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4 Diskussion

4.3 Einordnung der vorliegenden Daten in die aktuelle Literatur

Ein Vergleich der vorliegenden Daten mit den Ergebnissen anderer Osteotomie-studien ist letztlich nur bedingt möglich, da die Mehrzahl der bisherigen Unter-suchungen die Effekte von Segmentosteotomien auf parodontale Gewebe beurteilt hat. Die interdentale Osteotomie stellt jedoch einen wesentlichen Unterschied sowohl zur Le Fort I Osteotomie des Oberkiefers als auch zur sagittalen Spaltung des Unterkiefers dar. Die Kontinuitätsunterbrechung des interdentalen Alveolar-knochens kann gewissermaßen als prädisponiertes Areal für postoperative Ver-änderungen des parodontalen Knochenniveaus angesehen werden. Darüber hinaus muss die Schnittführung bei Segmentosteotomien deutlich weiter marginal, in direktem Kontakt zur befestigten Gingiva, platziert werden, um so ausreichende Sicht auf das Operationsfeld zu gewährleisten. Bei Umstellungsosteotomien sind jedoch sowohl für die Le Fort I Osteotomie des Oberkiefers als auch für die sagittale Spaltung des Unterkiefers Inzisionen in der Mukosa ausreichend.

Insgesamt kamen die Studien, die den Effekt von Segmentosteotomien auf parodontale Veränderungen untersuchten, zu heterogenen Ergebnissen. Während die Meisten von ihnen zu dem Schluss kamen, dass Segmentosteotomien sichere chirurgische Maßnahmen sind und nur minimale Veränderungen an den parodon-talen Geweben verursachen (Kwon et al. 1985, Carroll et al. 1992, Mordenfeld und Andersson 1999, Morgan und Fridrich 2001, Cheung und Lo 2002, Ueki et al.

2006), konnte eine Studie zeigen, dass Segmentosteotomien mit einer hohen Inzidenz dentaler und parodontaler Traumata assoziiert sind (Schultes et al.

1998).

Foushee et al. (1985) untersuchten sowohl monognathe als auch bignathe Umstellungsosteotomien und fanden in der anterioren Region des Unterkiefers keine Sondierungstiefen, die größer waren als 4 mm; dafür stellten sie aber in 42 Prozent der Fälle fest, dass postoperativ Rezessionen  0,5 mm entstanden waren. Dieses Ergebnis zeigt Parallelen zu den Ergebnissen unserer Studie auf und legt den Schluss nahe, dass kieferorthopädische Chirurgie mit gingivalen Rezessionen assoziiert ist. Diese Hypothese wird durch drei Case-Reports belegt:

Gardner (2007) beobachtete, dass nach Behandlung einer Klasse-III-Malokklusion mittels Le Fort I Osteotomie beidseitig ausgeprägte Rezessio-nen im Bereich der oberen Eckzähne und der oberen ersten Molaren entstanden waren.

Omnell et al. (1994) beschrieben, dass nach bignather Korrektur einer Klasse-II,1-Malokklusion vertikale Dehiszenzen von 9 mm an den Bukkal-flächen der mittleren Unterkieferschneidezähne entstanden waren.

Yeo et al. (1989) berichteten nach Le Fort I Osteotomie von ernsten kardio-vaskulären Komplikationen und zusätzlich von einer Rezession an der Bukkalfläche des rechten Oberkiefereckzahns.

Die Tatsache, dass in der Literatur wiederholt Umstellungsosteotomien mit gingi-valen Rezessionen in Verbindung gebracht werden, wirft die Frage auf, welcher Mechanismus der Rezessionsbildung zu Grunde liegen könnte. Hierfür kommen drei kausale Hypothesen in Betracht:

1) Das chirurgische Trauma beeinträchtigt die Blutversorgung des mukogingi-valen Gewebes und verursacht konsekutiv gingivale Rezessionen.

2) Der Wundheilungsprozess führt im Bereich der Inzision zur Narbenbildung, die von einer Kontraktion der betreffenden Weichgewebe begleitet ist. Die Kontraktion der Kollagenfasern übt Zug auf das gingivale Gewebe aus und bewegt es in apikaler Richtung.

3) Abhängig von der Verlagerungsrichtung und -strecke des mobilisierten Kiefersegmentes kommt es zu unterschiedlich starker Dehnung oder Kom-pression der adhärenten Weichgewebe. Speziell bei Dehnung des muko-gingivalen Gewebes kann sowohl mit einer Beeinträchtigung der Blutzirku-lation als auch mit Zug auf die Gingiva gerechnet werden.

Zu Hypothese 1:

Eine adäquate Blutversorgung ist sowohl für die Vitalerhaltung des mobilisierten Kiefersegmentes als auch für die postoperative Heilungsphase von entscheiden-der Bedeutung. Die Konsequenzen einer unzureichenden Blutversorgung reichen

vom Vitalitätsverlust einzelner Zähne bis zur partiellen oder vollständigen Nekrose des verlagerten Kiefersegmentes (Lanigan und West 1990, Lanigan et al. 1990).

Für die Versorgung der Alveolarmukosa und der Gingiva sind laut eines Reviewartikels von Velvart und Peters (2005) vier Leitungsbahnen verantwortlich, die per Anastomosen miteinander in Verbindung stehen:

1) Die subepithelialen Kapillaren der Gingiva und der Alveolarmukosa 2) Das Gefäßnetzwerk im Periost

3) Die Arterien des Alveolarknochens

4) Der Gefäßplexus des parodontalen Ligaments.

Für die Blutversorgung der Gingiva sind überwiegend subepitheliale Gefäße verantwortlich, die von apikal aus parallel zur Längsachse des Zahns nach koronal verlaufen und sich in der Lamina propria immer weiter verzweigen. Die Arterien des Alveolarknochens und der Gefäßplexus des parodontalen Ligaments sind zu einem deutlich geringeren Grad an der Versorgung des gingivalen Gewebes beteiligt. Kommt es im Rahmen eines oralchirurgischen Eingriffs zur Durchtren-nung eines subepithelialen Gefäßes, können in der Regel die zahlreichen Anastomosen und Kollateralkreisläufe den Ausfall kompensieren und eine ausreichende Durchblutung des koronal gelegenen Gewebes gewährleisten. In seltenen Fällen kann es jedoch auf Grund von unzureichender Behandlungs-planung oder inadäquater chirurgischer Technik zu einer vollständigen Unter-brechung der Blutversorgung kommen, so dass eine Nekrose des koronal gelegenen Gewebes resultiert. Die Rezessionsbildung, die auf diese Gewebe-destruktion folgt, kann für das ästhetische Ergebnis verheerende Folgen haben.

Geylikman et al. (1995) konnten zeigen, dass eine Umstellungsosteotomie inner-halb der ersten 24 Stunden nach dem chirurgischen Eingriff zu einer signifikanten Reduktion der gingivalen Durchblutung führt. Insgesamt haben Geylikman et al.

(1995) 31 Patienten mittels Laser Doppler Flowmetry (LDF) untersucht. In der Testgruppe befanden sich 12 Patienten, die eine Le Fort I Osteotomie des Oberkiefers erhielten, und die beiden Kontrollgruppen bestanden einerseits aus neun chirurgischen Kontrollpatienten, die monognath im Unterkiefer operiert

noch festsitzende kieferorthopädische Apparaturen trugen. Mit der LDF war es möglich, die Durchblutungsverhältnisse an der bukkalen Gingiva der mittleren Oberkieferschneidezähne zu messen und Vergleiche zwischen der Testgruppe und den beiden Kontrollgruppen durchzuführen. Die LDF-Messungen wurden unmittelbar präoperativ sowie 0-8 Stunden, 8-16 Stunden und 16-24 Stunden postoperativ durchgeführt. Geylikman et al. (1995) konnten zeigen, dass es nach der Osteotomie des Oberkiefers zu einer signifikanten Reduktion der gingivalen Durchblutung gekommen war und dass diese Reduktion in der Testgruppe signifikant größer ausfiel als in den beiden Kontrollgruppen. Außerdem berichteten Geylikman et al. (1995) von einer Patientin, bei der es nach der Le Fort I Osteotomie zu deutlich sichtbarem Attachmentverlust gekommen war, der sich klinisch in Form von Taschen- und Rezessionsbildung darstellte. Da es bei diesem Fall zu einem besonders starken Rückgang der gingivalen Durchblutung gekom-men war, schlussfolgerten die Autoren, dass die parodontalen Veränderungen auf die Minderdurchblutung in diesem Bereich zurückzuführen waren.

Einschränkend sollte ergänzt werden, dass die postoperative Ischämie auf die ersten 6 Tage nach dem chirurgischen Eingriff beschränkt zu sein scheint. So konnten in einer weiteren Studie (Justuset al. 2001), in der die Patienten ebenfalls mittels LDF untersucht wurden, keine signifikanten Veränderungen der gingivalen Durchblutung an den postoperativen Tagen 7, 10, 14, 17, 21 und 24 festgestellt werden.

Zu Hypothese 2:

Die Weichgewebsheilung nach chirurgischen Eingriffen ist häufig von Lappen-schrumpfung, Narbenbildung und gingivalen Rezessionen begleitet. So konnten zahlreiche Studien zeigen, dass Inzisionen das postoperative klinische Attach-mentlevel negativ beeinflussen und abhängig von der Lokalisation der Inzision unterschiedlich große Rezessionen verursachen können. Die Folgen, die ein chirurgischer Eingriff für das mukogingivale Gewebe haben kann, sind für Wurzel-spitzenresektionen am besten beschrieben.

Velvart und Peters (2005) haben in ihrer Übersichtsarbeit unterschiedliche Zugangslappen für Wurzelspitzenresektionen gegenübergestellt und evaluiert, welche Inzisionstechniken am häufigsten zu Rezessions- und Narbenbildung

führen. Insgesamt stellten die Autoren fest, dass prinzipiell jeder chirurgische Eingriff an den mukogingivalen Geweben das Risiko für Rezessionen in sich birgt, dass Rezessionen aber besonders häufig dann entstehen, wenn im Bereich der marginalen Gingiva inzidiert wird. Übereinstimmend mit dieser Aussage stellten sowohl von Arx et al. (2007, 2009) als auch Kreisler et al. (2009) fest, dass intrasulkuläre Inzisionen signifikant häufiger zu Rezessionen führen als para-marginale, submarginale oder semilunare Inzisionstechniken. Andererseits konnte eine Studie von Deschner et al. (2009) zeigen, dass auch bei intrasulkulärer Schnittführung kein ernsthaftes Risiko für Attachmentverlust und Rezessions-bildung besteht.

Ausgeprägtes Narbengewebe findet man besonders häufig, wenn Inzisionen in der beweglichen Alveolarmukosa erfolgen (Velvart und Peters 2005, Deschner et al. 2009). Dies gilt im Rahmen von Wurzelspitzenresektionen sowohl für die submarginale als auch für die semilunare Inzisionstechnik. Für beide Inzisions-techniken sind in der Literatur zum Teil ausgeprägte Narbenbildungen beschrie-ben und für beide Inzisionstechniken gilt, dass sie auf Grund der ebeschrie-benfalls in der Alveolarmukosa gelegenen Inzisionen am besten mit Umstellungsosteotomien verglichen werden können. Als Erklärung für das Phänomen der Narbenbildung nennen Velvart und Peters den großen Anteil an elastischen Fasern und Muskel-zügen in der Alveolarmukosa. Durch diese Fasern und Muskelzüge werden nach dem chirurgischen Eingriff Zugkräfte auf die readaptierten Wundränder ausgeübt und es resultieren in nicht seltenen Fällen Nahtdehiszenzen, sekundäre Wund-heilung und Narbenbildung.

Zu Hypothese 3:

In der Literatur existieren zurzeit nur unzureichende Daten, die diese Hypothese untermauern bzw. widerlegen können. Lediglich die Untersuchung von Foushee et al. (1985) konnte zeigen, dass bei fünf von sechs Patienten, die eine Vorver-lagerung des Unterkiefers in Kombination mit einer Kinnplastik erhalten hatten, postoperative Rezessionen  1 mm entstanden waren. Die Autoren machten für diese Rezessionsneigung insbesondere Zugkräfte verantwortlich, die der Verlage-rungsrichtung des Kiefersegmentes entgegen gesetzt sind und in der Literatur mit

Ilhan 2008). Bei einer Vorverlagerung des Unterkiefers setzen die adhärenten Muskel- und Bindegewebsfasern der Verlagerung des Kiefersegmentes einen nicht unerheblichen Widerstand entgegen. Da die Zähne durch den intermaxillären Splint in der gewünschten Position gehalten werden, der Knochen jedoch durch visko-elastische Zugkräfte nach dorsal gezogen wird, kann es zu einer Ausdün-nung der fazialen Knochenplatte und gegebenenfalls sogar zur Ausbildung von Knochendehiszenzen kommen, die – wie einleitend erwähnt – ein prädisponiertes Areal für gingivale Rezessionen darstellen.

Alles in allem lässt sich nicht genau feststellen, welcher der eben genannten Faktoren den größten Einfluss auf die Ausbildung gingivaler Rezessionen nach Umstellungsosteotomien hat. Für die Tatsache, dass die reduzierte Durchblutung der Gingiva eine entscheidende Rolle spielt, spricht die Vielzahl an Studien, die einen Zusammenhang zwischen Minderdurchblutung und Rezessionen belegen.

Aber auch die postoperative Narbenbildung, die ebenfalls bei einer Reihe von Patienten in der vorliegenden Arbeit beobachtet werden konnte, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Insgesamt ist vermutlich ein multifaktorielles Geschehen für die Ausbildung gingivaler Rezessionen nach kieferorthopädischer Chirurgie verantwortlich.

Die vorliegende Arbeit besitzt auf Grund der begrenzten Fallzahl nur eine limitierte Aussagekraft. Weitere Untersuchungen mit größeren Fallzahlen sind notwendig, um die Zusammenhänge zwischen Umstellungsosteotomien und parodontalen Veränderungen nachhaltig zu klären.