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13.1.1 Soziale Auswirkungen

Die vorliegende Untersuchung lässt die Interpretation zu, dass die sozialen Auswirkungen von offenen Unterrichtsformen mit lernbeeinträchtigten Sonderschülern/innen als positiv, also als Chance festhal-ten werden können. Die sozialen Anforderungen für lernbeeinträchtigte Schüler/innen sind hoch, aber durch Hilfestellungen zu bewältigen. Wenn man sich die Thesen zu den Chancen vor Augen hält, lässt sich die Folgerung ziehen, dass sich der Aufwand lohnt. Sozialkompetenz passiert nicht einfach, sie wird im Rahmen eines Prozesses gebildet, den alle Menschen unter günstigeren oder ungünstigeren Voraussetzungen durchmachen. Die Rahmenbedingungen erscheinen in diesem Setting günstig, weil zwei Lehrpersonen anwesend sind und durch den individualisierten Unterricht Stressfaktoren wie: die anderen sind schneller, besser sowie Über- oder Unterforderung minimiert werden können. Aus einem der Interviews geht hervor, dass um Ausgrenzungen zu minimieren, die Heterogenität regelmässig thematisiert werden muss.

13.1.2 Kognitive Auswirkungen

Die kognitiven Auswirkungen von offenen Unterrichtsformen mit lernbeeinträchtigten Sonderschü-ler/innen lassen sich als umstritten bezeichnen. Die Thesen werden kontrovers diskutiert. Sie decken

66 das ganze Spektrum von: die Lernenden machen grosse Lernfortschritte bis hin zu: die Lernenden können aufgrund ihrer Voraussetzungen keine Lernfortschritte machen ab. Das kann so interpretiert werden, dass die Individualität der Lernbeeinträchtigung eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob Lernfortschritte gemacht werden oder nicht. Oder aber, dass die unterschiedliche Umsetzung von offenem Unterricht der entscheidende Faktor für die kontroversen Thesen ist. In der Literatur gibt es die Annahme, dass das selbstständige, eigenverantwortliche Lernen eine Voraussetzung für Lernen in offenen Unterrichtsformen ist. Wenn das stimmt, ist ein Teil der Lernenden für offenen Unterricht nicht geeignet. Daraus lässt sich folgern, dass die Art der Umsetzung von offenem Unterricht nicht der be-stimmende Faktor ist.

Bezieht sich die Grenze auf die kognitiven Voraussetzungen der Schüler/innen, so wurde festgestellt, dass jeder Mensch bildungsfähig ist (vgl. Kapitel V). Es muss also eine systemische Sichtweise ein-genommen werden, um den Unterricht den individuellen Bedürfnissen der Kinder anzupassen. Als wesentliche Faktoren für Lernerfolg lassen sich folgende Voraussetzungen nennen: die sozialen Be-dürfnisse, die Ich-Bedürfnisse nach Maslow (siehe 3.10.6), das Selbstkonzept, die Motivation und das Material- und Aufgabenangebot. Fühlen sich die Lernenden der Gruppe zugehörig, bekommen sie Anerkennung, glauben die Schüler/innen an das Gelingen, haben sie Erfolgschancen die sie motivie-ren? Ermöglicht das Material entsprechend den individuellen Bedürfnissen bezüglich der Lernenden Erfolge? Wichtig, so kann gefolgert werden, ist das System (Lehrpersonen, Umsetzung des Unter-richts), in welchem das Kind gebildet wird. Bei den kognitiven Auswirkungen zeigen sich die Wech-selwirkungen der verschiedenen Faktoren, der systemischen Betrachtung, besonders deutlich.

13.1.3 Organisatorische Auswirkungen

Die organisatorischen Anforderungen und Auswirkungen von offenen Unterrichtsformen mit lernbe-einträchtigten Sonderschüler/innen lassen sich nicht eindeutig als Chance oder Grenze definieren. Auf der Ebene der Anforderungen an die Lehrpersonen wird vorausgesetzt, dass der offene Unterricht individuelle Lernmöglichkeiten bieten muss. Dies ist laut Peschel oft nicht oder zu wenig der Fall. Sind die Schüler/innen durch die Inhalte, die möglichen Arbeitsmethoden, die Niveaus nicht angesprochen, ist der Unterricht in dieser Hinsicht zu wenig offen. Die Untersuchung lässt darauf schliessen, dass der offene Unterricht einen gewissen Grad an Öffnung (Grad 1, vgl. Raster Grad der Öffnung, Peschel, 2010) aufweisen muss, damit sich die möglichen Chancen zeigen.

Klar wird durch die Übereinstimmung der Thesen Folgendes: Die Strukturierung der offenen Unter-richtsform, gerade für lernbeeinträchtigte Sonderschüler/innen, ist entscheidend für die Teilhabe. Eine langsame Öffnung zeigt sich als hilfreich. Je mehr Öffnung, desto klarer muss die Struktur sein. Dies ist ein Punkt, der in Diskussionen um offene Unterrichtsformen immer wieder zu Missverständnissen führt. Eine erste Interpretation von offen ist häufig: die Schüler machen, was sie wollen. Gerade bei der Einführung von offenen Unterrichtsformen sind alle Schüler auf klare Rahmenbedingungen, Re-geln und Rituale angewiesen. Diese selbstbestimmte Art zu lernen will gelernt sein. Entscheidend ist eine langsame, schrittweise Einführung. Der Grad der Öffnung kann je nach Schüler/in mit der Zeit zunehmen. Entscheidend für das Umgehen-Lernen mit den Freiheiten scheint, dass auf individuelle Schwierigkeiten mit individuell angepassten Hilfestellungen reagiert wird. Eine Befragte sagte im

In-67 terview: „Manchmal muss ich ungewöhnliche Wege gehen, um einem Kind die Teilhabe möglich zu machen“ (Anhang 23).

13.1.4 Motivationale/emotionale Auswirkungen

Die motivationalen/emotionalen Auswirkungen von offenen Unterrichtsformen mit lernbeeinträchtigten Sonderschülern/innen lassen sich aufgrund der Untersuchung und den daraus abgeleiteten Thesen als Chance interpretieren. Durch das freie Wählen der Aufgaben, der Lernmethode, des Arbeitstem-pos, der Sozialform, der Arbeitsdauer und der individuellen Zuwendung und Unterstützung der Lehr-personen sollte es allen Schülern möglich sein, Erfolgserlebnisse zu haben. Diese ziehen Wertschät-zung und positive Beachtung sowohl seitens der Mitschüler/innen sowie der Lehrpersonen nach sich.

Dies stärkt das Zugehörigkeitsgefühl, das Selbstwertgefühl und beeinflusst das Selbstkonzept positiv.

Die lernbeeinträchtigten Schüler/innen sehen eine Chance, den Anforderungen zu entsprechen, und werden dadurch motiviert. Es lässt sich daraus schliessen, dass die Bedürfnisse nach Maslow in offe-nen Unterrichtsformen durch die Interaktiooffe-nen Leroffe-nende–Leroffe-nende und Leroffe-nende–Lehrpersooffe-nen be-rücksichtigt werden können. Aus der Praxis wurde deutlich, dass motivierte Lernende, die Lehrperso-nen motivieren. „Ich bin zufriedener mit meiner Arbeit, wenn ich sehe, wie motiviert die Kinder sind“

(Anhang 23). Die These, dass die Kinder in offenen Unterrichtsformen eine tiefe aktive Lernzeit ha-ben, hat unterschiedliche Gründe. Wie bereits in 12.3 Überprüfung der Hypothesen erwähnt, kann dies in der Selbstkonzeptschädigung sowie der damit zusammenhängenden fehlenden Motivation gründen. Der Unterricht ist eventuell nicht so strukturiert, das Material nicht so aufbereitet, das Er-folgserlebnisse möglich werden.

Die beobachtete tiefe aktive Lernzeit kann nicht weiter diskutiert werden, weil der Grad von Öffnung nicht dokumentiert ist. Auch über das angebotene Arbeitsmaterial wurde nichts gesagt. Trotzdem wird sie hier als relevant angesehen, weil bei zwei Interviews ähnliche Aussagen gemacht wurden. Es lässt sich aufgrund der Aussagen aus den beiden Interviews (der Form des dort umgesetzten offenen Un-terrichts) spekulieren, dass organisatorische oder emotionale/motivationale Gründe die Ursache sein können.

13.1.5 Integrative Auswirkungen

Die Untersuchungsergebnisse lassen die Interpretation zu, dass die integrativen Auswirkungen von offenen Unterrichtsformen bezüglich lernbeeinträchtigter Sonderschüler/innen positiv sind. Bei Be-rücksichtigung der verschiedenen Thesen und bei entsprechender Umsetzung von offenem Unterricht in Anlehnung an Peschels Raster der Öffnung (2010) besteht für integrierte Schüler/innen die Chance, im Sinne der Inklusion dazuzugehören. Allerdings besteht auch die Gefahr der Ausgrenzung.

13.1.6 Auswirkungen auf die Lehrpersonen

Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich aus Schülersicht hinsichtlich der Berücksichtigung der Grundbedürfnisse (nach Maslow, siehe 3.10.6) und der individuellen Lernmöglichkeiten Chancen auftun. Das Interesse der Lehrpersonen liegt darin, jedem Schüler die individuelle Unterstützung zu-kommen zu lassen, die Beziehung zu stärken, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Aus Sicht der Lehrpersonen ist offener Unterricht aufwendig und oftmals noch rechtfertigungsbedürftig. Es ist ein Prozess, ein Sich-auf-den-Weg-Machen, ein Ausprobieren. Unsicherheiten müssen

ausgehal-68 ten werden können, weil sich oftmals nicht sofort und unmittelbar zeigt, wohin der Weg für einzelne Schüler und mit einzelnen Schülern führt. Anforderungen an die Lehrpersonen, so lässt sich schluss-folgern, sind unter anderen folgende: die Offenheit für Veränderung, das Finden von individuellen Lö-sungen, das Vertrauen in das Lernen-Wollen, die intrinsische Motivation (siehe 3.10.2) der Kinder.

Diese Unterrichtsform ist anspruchsvoll und verlangt entsprechende Ressourcen.