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BAUPHASE 6 – DER ANBAU DER SAKRISTEI (2. DRITTEL 15. JAHRHUNDERT, VERMUTLICH 1440/50)

An der Südfassade wurde vor dem zweiten Joch von Osten die sogenannte Alte Sakristei als nahezu quadratischer eingeschossiger Anbau errichtet (Abb. 256). Richtung Süden ist sie mit einem Pfeiler-blendengiebel bekrönt, der vor den Flächenabrissen ab 1886 nur durch eine Gasse vom Neuen Markt aus und von einem Verbindungsweg zur Bischofstraße aus der Distanz betrachtet werden konnte.

Mit seinen drei Wiederholungen an den Südanbauten prägt er heute die Ansicht der Kirche vom Rathaus aus.

Vom Dach aus ist erkennbar, dass die seitlichen Sakristeiwände eindeutig vor die Strebepfeiler gesetzt sind.784 Es wurde auch eine eigene Nordwand errichtet und zwar, indem die Außenschale der Langhauswand ausgebrochen und die neue Wand unter Zusetzung des unteren Teils der Langhaus-fensteröffnung dagegen gemauert wurde.785 Die Mauer geriet dabei etwas schräg. So steht sie durchgehend von der Mauerkrone bis zum Fußboden im Osten 15 cm, im Westen nur 5 cm vor die Langhauswand. Da die Mauerkrone eng mit der Langhausmauer verzahnt wurde, war die Einfügung einer Ausgleichsschicht vor Erreichen derselben nötig. Als Erklärung für den beachtlichen Aufwand der verzahnenden vorstehenden Wand wurde vom untersuchenden Büro ASD einleuchtend auf eine Hinterfangung des nötigen Türdurchbruch vom Anbau ins Langhaus und auf die Gewinnung von Gewölbeauflagern für den Neubau verwiesen.786 Gerade der Türdurchbruch, der sich bei den weiter-führenden Untersuchungen im Kircheninnern als bauzeitlich um einiges größer als heute erwiesen hat, dürfte der Hauptgrund gewesen sein (vgl. Abb. 91).787 Der Scheitel des vermutlich flachbogigen Sturzes aus einer Binderrollschicht lag ursprünglich nur etwa 70 cm unterhalb der Fensterbrüstung.

Zwischen Sturzbogen und Brüstung befindet sich in Richtung Kirchenschiff originales Feldsteinmauer-werk der ersten Bauphase aus behauenen Quadern mit Hohlziegelauszwickelung in zum Teil auffällig breiten Fugen von 3,5 cm. Die ursprüngliche Öffnungsbreite konnte aufgrund der unmittelbar neben der verkleinerten Sakristeitüröffnung eingebauten Epitaphien Sartorio/Brentana und Mongreiff/

Seger788 nicht genau ermittelt werden. Durch den Einbau des Epitaphs Sartorio wurde zudem die östliche Bogenkante teilweise zerstört.

9.1 Mauerwerk

Der Sockel der Südfassade wurde 1893/94 nach der Freilegung mit den neuen Südanbauten zusam-men erneuert und besteht aus zwei Lagen Sandsteinquadern. An der Ostfassade sind die beiden Lagen aus den bauzeitlichen behauenen, wesentlich unregelmäßigeren Feldsteinen erhalten. Im Übrigen bestehen die bauzeitlichen Flächen des gesamten Baus aus einheitlichem orangerot bis gelblichem Ziegelmaterial mit deutlichen Quetschfalten und den durchschnittlichen Maßen 280/

134/95 cm. Gemauert wurde im Läufer-Läufer-Binder-Verband mit jeweils über etwa fünf Lagen übereinander liegenden Bindern. Zu erkennen ist teilweise der Parallel-LLB-Verband aber auch der

783 Badstübner 1994, S. 38.

784 ASD 2003, S. 7f., Fotodokumentation Bl. 4. Die Nordostecke ist allerdings durch einen Schornsteineinbau gestört.

785 Vermutlich für den Einbau von Emporen wurde das Fenster noch weiter, unter Auslassung einer Türöffnung, zugesetzt.

786 ASD 2003, S. 8.

787 Die Befundöffnung wurde 2009 entlang eines vom Fenster oberhalb der Sakristeitür ausgehenden Risses angelegt.

788 Die Epitaphien wurden mit einer Rosafassung eingebaut, die vielleicht noch der Innenraumfassung von 1729 zuzuordnen ist. Freundlicher Hinweis von Hans-Jürgen Wunderlich. Die Verkleinerung der Sakristeitür muss also min-destens so alt sein. Die Sterbedaten der erinnerten Personen liegen zwischen 1654 und 1718. Offensichtlich wurde aber die Ausmauerung unterhalb des Sturzbogens anlässlich des Einbaus des neuen Türgewändes 1893/94 mit den für die Bauphase typischen porösen orangeroten Ziegeln erneuert.

Kreuz-LLB-Verband. Die Errichtung des Gebäudes erfolgte ohne Hinweise auf Baunähte oder Unterbrechungen in einem Zug.789 Das schlicht gehaltene Erdgeschoss ist lediglich durch einfach abgetreppte und schräg abgedeckte Eckstrebepfeiler790 und zwei spitzbogige Fensteröffnungen gegliedert. Nur das östliche Seitenfenster ist – abgesehen vom Stabwerk des 19. Jahrhunderts und der ergänzten Brüstung – noch mittelalterlich (Abb. 257a/b). Die Fensterkanten sind gekehlt, im Gegensatz zu den in Anpassung an die Formsteine des Sakristeigiebels gefasten Vorderkanten des südseitigen Fensters von 1893/94.791

Der Kehlstein wurde als Rollschicht ein zweites Mal als Traufgesims der Sakristei-Ostwand verwen-det. Ob ähnliche Anlaufsteine für die Kehlen der Fenstergewände, wie sie jetzt aus der Zeit von 1893/94 vorhanden sind, schon zuvor vorhanden waren, lässt sich mangels fotografischer Aufnah-men nicht mehr belegen. Ansonsten wurde mit dem Kehlstein für die Erdgeschosswände lediglich eine einzige Formsteinart eingesetzt (Abb. 258). Im Schmuckgiebel hat man, abgesehen vom Fasen-stein für die Pfeiler- bzw. Lisenenkanten und die Kanten der Putzblenden, noch Aus- und AnlaufFasen-steine für die Fasen, die hier großteils noch original sind, und einen Krabbenformstein verbaut. Die 1886 nur noch geputzten Fialenspitzen erhielten 1893/94 Ersatz durch einfache gemauerte Pyramiden (vgl.

Abb. 156).

Anlässlich der Sanierung der Südanbauten entstanden 2003 Fassadenkartierungen der beiden unverbauten Außenwände, in denen originaler und Blankensteinscher Fugenmörtel sowie die in verschiedenen Etappen bzw. mit unterschiedlichem Material ausgetauschten Ziegel gekennzeichnet wurden (Abb. 259). Westlich des Fensters befindet sich eine große, aber relativ unauffällige Zuset-zung einer ehemaligen Südtür, die in den Kirchhof führte. Die Tür wurde anlässlich des Einbaus einer Gruft unter der Sakristei 1753 angelegt792 und ist im dritten Schleuen-Plan von 1757 dargestellt (Abb.

260b, vgl. auch Abb. 156). Zur Belüftung der Gruft diente ein kleines, östlich des großen Sakristei-fensters angelegtes Fenster, das ebenfalls 1893/94 zugesetzt wurde. Am Ziegelmaterial sind diese Veränderungen kaum erkennbar und wurden daher bei der Vor-Ort-Kartierung verständlicher Weise auch nicht in ihrem gesamten Umfang erfasst. Für beide Zusetzungen wurde historisches Ziegel-material verwendet, das bei den kurz vor der Renovierung stattgefundenen Abbrüchen Berliner mittelalterlicher Gebäude systematisch gesammelt wurde.793 Das an der Stelle der zeitweiligen Türöffnung erneuerte Mauerwerk geht weit über deren ehemalige Größe hinaus. Es umfasst die gesamte Wandfläche bis zu dem offensichtlich in gedrehter Position erneuerten Strebepfeiler. Dieser wurde anders als die Wandfläche, analog zu den angrenzenden Blankensteinschen Südanbauten, mit 1893/94 neu gebrannten Ziegelsteinen ausgeführt. Der Umfang der erneuerten Wandfläche ist an dem streng regelmäßig ausgeführten LLB-Verband erkennbar, bei dem alle Binder genau übereinan-der liegen.

789 Auch die Untersuchung des Dachs brachte keine Hinweise auf mehr als eine Bauphase. Vgl. ASD 2003.

790 Der 1893/94 im Zuge der Errichtung der ergänzenden Anbauten abgerissene südwestliche Strebepfeiler wird analog zum östlichen zu ergänzen sein

791 Bereits 1834-36 wurde das Sakristeifenster vergrößert (Abb. 156). Vgl. LAB, A Rep. 004, Nr. 722, Bl. 136-38, zitiert nach Deiters 2003, B1, S. 28.

792 LAB, A Rep. 004, Nr. 651, Bl. 5f, nach Deiters 2003, B 1, S. 5 u. 13.

793 Vielleicht wurde genau hier das von Stiehl erwähnte Abbruchmaterial aus der Dominikanerkirche verbaut, das „’durch glücklichen Zufall’ genau gleiches Format mit den an diesem Bau [der Marienkirche] im Mittelalter verwendeten Steinen hatte“. Stiehl 1893, S. 531. Jedenfalls wurden sie nicht für die neuen Anbauen verwendet, wie George 1893, S. 608 und noch einmal 1894, S. 504 angibt, denn diese sind eindeutig aus 1893/94 neu gebranntem Material. Bereits 1860 wurden im Auftrag Stülers von Maurermeister Händly Abbruchsteine vom alten Rathaus für die Marien- und Nikolaikirche ersteigert, die laut Aktenüberlieferung auch verbaut wurden. Siehe ELAB, St. Marien-St. Nikolai Berlin-Mitte, Rep. I, Sign. 338, unpag. 1865 erhält die Kirchengemeinde über Vermittlung von Bauinspektor Waesemann 25 500 Stück Mauersteine vom Bauplatz des neuen Rathauses. Siehe ELAB, St. Marien-St. Nikolai Berlin-Mitte, Rep. I, Sign. 339, unpag.

So gut wie keine Aussage ist über die seit vor 1716794 zumindest zum Teil durch Anbauten verdeckte Westfassade zu machen. Der Schulz-Plan von 1688 legt immerhin das Vorhandensein von Fensteröf-fnungen nahe (vgl. Abb. 10). Die Türverbindung zur Südvorhalle geht erst auf die Umbauten von 1893/94 zurück.

9.2 Der Sakristeigiebel

Der südliche Schmuckgiebel der Sakristei ist ein eingeschossiger Pfeilerblendengiebel mit sieben polygonalen, über dem Giebeldreieck in frei stehenden Fialen endenden Lisenen und je einer spitzbogigen durchlaufenden Putzblende dazwischen. Lisenen und Spitzbogenblenden beginnen in Traufhöhe und steigen ohne Untergliederung bis zu den Giebelkanten auf. Im Unterschied zum Ostgiebel des Langhauses ist der Sakristeigiebel eine nahtlose Fortführung der Südwand. Er ist nicht zurückgesetzt, so dass die Lisenen in Wandebene liegen. Die Trauflinie ist vollkommen unbetont und nur durch eine hochkant stehende Schicht erkennbar, die sich durch die Rollage des Traufgesimses der Seitenwände ergibt. Eine plastische Durchbildung der Giebelfläche ergibt sich durch die Rück-stufung des Giebeldreiecks und der Blenden um je einen halben Stein. Die Pfeilerkanten und auch die Kanten der Putzblenden sind abgefast, d. h. mit den erwähnten Fasensteinen hergestellt. Die krab-benbesetzten pyramidenförmigen Fialenspitzen verleihen dem Giebel eine feingliedrige Wirkung. Im Unterschied zu den anderen Fialspitzen an Ostgiebel und Chor sind die Formen hier gesichert, sie waren 1886 bereits so vorhanden. Überhaupt blieb die Sakristei, bis auf einen Einschuss etwas östlich der Giebelmitte, von Kriegsschäden verschont.

In den zentralen vier Putzblenden sitzen kleine hochrechteckige Vorhangbogenfenster. Die seitlichen sind schlitzartig hoch, die beiden mittleren breiter und gedrungener. Vom Dach der Sakristei aus ist erkennbar, dass die Gewände der Mittelfenster in ursprünglich größere Fensteröffnungen eingesetzt wurden. Diese waren höher, breiter und hatten flachbogige Stürze.795 Die bauzeitlichen Fenster waren somit etwa gleich hoch. Die Verkleinerung geht vielleicht auf die von Schinkel mitbetreute Renovierung von 1818 zurück, da sie bereits auf dem Stich vom Bembé von um 1838 (vgl. Abb. 139) und auf den frühesten Fotografien vorhanden ist. Walther hingegen zeigt 1737 und später betont hohe Öffnungen, die sich in der Form nicht belegen lassen (Abb. 261).

9.3 Innenraum

Der fast quadratische Innenraum ist mit zwei schmalen, längs ausgerichteten Kreuzrippengewölben auf Kalksteinkonsolen gedeckt und mit Einbau- und Wandschränken des 19. Jahrhunderts ausgestat-tet (Abb. 262).796 Der Fußboden wurde spätestens beim Grufteinbau 1753 erstmals erneuert. Von der mittelalterlichen Struktur sind nur die Gewölbe erhalten, die – abgesehen von der Materialkombina-tion Kalkstein und Formziegelrippen – nicht mit den übrigen Gewölben der Kirche vergleichbar sind.

Die Eckkonsolen sind in der heutigen Form zum Teil angeputzt, daher ist ihr ursprüngliches Aussehen unklar. Auch die einfachen, mit einem Karnies mit Absatz profilierten, breiteren Mittelkonsolen sind ausgleichend überputzt, geben aber im Wesentlichen die darunter sondierte Gestalt wieder (Abb.

263).797 Entfernt erinnern sie an die ähnlich profilierten Kapitelle der Pfeilervorlagen im Chor (vgl.

Abb. 171 u. 174). Für sich allein stehen die mit dicken Farbpaketen beschichteten, kaum von einem Rundstab unterscheidbaren Birnstabrippen mit seitlich begleitenden Wülsten (Abb. 265) und die

794 Anbau des Erbbegräbnisses Stiller bzw. Müller nach Deiters 2003. Zusammen mit einem weiteren Anbau wird es bei Küster als neues Erbbegräbnis bezeichnet. Vgl. Küster 1752, S. 461.

795 Der Putz des Sakristeigiebels läuft im westlichen der Fenster eindeutig hinter die Zusetzung. Das östliche war von dem Kriegsschaden betroffen. ASD 2003, S. 6, 9, Fotodokumentation Bl. 10 u. 13.

796 Von der Sakristeirenovierung 1834-36 stammt zumindest ein als Wandeinbau gestalteter Tresor mit der Jahreszahl 1835.

797 Wunderlich 2005.

rechteckigen Schlusssteine (Abb. 264). Die an allen Wandflächen vorhandenen Schildrippen haben ein ebenfalls stark überformtes Viertelstabprofil.

9.4 Dachwerk

Die heutige Dachkonstruktion der Sakristei ähnelt den Dächern der benachbarten Anbauten und stammt vollständig von 1893/94. Die Silhouette der ursprünglichen Dachkonstruktion zeichnet sich durch Farbunterschiede und Mörtelkanten deutlich an der Innenseite der Südgiebelwand ab und lag demnach niedriger. Die Dachkante verlief knapp oberhalb der seitlichen Fensteröffnungen mit einer Neigung von ca. 47 Grad. Es sind sogar Dachziegelabdrücke vorhanden. An der Kirchenwand sind ehemalige Dachanschläge an der Stelle von 1893/94 erneuerten Ziegeln nachvollziehbar.798 Da sie nach ASD nur eine Dachneigung von etwa 55 Grad anzeigen, wäre zu überlegen, ob es sich dabei wirklich um die Spuren des mittelalterlichen Dachs handeln muss. Außerdem wurde ein jetzt funktionsloser handgesägter Balken einer älteren Dachkonstruktion unter der Dachbalkenlage offenbar bewusst erhalten. Aufgrund der Ausnehmungen für die ehemaligen Holzverbindungen wurde er als Dachbalken eines einfachen Kehlbalkendachs ohne Stuhl identifiziert, dessen Maße zu einem Sakristeidach passen würden. Es waren darin ein Sparren, ein Aufschiebling und seitliche, mehrere Dachbalken mit Blattzapfen verbindende Hölzer eingezapft und mit Holznägeln gesichert.

Auf der Unterseite (in jetziger Lage oberseitig) ist die Sasse für eine Verkämmung mit der Mauerlatte vorhanden. Der Balken mit einem Abbundzeichen aus vier Ruten wurde noch nicht dendrochronolo-gisch untersucht, wurde aber als noch einer mittelalterlichen Dachkonstruktion möglicherweise zugehörig, wahrscheinlich aber jünger, eingestuft.799 Der einzige wirklich sicher mit dem ursprüngli-chen Dach in Verbindung stehende Hinweis ist daher die Silhouette am Südgiebel.

9.5 Datierung Bauphase 6

Für eine Datierung des Gebäudes über den Stil seines Giebels gilt Ähnliches wie für den Ostgiebel.

Die häufig undatierten Vergleichsbeispiele sind dieselben und verweisen auf die nähere Umgebung in Berlin selbst und die Stadt Brandenburg, lassen aber keine konkrete zeitliche Einordnung zu. Auf-schlussreicher ist die erfolgte Altersbestimmung zweier vermauerter Backsteine der Sakristei mit Hilfe der Thermolumineszenzmethode. Sie ergab für die erste Probe einen Herstellungszeitraum von 1462 +/-48 und für die zweite von 1472 +/-59.800 Die Ziegel können somit in dem großen Zeitraum zwischen 1413 und 1531 gebrannt worden sein. Innerhalb der genannten Spanne liegt der wesentlich präzisere Datierungsvorschlag aufgrund von Vergleichsdaten aus dem Backsteinregister Berlin.

Demnach sind die verwendeten Backsteine um 1440/50 einzuordnen.801 Es zeichnet sich damit eine Zuordnung ins 2. Drittel des 15. Jahrhunderts ab, d. h. der von Borrmann vorgeschlagene Zusammen-hang mit der Geldaufnahme des Rates von Berlin für nicht näher genannte bauliche Aktivitäten an der Marienkirche im Jahr 1340 scheidet in jedem Fall aus.802 Innerhalb des Baugeschehens an der Kirche liegt die Errichtung der Sakristei bei einer tatsächlich zutreffenden Datierung um 1440/50 wahrscheinlich zwischen der ersten Etappe der Fertigstellung der Langhauserweiterung mit der anschließenden Turmhalle und deren in einem zweiten Schritt erfolgte Einwölbung, die verbunden war mit einer weiteren Aufstockung des Mittelturms. Da letztere Maßnahmen nach neuesten Erkenntnissen aber vermutlich bereits um 1450 erfolgten, kann eine genau umgekehrte Reihenfolge der Bauphasen 6 und 7 nicht ausgeschlossen werden. In jedem Fall handelt es sich bei dem Sakristei-bau um eine vollkommen eigene Bauphase, da Backsteinformat und Formsteinprofile keinen Bezug zu anderen Teilen der Kirche aufweisen. Gewisse Anklänge einer Anknüpfung an Bestehendes zeigen

798 ASD 2003, S. 15f.

799 ASD 2003, S. 10, Fotodokumentation Bl. 16.

800 Gutachten Goedicke 2006.

801 Freundliche Auskunft Thomas Seggermann.

802 Zur urkundlichen Überlieferung vgl. Huch/Ribbe 2008, S. 104. Zur Zuordnung des Sakristeibaus in diese Zeit siehe Borrmann 1893, S. 205.

höchstens die beiden Kalksteinkonsolen an der Jochgrenze des Kreuzrippengewölbes, die mit der Kapitellzone der Pfeilervorlagen im Chor vergleichbar sind und der Pfeilerblendengiebel im Vergleich mit dem Ostgiebel. Diese Bezüge unterstützen eine Festlegung auf den früheren Teil der durch die TL gewonnenen Datierungsspanne.

Da nicht bekannt ist, ob der später als Alte Sakristei bezeichnete und tatsächlich als solche in Ver-wendung stehende Anbau bereits für diese Funktion errichtet wurde, könnten unter Umständen auf eine andere Nutzung verweisende archivalische Überlieferungen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Bau in Verbindung stehen. Bischof Stephanus von Brandenburg gewährt im Jahr 1442 zwei Ablässe zugunsten der Förderung von Messfeiern zum Lob der Jungfrau Maria, die von einer Gesell-schaft oder BruderGesell-schaft von gelehrten und geistlichen Bürgern von Berlin veranstaltet werden.803 Diese später als Liebfrauenbruderschaft bezeichnete Gemeinschaft beschäftigte mehrere Geistliche für ihre täglichen Messfeiern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Alte Sakristei ursprünglich ein von dieser Gemeinschaft finanzierter und genutzter Kapellenanbau war804 oder dass er, was mangels eines anderen nachweisbaren Anbaus ebenfalls möglich wäre, beide Funktionen vereinte.805

Beispielsweise erhielt die Stadtpfarrkirche St. Nikolai in Jüterbog um 1440 am zweiten Langhausjoch von Osten einen nachweislich als Sakristei benutzten Südanbau. Wie schon sein Vorgängerbau an vermutlich gleicher Stelle, war der allerdings zweigeschossige Neubau auch als Kapelle in Verwen-dung und besaß einen Altar. Für das Jahr 1447 ist die Aufstellung eines neuen Altars in der „neuen Sakristei“ überliefert. Vermutlich befand sich die mit dem Altar ausgestattete 1453 erwähnte Marienzeitenkapelle zunächst im Obergeschoss, wurde aber nach dem Bau einer neuen Sakristei ins Erdgeschoss verlegt.806

Mitte des 15. Jahrhunderts stieß noch eine andere dem intensiven Gottesdienst und vorgeschriebe-nen Gebetszeiten verpflichtete Gemeinschaft als geschlossene Gruppe an die Berliner Marienkirche.

Auf eigenen Wunsch und mit Unterstützung Markgraf Friedrichs II. wurde 1450 das Kollegium von zwölf Mansionarien mit einem Präcentor als Vorsteher aus der Pfarrkirche von Lebus mit päpstlicher Erlaubnis über die Bistumsgrenzen hinweg an die Marienkirche verlegt. Offenbar stellte die räumlich erweiterte Kirche gute Existenzbedingungen für die zum ständigen Aufenthalt verpflichteten Chor-vikare bereit, auch wenn die Umsiedlung am Ende nicht vollzählig erfolgte.807 Auf der anderen Seite bedeutete die Ansiedlung der Gemeinschaft mit ihren Einkünften für die Marienkirche eine

Aufwertung. Vielleicht ist der Vorgang in Zusammenhang mit der Begleichung der Schulden der Markgrafen gegenüber der Kirche zu sehen, die seit der Überlassung der Kirchenglocken für Kriegs-geschütze zu Beginn der Hohenzollernära bestand. Leider gibt es keine weiteren Quellen, die einen der Gemeinschaft zugeordneten Altar oder Aufenthaltsort nennen würden. Als mögliche Wirkungs-stätte der Chorherren käme der zum Laienbereich klar abgetrennte Chor in Frage. Genausogut könnte für sie aber auch eine eigene Kapelle, z. B. die sogenannte Alte Sakristei, errichtet worden sein. Es gab darüber hinaus noch einen zweiten kapellenartigen Anbau im Westen der Nordseite, dessen ursprüngliche Funktion nicht belegt werden kann. Auch dieser könnte sowohl einer Liebfrauenbruderschaft als auch einer Gemeinschaft von Mansionarienherrn gedient haben.

803 Vgl. Huch/Ribbe S. 343, dort mit offensichtlichem Fehler in der Angabe des Tages 12. Februar und einer Vermischung des Textes der 2. Überlieferung vom 6. Dezember, vgl. ebendort S. 348. Nach Fidicin 1837, S. 318 müsste es sich bei der früheren Urkunde um den 6. Februar handeln, dem Gedenktag der Hl. Amandus und Vedastus.

804 Seit dem mittleren 15. Jahrhundert entstanden an den meisten Pfarrkirchen größerer Städte Marienzeiten- oder Marientidenkapellen, in denen täglich die kanonischen Stundengebete zu Ehren der Jungfrau Maria abgehalten wurden.

So zum Beispiel die Liebfrauenkapelle an der Nikolaikirche in Berlin. Es gibt aber auch Beispiele, wo dafür Vorhallen oder der Chor (Marienkirche Prenzlau) verwendet wurden. Dazu Cante M. 2000, S. 96.

805 Nach Cante M. 2000, S. 96 ist der Fall einer Kombination allerdings selten.

806 Buchinger/Cante 2000, S. 68.

807 Neumeister 2010, S. 755. Für den Literaturhinweis danke ich herzlich Christiane Schuchard, LAB. Das lateinisch abgefasste päpstliche Exekutionsmandat selbst ist abgedruckt in CDB, Teil I Bd. 24, S. 432f, Nr. CXLI.

9.6 Die Kapelle an der Nordwestseite des Langhauses – ein weiterer noch mittelalterlicher Anbau Im westlichsten Langhausjoch vor dem Westanbau zeigen deutlich sichtbare neuere Ziegel in zwei unterschiedlichen Höhen die Dachgiebelschrägen und einen Mauerdurchbruch eines ehemaligen Anbaus an (vgl. Abb. 41). Die Größe der aus nicht bauzeitlichem Backsteinmauerwerk bestehenden Fläche legt nahe, dass ein die gesamte ursprüngliche Jochbreite einnehmender Durchbruch in den ehemaligen Anbau bestanden hat. Auf dem Lindholzschen Plan von 1657/58 ist tatsächlich ein Bauwerk an dieser Stelle dargestellt (Abb. 266). 1669 wurde der als Kapelle bezeichnete Raum anlässlich des Ablebens des „General-Kriegs-Commissario“ Nikolaus Ernst von Platen der Familie von Platen als Erbbegräbnis überlassen.808 1753 wird die an die Kirche zurückgefallene Kapelle zeitweilig als Sakristei genutzt und 1762 zum „publiquen Gewölbe“ umgebaut, d. h. es wurde eine nicht einer bestimmten Familie vorbehaltene Gruft eingerichtet.809 Wahrscheinlich gehörte diese Kapelle zu den 1818 zur Gewinnung von mehr Licht durch größere Fensteröffnungen abgerissenen Anbauten.810 Auf der anlässlich des Umbaus der Turmspitze durch C. G. Langhans entstandenen Zeichnung der West-fassade von um 1889/90, die in mehreren z. T. späteren Versionen erhalten ist, ist der Anbau dargestellt. Demnach handelte es sich offenbar um einen mittelalterlichen Anbau mit hohen Spitz-bogenfenstern und polygonalem Grundriss (Abb. 267). Die Darstellung der Kirche von Nordwesten im Schleuenplan von 1754 legt sogar nahe, dass der Bau, ähnlich der Alten Sakristei, ursprünglich mit einem gestalteten Giebel versehen war (Abb. 268). Falls die Darstellung des Anbaus richtig ist, dürfte der Giebel in Zusammenhang mit dem Umbau zum „publiquen Gewölbe“ entfernt worden sein.

10. Bauphase 7 = vierte Turmbauphase: Aufstockung und Einwölbung des Westteils (um 1450)