einbau des Dienstes mit einer Mörtelschlämme überzogen. Bis zum Einbau des Grabmals um 1630 lassen sich noch zwei Schichten nachweisen: Ein Weiß als Untermalung für eine relativ dunkle graue Lasur und wieder Weiß.339 Diese Fassungsabfolge spricht mit der zum Einbau verwendeten Mörtelqualität dafür, dass die Angleichung der Nord- an die Südwand durch Einfügung von Wand-diensten ab etwa Sohlbankhöhe noch im Spätmittelalter stattfand. In der ersten Bauphase war die Gestaltung des Langhauses laut Befundlage aber asymmetrisch, analog zu dem auf unterschiedlicher Höhe stattfindenden Baumaterialwechsel an den Fassaden.

Auf der inneren Südwand endet das Feldsteinmischmauerwerk mit bis zu 4,10 m oberhalb des Fußbodens an manchen Stellen nur 10-20 cm weiter unten als auf der Nordwand. Dieser geringe Unterschied hält aber die Grenze zwischen Feldstein-Ziegel-Mauerwerk und Backsteinsichtmauer-werk immer unterhalb der Fensterunterkanten. Auf der Südwand konnte daher in Sohlbankhöhe ein Gesims, bestehend aus einer Binderrollschicht aus Formsteinen, eingefügt werden. Über die gesamte Südwand kann es allerdings nicht durchgelaufen sein, da der Scheitel des Südportals oberhalb des Sohlbankgesimses liegt und sich die Fensterbrüstung in diesem Joch etwa 2 m höher befindet als an den übrigen Fenstern. Die 1893/94 angebrachte Kaiserloge überschneidet die Unterkante des Fensters und überspielt gleichzeitig den Höhenunterschied zu den übrigen Brüstungen.

Auf der im sauberen Eckverband mit der Südwand stehenden Ostwand setzte sich das Gesims eben-falls nicht fort. Stattdessen wurde hier eine nicht auskragende Rollschicht aus Bindern eingefügt.340 Das Gesims der Südwand wurde analog zu den Sohlbänken der Nordwand in nachmittelalterlicher Zeit abgeschlagen und überputzt.341 Es haben sich aber unterhalb der auf dem Gesims ansetzenden südlichen Wanddienste relativ große Teile der Formsteine erhalten, deren aus der Wand kragender Teil unten eine kleine Kehle hatte und oben abgeschrägt war, also ein Kaffgesims bildete (Abb. 92).

Im Unterschied zur Nordwand enden die Dienste der Südwand alle relativ unförmig. Sie beginnen hier nicht mit einem Formstein, sondern sitzen auf den Resten des abgeschlagenen Sohlbankge-simses, die mit Mörtel umhüllt und ungefähr halbrund geformt wurden. Bauzeitlich waren die Dienste geringfügig kürzer, weil sie auf dem schrägen Kaffgesims „aufsaßen“. Als unterer Abschluss des Dienstes wurde zwischen dem oberhalb der Gesimssteine einbindenden Dienstformstein und der Schräge des Gesimses eine vermittelnde Rundung aus mit Ziegelstücken armiertem Putz eingefügt.

Die Dienste selbst binden abwechselnd als Formsteinbinder ins Mauerwerk ein oder sind vorgeblen-det.342 Diese nicht ganz durchdacht erscheinende Technik hatte den Vorteil, dass nur ein Formstein-typ (Randdarstellung in Abb. 91) gebraucht wurde und trotzdem übereinander liegende Stoßfugen vermieden wurden. In der ersten Fassung war die Kerbe zwischen Dienst und Wandebene nur fein mit Mörtel verstrichen und trat plastischer in Erscheinung. Spätere dicke Fassungsschichten lassen den Dreiviertelstab heute als Halbstab erscheinen.

339 Es folgen danach Orangerosa, eine Kalk-Sandschlämme, Graugrün, Altrosa über Weiß (1818), Altrosa über Weiß (1862), Weiß, Graugrün (1894), gelbliches Weiß für Wände, Hellrosa für Dienste (1950). Die 2010 vorhandene Sichtfassung nach Entwurf Jochen Haß von 1979 bestand aus einer weißer Wandfassung und grauen Diensten.

340 Das abgeschlagene Sohlbankgesims beginnt über einer 4-5 cm breiten Fuge, die Rollschicht der Ostwand aber über einer normalen ca. 1,5 cm Fuge. Sie liegt daher etwa 3 cm tiefer als das Gesims der Südwand.

341 Die erste Putzlage auf der Abschlagung hat eine Rosafassung mit bläulichem Stich und ist vielleicht der Innenraum-sanierung 1818 zuzuordnen.

342 Übereinstimmende Befunde dafür fanden sich am Dienst zwischen erstem und zweitem Joch von Osten und an den Eckdiensten der Südwand. Der westliche ist allerdings seit der Verlängerung des Langhauses abgeschlagen.

Ab der Kapitellzone der Dienste stimmen die Befunde an Nord- und Südwand überein. Es konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die sichtbaren siebenfach gebrochenen kelchförmigen Dienstkapitelle – bzw. an der Nordwand Gewölbekonsolen – mit Wulst an der Unterkante und zur ebenfalls siebenfach facettierten Deckplatte überleitendem Steg-Kehle-Steg-Wulst-Profil in der jetzigen Form allesamt überformt sind. Unter den Fassungen, die sich regelmäßig maximal bis auf die Blankensteinfassung zurückverfolgen ließen, wurden alle Kapitelle mit der Drahtbürste überarbeitet und erhielten einen Überzug aus Stuckgips mit deutlichen zum Teil groben Holzkohlestückchen als Zuschlag (vgl. Abb. 88). Darunter fand sich regelmäßig ein Kern aus graublauem Stuckgips mit feinkörnigem Zuschlag aus Holzkohlestückchen.343 Exemplarisch wurde das Dienstkapitell zwischen erstem und zweitem Joch von Osten an der Südwand genauer untersucht (Abb. 93). Es besteht aus einem großen Gussstein mit viereckigem Umriss (geschätzte Maße ca. 45/41 cm, B/H), der im Mauerwerk eingemauert ist. Die Einbindung des Kapitells ist bauzeitlich mit der Wand. An der Unterkante und linken Seite sind dicht herangeführte Mörtelfugen mit dem üblichen Fugenstrich aus zwei Kellenstrichen (Gratfuge) erhalten. Auch hier erhielt der aus der Wand vorkragende Teil des Kapitells den dünnen weißen Stucküberzug und lässt die ursprüngliche Form im Unklaren. Wesentlich verändert wurden die Kapitelle durch die Restaurierung von 1893/94 aber nicht, da sie schon in der ersten Innenraumdarstellung von Friedrich Wilhelm Klose von um 1827 wiedererkennbar recht ähnlich dargestellt wurden (Abb. 94). Im direkten Vergleich mit einem Messbildausschnitt von 1886 (Abb. 95) sieht man erstens den angeschlagenen Zustand des Dienstkapitells und zweitens die kleine Formveränderung, die durch den Stucküberzug 1893/94 vorgenommen wurde: Es wurde die Kehle zugunsten eines langen Steges an der Profilabfolge unterhalb der Deckplatte verkleinert. Die Deckplatte selbst wurde etwas verbreitert.

Die ursprüngliche Form hat sich an den abgeschlagenen ehemaligen westlichen Eckkapitellen immerhin als Silhouette einigermaßen vollständig erhalten. Bei der Verlängerung des westlichsten Jochs wurde nicht nur die ehemalige Westwand, sondern auch das ehemalige westlichste Gewölbe mit Kapitellen und Diensten entfernt. Die abgeschlagenen Reste sind in der Wand erhalten (Abb. 96).

Wieder kann die Einbindung des Stucks, hier in das originale Mauerwerk der Nordwand, bestätigt werden.344 Oberhalb des geraden unteren Abschlusses zeichnet sich der untere Teil des Kapitells mit deutlicher Wulst und nach oben ausladender Schräge ab. Die Innenseiten dieser Putzsilhouette sind grau gefärbt durch Abfärbung des Stucks (Abb. 97a/b). Unterhalb des Kapitells folgt eine senkrechte geputzte Schräge, an die Dienstformsteine anschlossen. Eine zweite, oberhalb liegende Öffnung zeigt die Fortführung der Schräge des Kapitells mit einer weniger deutlichen Wulst an deren Ende an. Hier bricht das Negativprofil ab. Sicher muss das Gesamtausmaß des Kapitells um wenige Zentimeter ergänzt werden, bis zur nächsten Lagerfuge. Dafür spricht neben dem ab dieser Fuge ansetzenden ersten Schildrippenstein auch der Farbbefund an der ehemals innerhalb des Kirchenraums liegenden Wandfläche. Bis in die Lage unterhalb des Schildrippensteins liegt den Backsteinoberflächen eine weiße Fassung auf, die dort mit einer horizontalen Zäsur endet (vgl. Kapitel 6.6.5 „Innenraumfas-sung“, S. 70f.). An dieser Zäsur ist die Kapitelloberkante anzunehmen, da der gemäß der Abbruch-kante des Profils plastisch in den Raum vorgewölbte Schildrippenstein unmittelbar auf dieser Grenze ansetzt. Die Kapitellhöhe betrug somit drei Backsteinlagen oder etwa 36 cm. Damit entspricht es proportional nicht ganz den heutigen Kapitellen, die 41 cm hoch sind und die Lagerfuge um etwa 3 cm überschreiten. Auch die heute vorhandene Kehlung und Abwinkelung unter der obersten Wulst

343 Zum Befund vgl. Wunderlich 2010d, S. II und 24. Holzkohle ist neben Ziegelmehl der am häufigsten vorkommende Zusatz in mittelalterlichen Gipsmörteln und ist für eine graue Farbgebung verantwortlich. Vermutet wird aufgrund von häufiger bauzeitlicher Überfassung, dass die erzielte graue Farbe nicht der Hauptgrund für die Wahl dieses Zuschlag-stoffes ist. Bislang wurde nach Schlütter aber noch keine überzeugende alternative Erklärung gefunden. Aktuell dazu Schlütter 2012, S. 38. Pospieszny 2002, S. 187 geht offenbar von einer „Verschmutzung“ mit Birken- oder Fichtenholz-kohle während des Gipsbrandes aus.

344 In der ehemaligen Südwestecke bestätigte eine zur Überprüfung angelegte kleine Befundöffnung ebenfalls ein blaugraues abgeschlagenes Stuckkapitell, das im Wandverband erhalten ist. Die östliche untere Kantenform des Kapitells ist auch hier als Negativabdruck erhalten (untere Wulst, darüber ansetzende Schräge).

zeichnet sich nicht im bauzeitlichen Putzprofil ab. Vermutlich waren die ursprünglichen bläulich-grauen Stuckkapitelle in der Grundform einfacher als die jetzigen, indem sie sich zwischen zwei Wülsten und einem möglicherweise profilierten oberen Abschluss in einer einfachen Schräge nach oben erweiterten.345

Der erwähnte erste Schildrippenstein über dem abgeschlagenen Kapitell der ehemaligen Nordwest-ecke ist ein auf der langen Schmalseite hochkant versetzter Binder (unter 100/138 mm) mit abge-schlagener Vorderseite. An seinem östlichen Rand blieb der Ansatz eines Viertelstabprofils erhalten.

Er entspricht den noch erhaltenen Schildrippensteinen in den Jochen eins bis fünf von Osten, die aus einem der Krümmung des Gewölbebogenverlaufs folgenden Binderverband aus Formsteinen mit Viertelstabrundung bestehen (Abb. 99 Typ F).

Die Befunde zum Gewölbeansatz und den Dienstkapitellen sind im gesamten Langhaus einheitlich, mit Ausnahme der Ostecken. Dort ersetzen die vorhandenen, hier offenbar vollständig aus dem hellen Gipsmörtel mit großen Holzkohlestückchen bestehenden Stuckkapitelle bauzeitliche Kalk-steinkonsolen.346 Fassungsfolge und Mörtel bestätigen den Einbau 1893/94.347 Abb. 98 zeigt das nordöstliche Eckkapitell mit frei gelegter linker Seiten- und Unterkante an der Nordwand und rechter Seiten- und Unterkante an der Ostwand. Die seitlichen Kanten des eingesetzten Steins verlaufen senkrecht und werden zum Großteil vom vorgesetzten Stuckkapitell verdeckt. An der linken Seite ist der Rest eines schräg nach außen verlaufenden plastischen Ansatzes erhalten. Es könnte sich um ein trichterförmiges Kapitell gehandelt haben. Weiter kann über die ehemalige Form des Kalksteinkapi-tells nichts ausgesagt werden, außer dass es kleiner als das jetzige gewesen sein muss.348 Jeweils links und rechts des Steins wurden die Fugen mit langen schmalen Ziegelstücken ausgezwickt. An der Nordwand ist der Bereich der Ziegelauszwickelung mit dem jetzigen Wandmörtel ausgefüllt – hier ist der Verband mehrere Zentimeter tief gestört. An der Ostwand liegen Kalkstein, Ziegelauszwickelung und anschließender Mauerverband jedoch im gleichen Mörtel und sind daher bauzeitlich. Ein kleiner Unterschied zwischen Wandfugenmörtel und Auszwickelung am Kapitell ist dem zweiteiligen

Arbeitsgang zuzuschreiben: Es wurde eine Wandöffnung für die danach einzusetzende Konsole frei gelassen. Da ausgezwickelt werden musste, lag die Konsole beim Mauern wohl noch nicht bereit.

Nichts deutet aber auf eine größere zeitliche Differenz.

Dasselbe gilt für den Einbau des Gewölbes. Es gibt keine deutliche Zäsur zwischen Mauerverband und Gewölbekappe wie dies für den Westanbau typisch ist. Die Schildrippenfugen sind im gleichen Mörtel wie die Wandfugen und die Gewölbekappen gefügt. Zu den Gewölbekappen hin gibt es lediglich eine Bauabschnittsfuge: In einem ersten Schritt wurde das Wandmauerwerk mit den Schildbogenrippen gemauert. Danach folgten die Gewölbekappen.

sehr homogen ausgeführt, bis auf die unteren Hälften des zweiten Pfeilers der Nordreihe von Westen, die von 1948 stammt, und des östlichsten Freipfeilers, auf dem die Schlüterkanzel seitdem angebracht ist. Wegzudenken sind, wie erwähnt, auch die 1948 gemauerten Ummantelungen der Sockelzonen der gesamten Nordreihe und der beiden östlichsten Südpfeiler. Abgesehen von dem Kanzeleinbau wurden die Bündelpfeiler zum Teil stark durch die nachmittelalterliche Raumnutzung und damit zusammenhängende Ein- und Umbauten in der Substanz beschädigt. Laut Klein waren vor 1818 „Um Ansichten auf die Kanzel zu gewinnen, [...] viele der mittlern Pfeiler in ihrer Rundung abgeschlagen oder mit Gemälden und fremdartigen Bildhauerarbeiten bedeckt.“349 Die ebenfalls in dieser Beschreibung überlieferten unterschiedlichen und zum Teil in zwei Etagen übereinander angebrachten Emporeneinbauten lassen zudem zahlreiche Balkenlöcher für deren Montage vermuten. Größere Bereiche der Pfeiler wurden 1818 wiederhergestellt, aber sicherlich durch die neuen vereinheitlichten Emporeneinbauten neuerlich beschädigt. 1893/94 kam es daher wieder zu einer Überarbeitung mit einem ausgleichenden Mörtelüberzug. Meist ist das Fugennetz darin klar und regelmäßig gerade und glatt eingeschnitten. Aus diesem Grund lassen sich auch die Stellen, an denen ehemals Emporen befestigt waren, nur grob eingrenzen. Trotzdem besitzen alle Pfeiler immer noch große intakte Flächen mit einem unter den Tünchen durchscheinenden regelmäßigen Fugen-netz, das sich in jeder zweiten Lage durch einfachen Versatzwechsel wiederholt. Sie bestehen einheitlich aus einem achteckigen Kern mit Halbsäulenvorlagen an jeder der Seitenflächen. Jede Halbsäulenvorlage ist aus zwei gerundeten Formsteinen zusammengesetzt, wobei der eine aus dem Normalformat entwickelt ist, der andere aber eine fast dem Quadrat angenäherte Grundfläche aufweist (Abb. 99 und 100). Während sich ein großer Teil des Profils bei diesen beiden Formsteinen vor Ort 1:1 abnehmen ließ, sind die genaueren Maße des dritten Pfeilerformsteins unsicher. Die Achteckkanten bestehen aus einem Normalstein mit einer abgefasten Kante, dessen ungefähre Form und Versatz anhand von Detailaufnahmen der Kanzelumsetzung von 1948 in etwa rekonstruierbar sind (Abb. 101, 102).350 In Abb. 101 fehlt in der Lage direkt über dem für die Abstützung des Pfeilers am neuen Standort eingefügten Doppel-T-Träger einer der größeren gerundeten Steine einer der Halbsäulenvorlagen. Sein Umriss ist durch die erhaltene Putzkante an der darüber befindlichen Backsteinschicht angegeben. Zu dieser parallel zum Eisenträger verlaufenden Putzkante verläuft die Legerichtung des darunter befindlichen, dem fehlenden gerundeten Stein benachbarten hier gut erkennbaren Fasensteins deutlich schräg nach hinten rechts.

Eine fast identische Pfeilergrundrissform mit im Detail aber abweichenden Formsteinen besitzt einer der Pfeilertypen der Franziskaner-Klosterkirche in Berlin (Abb. 100). Ähnlich verhält es sich mit den Anläufen zwischen Pfeilerbasen und –schaft. Sowohl in der Klosterkirche als auch in der Marienkirche gibt es eine Überleitung von der kreisrunden Basis zum Pfeilerquerschnitt, die in der Außenkontur einem Karnies mit Versatz entspricht. In der Franziskaner-Klosterkirche wurden dafür neben Sand-steinen auch großformatige Formsteine verwendet.351 Vor der Blankensteinschen Restaurierung waren die Basen in der Marienkirche über dem erhöhten Fußboden beschädigt (Abb. 103 und 81) und mussten folglich 1893/94 überarbeitet werden. Sie besitzen daher heute einen Überzug aus einem Kunststein, bestehen aber im Kern laut Abbildung aus der 2004 durchgeführten Grabung aus einem noch nicht näher untersuchten Naturstein (vgl. Abb. 22, rechts oben angeschnitten). In Analogie zu den sonst am Bau eingesetzten Werksteinen wird es sich wahrscheinlich um Kalkstein handeln.352

349 Klein 1819, S. 19.

350 Ein ähnlicher Kantenformstein wurde für die Pfeiler im Westanbau eingesetzt.

351 Zu den Formsteinen der Basen in Werksteingröße Breitling 2007, S. 119 und Abb. 164. Auf die parallele Verwendung von Sandstein wird hier nicht weiter eingegangen. Sie werden der Bauphasenkartierung nach mit Ausnahme weniger Ersetzungen der Zeit von 1982-1990 aber ebenfalls bauzeitlich datiert.

352 Kalksteinbasen hatten auch die Freipfeiler der frühgotischen Halle der Nikolaikirche. Vgl. Nitschke in Reinbacher 1963, S. 78. Borrmann bestätigt Werkstein für die Pfeilerbasen der Marienkirche. Dass es sich, wie von ihm angegeben, um Sandstein handelt, darf angesichts der in allen von ihm so angegebenen Fällen, die sich schließlich alle als Kalkstein herausgestellt haben, bezweifelt werden. Vgl. Borrmann 1893, S. 209.

Zeitlich diesen beiden Berliner Beispielen nahestehende ähnliche Freipfeiler von um 1300/ Anfang des 14. Jahrhunderts besitzt die Stadtpfarrkirche St. Moritz (Mauritius) in Mittenwalde, wo der Kern jedoch ein Sechseck bildet und demzufolge nur sechs Halbsäulenvorlagen vorhanden sind.353 Dass die Verwendung dieser Pfeilerform kein Datierungskriterium sein kann, sondern zum Merkmal einer Lokaltradition wurde, beweisen spätere Ausführungen. Zunächst ist der Chor der Berliner Nikolai-kirche von um 1370/80 zu nennen. Seine Freipfeiler haben alle den älteren genannten Beispielen ähnliche Basen, es wurden aber nur die westlicheren Pfeilerschäfte in der bekannten Weise ausge-führt. Umgekehrt wurden nach 1460 die Schäfte, nicht jedoch die Basen der Langhauspfeiler dersel-ben Kirche so ausgeführt. In mehreren Bauphasen des 15. Jahrhunderts wurden außerdem die Pfeiler des nördlichen Seitenschiffs und der südlichen Langhausarkaden der Marienkirche von Bernau bei Berlin mit dem „Berliner Pfeilerquerschnitt“ errichtet.354

Völlig unklar ist das Aussehen der mittelalterlichen Pfeilerkapitelle in der Marienkirche. 1818 wurden die von „unförmlichen Stuckarbeiten“ gebildeten Kapitelle355 nachweislich im klassizistischen

Geschmack umgestaltet. In den frühesten Innenraumdarstellungen und -aufnahmen sind die mit Wulstprofilen versehenen Halbsäulen-Kapitelle unter einer abschließenden runden Deckplatte mehrfach dokumentiert (vgl. Abb. 94). 1893/94 erhielten sie durch die Entfernung der Wulstprofile und Modellierung der Deckplatte prinzipiell ihre heutige Form. Lediglich die jeweils zum Mittelschiff und zum Seitenschiff hin gelegenen Halbsäulenvorlagen waren durch stuckierte Blattkapitellchen bereichert (Abb. 104, vgl. Abb. 82), die vor der ersten Nachkriegsfassung 1950 wieder abgeschlagen wurden. In der jetzigen Form ohne die Blattverzierungen ähneln die Pfeilerkapitelle denen der nach 1400 begonnenen Marienkirche von Bernau.

6.6.4 Arkadenwände und Gewölbe

Die dreischiffige sechsjochige Halle wurde nach Fertigstellung der Pfeiler mit Kreuzrippengewölben versehen, die bis auf das später veränderte östlichste Mittelschiffjoch und die gesamte beim Anbau des Westturms erneuerte westlichste Travée heute noch vorhanden sind. Die Gewölbedecke ist innerhalb der Schiffe als einheitliche Fläche aufgefasst, in der sich die schlanken spitzbogigen Gurtbögen nicht von den Kreuzrippen unterscheiden. Die Schiffe sind hingegen voneinander durch breite profilierte Spitzbogenarkaden getrennt. Für die seitliche Profilierung der Scheidbögen wurden ein Formstein mit abgerundeter Ecke (Viertelstab) und ein Hohlkehlenstein eingesetzt (E und D in Abb. 99). Beide Formsteine scheinen eigens für diese Bauaufgabe hergestellt worden zu sein, denn die ähnlichen Kehlsteine des Fenstergewändes im südlichen dritten Joch und der Traufe haben schmalere Kehlen und die dem zweiten Formstein gleichenden abgerundeten Steine der Pfeiler eine flachere Krümmung (B und H in Abb. 99). Den oberen Abschluss bilden analog zu den wandseitigen ausgeführte und auf gleicher Höhe wie diese liegende Schildbögen, auf denen die Gewölbekappen aufliegen.

Die im Dachraum einzusehenden Arkadenwände sind im Moment aufgrund der Behandlung des Dachwerks mit Hylotox, der Verstaubung und Bauschuttansammlung sowie von teilweisem Verputz nur eingeschränkt untersuchbar. Trotzdem konnten einige wichtige Beobachtungen im Zuge von Begehungen gemacht werden. Eindeutig erkennbar sind beide Arkadenwände, ähnlich wie an den

353 Dehio 2012, S. 722. Der Hinweis auf die Vergleichbarkeit stammt von Marcus Cante, ders. 2000, S. 91, Anm. 121. Dort werden zusätzlich die Achteckpfeiler der schwer kriegszerstörten Marienkirche in Müncheberg genannt, die lt. Dehio 2012, S. 721 von nach 1432 stammen.

354 Auf die typische Berliner Pfeilerform, die erstmals in der Franziskaner-Klosterkirche vorkommt, verwies bereits Lübke 1861, Sp. 6f. Zu den nach 1400 gebauten Pfeilern der Marienkirche in Bernau vgl. zuletzt Badstübner / Knüvener 2011, S. 260.

355 Klein 1819, S. 19.